Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 10.02.1994, Az.: 5 U 164/92

Zur Haftung nach einem Unfall beim Einsteigen eines Fahrgastes in eine U-Bahn (Defekte Ausklappvorrichtung der obersten Trittstufe); Mitverschulden für einen Sturz bei mangelnder Beobachtung des Einstiegsbereichs; Höhe der Betriebsgefahr der U-Bahn wegen eines Trittstufendefekts

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
10.02.1994
Aktenzeichen
5 U 164/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 15815
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1994:0210.5U164.92.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - AZ: 13 O 87/92

Fundstelle

  • NJW-RR 1994, 989 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Schadensersatzes

In dem Rechtsstreit
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 1994
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... sowie
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Berufung der Klägerin wird das am 29. April 1992 verkündete Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise geändert und wie folgt neu gefaßt:

    Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 7.029,66 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 10. April 1992 zu zahlen.

    Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

  2. 2.

    Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

  3. 3.

    Die Kosten des Rechtsstreits fallen zu 7 % der Klägerin und zu 93 % der Beklagten zur Last.

  4. 4.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

  5. 5.

    Wert der Beschwer: für die Klägerin 554,73 DM, für die Beklagte 7.029,66 DM.

Entscheidungsgründe

1

Die Berufung der Klägerin hat im wesentlichen Erfolg.

2

I.

Entgegen dem Landgericht hat die Beklagte den Schaden, den der Waldarbeiter ... durch den Unfall vom 1. März 1990 erlitten hat, in vollem Umfang zu ersetzen.

3

1.

Ein gewisses Verschulden ... an dem Unfall läßt sich freilich nicht in Abrede nehmen. Wer als Fußgänger am Verkehr teilnimmt, muß regelmäßig darauf achten, wohin er tritt. Er darf sich nicht blind darauf verlassen, keine Hindernisse vorzufinden. Das gilt auch für Personen, die in eine U-Bahn einsteigen wollen ... hätte demgemäß, bevor er den U-Bahn-Wagen betrat, dessen Einstiegsbereich beobachten müssen. Ihm wäre dann nicht entgangen, daß die oberste Trittstufe wegen eines Defektes nicht ausgeklappt war und einen rund 30 cm breiten Spalt offen ließ, durch den ein- und aussteigende Fahrgäste zu Fall kommen konnten.

4

2.

Das Verschulden ... bleibt indessen ohne Einfluß auf die Schadensersatzpflicht der Beklagten. Es fällt nämlich bei der Abwägung der beiderseits gegebenen Unfallverursachung nicht ins Gewicht und kann vernachlässigt werden.

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In diesem Zusammenhang kann nicht außer acht bleiben, daß die von der Beklagten zu vertretende Betriebsgefahr der U-Bahn wegen des Trittstufendefekts ungewöhnlich hoch war. Dieser Defekt konnte sehr leicht dazu führen, daß Fahrgäste zu Fall kamen, in den Gleisbereich stürzten und Körperschäden schwerster Art. erlitten.

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Demgegenüber kann das Verschulden ... als geringfügig bezeichnet werden.

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Zu seinen Gunsten muß berücksichtigt werden, daß ein Trittstufendefekt der hier gegebenen Art. offensichtlich ein äußerst seltenes Ereignis darstellt. U-Bahn-Fahrgäste sind daher nicht gehalten, sich von vornherein auf solche Unregelmäßigkeiten einzustellen. Sie dürfen vielmehr von einem ordnungsgemäßen Zustand der U-Bahn-Wagen ausgehen, bis die durch den Defekt geschaffene tatsächliche Gefahrenquelle für sie eindeutig sichtbar geworden ist. (Das unterscheidet den vorliegenden Fall deutlich von dem in VersR 1981, 1059 abgedruckten: Dort hatte der geschädigte Fahrgast wegen Frostwetters jederzeit auf vereiste Straßenbahntrittstufen gefaßt sein müssen).

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Entscheidend für die Gewichtung des bei ... gegebenen Verschuldens ist somit die Auffälligkeit des Trittstufendefekts. Deren Ausmaß ist jedoch durchaus fraglich. Zudem lag der durch den Defekt geschaffene Spalt für einen Fahrgast, der auf dem Bahnsteig stand und seinen Blick in das Wageninnere richtete, außerhalb der Zone, in der ein scharfes Sehen möglich ist. Um den Defekt erkennen zu können, hätte also ... seinen Blick bewußt dem Trittstufenbereich zuwenden müssen. Daß er dies unterlassen hat, schließt zwar seine völlige Entschuldigung aus, ist aber angesichts der Seltenheit von Trittstufendefekten nicht unverständlich.

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Die letztlich entscheidende Unfallursache ist mithin der Trittstufendefekt.

10

II.

Die Aufwendungen, die die Klägerin für ... erbracht hat, sind allerdings nicht in dem geltend gemachten Umfang ersatzfähig. Wie die von den Parteien vorgelegten Abrechnungsschreiben ergeben, sind auf Seiten der Beklagten insgesamt 554,73 DM beanstandet worden. Die Beanstandungen beziehen sich auf "verschiedene Verordnungen des Dr. ..., in Höhe von 108,34 DM, auf die Differenz zwischen dem gezahlten Verletztengeld einerseits und dem Nettoverdienst, den ... ohne den Unfall erzielt hätte, andererseits in Höhe von 416,39 DM sowie auf Verpflegungskosten, die ... während seiner Krankenhausbehandlung erspart hat, in Höhe von 30,00 DM. Daß sie unberechtigt sind, ist nicht erkennbar. Mangels weiterer Darlegungen der Klägerin ist deshalb ihre auf insgesamt 21.643,67 DM bezifferte Ausgleichsforderung um 554,73 DM zu kürzen, so daß noch 21.088,94 DM verbleiben.

11

Da die Beklagte bereits 14.059,28 DM gezahlt hat, schuldet sie der Klägerin demgemäß noch 7.029,66 DM, und zwar nebst den verlangten Zinsen.

12

III.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 92, 97 Absatz 1 ZPO (Prozeßkosten), 708 Nr. 10, 713 ZPO (vorläufige Vollstreckbarkeit des. Urteils) und 546 Absatz 2 Satz 1 ZPO (Festsetzung der Beschwerdewerte).