Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.03.2019, Az.: 2 K 65/18

Streit über die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlten Kindergeldes

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
15.03.2019
Aktenzeichen
2 K 65/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69183
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: III R 1/20

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht von der Klägerin an deren Tochter ausgezahltes Kindergeld in Höhe von 10.912,29 € für den Zeitraum von Januar 2012 bis März 2017 zurückgefordert hat.

Die Betreuerin der Klägerin, X, stellte im Namen der Klägerin am 12. Oktober 2016 einen Kindergeldantrag für das Kind A (geboren am xx.xx.xxxx). Als bezugsberechtigte Person gab die Betreuerin der Klägerin dabei A an. Das Kindergeld solle direkt an A gezahlt werden. Zuvor hatte A bei der beklagten Familienkasse am 14. April 2016 einen Antrag auf Auszahlung des anteiligen Kindergeldes an sich gestellt, woraufhin die Familienkasse auf das Erfordernis der Antragstellung durch die kindergeldberechtigte Klägerin hingewiesen hatte. Wegen der Einzelheiten wird auf die dem Gericht vorliegende Kindergeldakte verwiesen.

A erhielt --mit Ausnahme des Monats Januar 2012-- in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann während des streitigen Zeitraums Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) durch das Jobcenter im Landkreis Z. Kindergeld rechnete der Sozialleistungsträger auf die hiernach erbrachten Leistungen nicht an. Die entsprechenden Berechnungsbögen über Sozialleistungsbezüge übermittelte das Jobcenter der Familienkasse per E-Mail am 19. Dezember 2016.

Mit Bescheid vom 13. März 2017 setzte die beklagte Familienkasse --aufgrund einer unstreitig vor dem 25. Lebensjahr bei A vorliegenden Behinderung-- gegenüber der Klägerin rückwirkend für den Zeitraum Januar 2012 bis März 2017 Kindergeld in Höhe von 11.736 € fest. Der Betrag wurde wunschgemäß auf das Konto von A überwiesen.

Für ein weiteres Kind der Klägerin, B, hatte die beklagte Familienkasse bereits mit Bescheid vom 18. März 2015 Kindergeld ab April 2015 festgesetzt. Das Kindergeld wurde im Wege der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz - EStG - direkt an die Betreuerin der B ausgezahlt.

Mit Fax vom 15. März 2017 wies die Betreuerin der Klägerin die Familienkasse und das Jobcenter darauf hin, dass das festgesetzte Kindergeld in Höhe von 11.736 € offenbar an das Jobcenter zu erstatten sei. Im Fax an die Familienkasse bat die Betreuerin deshalb darum, das für den Streitzeitraum nachgezahlte Kindergeld nicht an A auszuzahlen. Die Kassenanordnung der Familienkasse für die Zahlung an A datiert jedoch bereits vom 6. März 2017.

Aufgrund eines durch das Jobcenter zunächst am 16. Mai 2017 per (der Familienkasse nach Aktenlage nicht zugegangener) E-Mail und sodann mit Schreiben vom 19. September 2017 gegenüber der Familienkasse geltend gemachten Erstattungsanspruchs zahlte die Familienkasse im Hinblick auf das für A festgesetzte und an sie ausgezahlte Kindergeld 10.912,29 € an das Jobcenter. Der im Vergleich zu dem festgesetzten Kindergeld von 11.736 € geringere Erstattungsanspruch des Jobcenters ergab sich daraus, dass das Jobcenter im Monat Januar 2012 keine Sozialleistungen und für einige Monate Sozialleistungen in geringerem Umfang als das zu leistende Kindergeld erbracht hatte.

Im Anschluss an diese "Doppeltzahlung" durch die beklagte Familienkasse forderte die Familienkasse den an das Jobcenter erstatteten Betrag in Höhe von 10.912,29 € mit Bescheid vom 21. November 2017 gemäß § 218 Abs. 2 i.V.m. § 37 Abs. 2 Abgabenordnung -AO- von der Klägerin zurück. Das Jobcenter im Landkreis Z habe für den Zeitraum von Januar 2012 bis März 2017 das Kindergeld vorgeleistet, indem es das Kindergeld nicht auf die nach SGB II an A erbrachten Leistungen angerechnet habe. Das Jobcenter habe gemäß § 74 Abs. 2 EStG die Erstattung des vorgeleisteten Betrags in Höhe von 10.912,29 € gegenüber der Familienkasse geltend gemacht. Der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld sei damit bereits gemäß § 107 SGB X durch Leistungen des Jobcenters erfüllt gewesen und die nochmalige Auszahlung des Kindergeldes an die Klägerin durch die Familienkasse folglich ohne Rechtsgrund erfolgt.

Den Einspruch der Klägerin vom 28. November 2017 gegen die Rückforderung wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2018 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.

Die Klägerin trägt mit ihrer Klage vor, das Kindergeld sei nicht auf ihr Konto, sondern auf ausdrücklichen Wunsch und nach Abtretung des Anspruchs durch die Kindergeldberechtigte auf das Konto des Kindes, A, überwiesen worden. Die Betreuerin der Klägerin habe die Familienkasse und das Jobcenter unmittelbar nach Erhalt des Bescheides über die Kindergeldfestsetzung darüber informiert, dass die Auszahlung auf das Konto von A erfolgt sei und sie --die Betreuerin-- davon ausgehe, dass das Jobcenter einen Anspruch auf Erstattung des vorgeleisteten Kindergeldes habe. Das Jobcenter habe zu spät auf den Hinweis der Betreuerin reagiert und es versäumt, den Erstattungsanspruch rechtzeitig geltend zu machen. Die Klägerin treffe kein Verschulden. Hätte der Sachbearbeiter der Familienkasse Kenntnis gehabt von bereits erbrachten Sozialleistungen (ohne Anrechnung von Kindergeld), wäre es auch nicht zu einer Auszahlung des Kindergeldes an A gekommen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 21. November 2017 über die Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum Januar 2012 bis März 2017 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 19. Februar 2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Familienkasse ist der Ansicht, die nachträgliche Anzeige und Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch das Jobcenter gegenüber der Familienkasse lasse den Erstattungsanspruch der Familienkasse gegenüber der Klägerin nicht entfallen. Die Nachzahlung von Kindergeld sei wunschgemäß auf das Konto des Kindes erfolgt und das Kindergeld sei A somit tatsächlich zugeflossen. Es handele sich bei dem Kindergeld folglich um Einkommen der A als Empfängerin (auch) der Leistungen nach dem SGB II, weshalb dem Sozialleistungsträger grundsätzlich ein Erstattungsanspruch in Höhe des nicht auf die Sozialleistungen angerechneten Kindergeldes zustehe.

Der Erstattungsanspruch der Familienkasse gegenüber der Klägerin sei nicht dadurch entfallen, dass die Familienkasse bereits in Kenntnis eines Erstattungsanspruchs des Jobcenters gegenüber der Familienkasse an die Klägerin bzw. ihr Kind geleistet habe. Ein Erstattungsanspruch entfalle nur dann, wenn der vorrangig zur Leistung verpflichtete Träger, die Familienkasse, in Unkenntnis der Leistung des Sozialhilfeträgers selbst mit befreiender Wirkung geleistet habe. Unkenntnis liege vor, wenn die Familienkasse keine positive Kenntnis von der Leistungserbringung des nachrangigen Sozialleistungsträgers habe. Positive Kenntnis sei gegeben, wenn die Familienkasse wisse, welche Leistungen für welchen Zeitraum und in welcher Höhe geleistet wurden.

Die Familienkasse habe aufgrund der im Oktober 2016 und Januar 2017 eingereichten Bewilligungsbescheide des Jobcenters an A sowie an die Eheleute A und Y als Bedarfsgemeinschaft von der Erbringung der Sozialleistungen im Zeitraum Februar 2012 bis März 2017 positive Kenntnis gehabt. Infolgedessen habe die Familienkasse das Kindergeld nicht mit befreiender Wirkung an die Klägerin auszahlen können. Mit der Zahlung des Kindergeldes an das Kind A sei es zu einer Doppeltzahlung gekommen, da der Anspruch auf Kindergeld bereits durch die Vorleistung des Jobcenters erfüllt gewesen sei. Der Kindergeldanspruch sei damit bereits bei Erlass des Bescheides am 13. März 2017 erloschen gewesen (§ 47 AO). Die nochmalige Zahlung des Kindergeldes sei damit ohne Rechtsgrund erfolgt. Der Einwand der Klägerin, sie habe das Kindergeld wegen der Zahlung an A nicht erhalten, gehe fehl. Erstattungspflichtig sei nach § 37 Abs. 2 AO der Leistungsempfänger. Die Leistungen seien von der Familienkasse auf das von der Klägerin angegebene Konto überwiesen worden. Die Zahlung müsse die Klägerin deshalb gegen sich gelten lassen.

Die Beklagte trägt vor, ein Sozialleistungsbezug der Klägerin sei im Rahmen des Antrags auf Kindergeld nicht geprüft worden. Dies sei nicht erfolgt, weil der Beklagten bekannt gewesen sei, dass das Kindergeld vorliegend sozialrechtlich als Einkommen des Kindes zu berücksichtigen sei. Feststellungen zu einem möglichen Sozialleistungsbezug der Klägerin seien somit nicht erforderlich gewesen.

Mit Beschluss vom 8. Januar 2019 ist das Jobcenter im Landkreis Z zum Verfahren beigeladen worden.

Entscheidungsgründe

I. Die zulässige Klage ist begründet. Zu Unrecht hat die beklagte Familienkasse --trotz eines zugunsten des Sozialleistungsträgers bestehenden Erstattungsanspruchs gegenüber der Familienkasse-- den an das beigeladene Jobcenter zu erstattenden Betrag von der Klägerin zurückgefordert. Der Rückforderungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; er war deshalb aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

1. Ist eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO). Das gezahlte Kindergeld hat den Charakter einer Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG).

2. Zwar war der Anspruch auf Kindergeld für A durch Leistungen des Sozialleistungsträgers erloschen; die Beklagte hatte jedoch gegenüber der Klägerin keinen Anspruch gemäß § 218 Abs. 2 AO i.V.m. § 37 Abs. 2 AO auf Rückforderung des von der Familienkasse an das Jobcenter erstatteten Kindergeldes in Höhe von 10.912,29 €.

3. Der Kindergeldanspruch war im Zeitpunkt der Zahlung bereits durch die Leistungen, die das Jobcenter im Landkreis Z an das Kind der Klägerin, A, nach Maßgabe des SGB II erbracht hatte, erfüllt und mithin erloschen (§ 47 AO). Die Beklagte hat damit das Kindergeld ohne rechtlichen Grund gezahlt.

a. Durch die Erbringung von Sozialleistungen nach dem SGB II (ohne Anrechnung von Kindergeld) an das Kind A galt bzw. gilt der Kindergeldanspruch vorliegend als erfüllt, denn das Jobcenter im D hatte als Sozialleistungsträger aufgrund der an A erbrachten Leistungen gegenüber der beklagten Familienkasse einen Erstattungsanspruch (vgl. § 107 SGB X).

b. Der Erstattungsanspruch ergibt sich vorliegend aus § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. den §§ 104 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X. Hat danach ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die --hier nicht einschlägigen-- Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X).

Die Leistungen der unterschiedlichen Leistungsträger müssen deshalb zunächst gleichartig sein. Gleichartigkeit setzt voraus, dass die Sozialleistungen für denselben Zeitraum (Bundesfinanzhof -BFH-, Urteil vom 19. April 2012, III R 85/09, BFHE 237, 145, BStBl II 2013) bestimmt sind wie das Kindergeld (unter aa.) und in der Leistungsart dem Kindergeld entsprechen (unter bb.). Zudem muss eine identische Zweckbestimmung gegeben sein (vgl. BFH-Urteil vom 7. Dezember 2004, VIII R 59/04, BFH/NV 2005, 864; unter cc.). Ferner muss das Kindergeld Einkommen der Hilfeempfängerin sein (unter dd.).

aa. Eine zeitliche Kongruenz der gewährten Sozialleistungen einerseits und des bewilligten Kindergeldes andererseits ist vorliegend gegeben.

bb. Da die Sozialleistungen in Geld gewährt wurden, liegt eine mit dem Kindergeld identische Leistungsart vor.

cc. Die gewährten Sozialleistungen einerseits und das Kindergeld andererseits entsprechen sich zudem in der Zweckbestimmung. Das Kindergeld nach §§ 62ff. EStG ist, soweit es --wie im Streitfall-- der Familienförderung dient, ebenso wie auch Leistungen nach dem SGB II dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern (BFH-Urteil vom 26. Juli 2012, III R 28/10, BFHE 238, 315, BStBl II 2013, 26, m.w.N.).

dd. Des Weiteren setzt die Gleichartigkeit der gewährten Sozialleistungen mit dem bewilligten Kindergeld voraus, dass das Kindergeld dem Einkommen der Hilfeempfängerin zuzuordnen ist. Ist Hilfeempfänger nicht der Elternteil, der Anspruch auf das Kindergeld hat, sondern das im eigenen Haushalt lebende Kind, ist das Kindergeld (nur dann) als Einkommen des Kindes anzurechnen, wenn das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird oder ihm zumindest tatsächlich zufließt (vgl. BFH-Urteile vom 17. April 2008, III R 33/05, BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919; vom 7. April 2011, III R 88/09, juris; und in BFHE 238, 315, BStBl II 2013, 26 [BFH 26.07.2012 - III R 28/10], m.w.N.).

Vorliegend ist das Kindergeld nicht an die Klägerin, sondern an A als Hilfeempfängerin ausgezahlt worden und ihr somit tatsächlich zugeflossen. Aufgrund der erstmaligen nachträglichen Beantragung für und Auszahlung des Kindergeldes an die Tochter der Klägerin ist die Familienkasse zu Recht davon ausgegangen, dass für eine Anrechnung des Kindergeldes auf Sozialleistungen (allein) auf die an die Tochter der Klägerin erbrachten Sozialleistungen abzustellen war, denn die Tochter lebte in einem eigenen Haushalt und das Kindergeld ist ihr --entsprechend der Antragstellung-- tatsächlich zugeflossen.

c. Die Familienkasse ist auch der vorrangig verpflichtete Leistungsträger. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind gegenüber dem Anspruch auf Kindergeld gemäß §§ 62ff. EStG nachrangige Leistungen, da der Sozialleistungsträger bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung der Familienkasse selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

d. Die Familienkasse hatte im Zeitpunkt der Zahlung des Kindergeldes zudem positive Kenntnis davon, dass das Jobcenter bereits (gleichartige) Leistungen nach dem SGB II an die Hilfeempfängerin, deren Einkommen das Kindergeld hier zuzurechnen ist, erbracht hatte.

Aus den in der Kindergeldakte befindlichen Berechnungsbögen für den streitigen Zeitraum folgt, dass das Jobcenter die Familienkasse über nach dem SGB II erbrachte Leistungen an A --vor der Kindergeldfestsetzung-- informiert hat.

e. Die Klägerin ist aufgrund der tatsächlichen Zahlung des Kindergeldes an A bei objektivem Vorliegen der Voraussetzungen einer Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 1, 3 EStG nach Ansicht des erkennenden Senats jedoch nicht als Leistungsempfängerin im Sinne des § 37 Abs. 2 AO anzusehen.

aa. Zwar hat die Familienkasse das nachträglich festgesetzte Kindergeld auf Weisung der Klägerin auf das Konto ihrer Tochter, A, überwiesen.

bb. Der Senat verkennt dabei nicht, dass grundsätzlich ein Dritter als tatsächlicher Empfänger einer Zahlung dann nicht Leistungsempfänger im Sinne des § 37 Abs. 2 AO ist, wenn die Behörde u.a. aufgrund einer Zahlungsanweisung des Erstattungs- bzw. Vergütungsberechtigten an einen Dritten zahlt (vgl. BFH-Beschluss vom 28. März 2001, VI B 256/00, BFH/NV 2001, 1117, m.w.N).

cc. Im vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass die Familienkasse das nachträglich festgesetzte Kindergeld tatsächlich und vollständig an die Hilfeempfängerin, d.h. die Tochter der kindergeldberechtigten Klägerin, ausgezahlt hat und dabei die Voraussetzungen einer --wenn auch nicht förmlich beschiedenen-- Abzweigung Sinne von § 74 Abs. 1 EStG vorlagen.

i. Das Kind A hatte im Januar 2012, d.h. zu dem Zeitpunkt, ab dem die Familienkasse erstmals Kindergeld festgesetzt hat, das xx. Lebensjahr vollendet. Im Zeitraum Januar 2012 bis März 2017 erhielt A (in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann) Leistungen nach dem SGB II, einen geringfügigen Arbeitslohn in Höhe von maximal 3393,90 € jährlich sowie eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von maximal 9.599,16 € jährlich. Die Klägerin selbst bezog im März 2018 neben Pflegegeld in Höhe von ca. 500 € monatlich eine Rente in Höhe von 1.008,59 € (1.128,81 € abzüglich Sozialabgaben in Höhe von 120,22 €).

ii. Der Senat geht angesichts der Höhe der Einkünfte der Klägerin --deren Rente in den Streitjahren bis 2017 überdies niedriger gewesen sein dürfte-- davon aus, dass die Klägerin bei gemäß § 1601 Abs. 1 i.V.m. § 1608 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB- anzunehmender Unterhaltspflicht gegenüber ihrem volljährigen behinderten Kind mangels Leistungsfähigkeit nicht dazu in der Lage war, Unterhaltszahlungen zu erbringen (§ 1603 Abs. 1 BGB). Nach den "Unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate des Oberlandesgerichts Celle" (Stand ab 1. Januar 2011 sowie ab 1. Januar 2015, dort jeweils Abschnitt 21.3.1) betrug der angemessene Selbstbehalt gegenüber volljährigen Kindern 1.150 € (Zeiträume ab 2011 bis 2015) bzw. 1.300 € (ab 2015); ferner ist im Rahmen des von der Klägerin bezogenen Pflegegeldes eine Weiterleitung an Pflegepersonen sowie der Abzug eines Betrags für tatsächliche Mehraufwendungen zu berücksichtigen (vgl. Abschnitte 2.7, 2.8 der o.g. Leitlinien). Im Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe vom 19. März 2018 hat die Klägerin überdies angegeben, sie leiste keinen Bar- oder Naturalunterhalt an Angehörige. Außerdem hatte die Familienkasse bereits für ein weiteres Kind der Klägerin, B, mit Bescheid vom 18. März 2015, d.h. während des streitigen Zeitraums, die Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG ab April 2015 bewilligt.

iii. Nach Auffassung des erkennenden Senats lagen damit die Voraussetzungen einer Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 EStG vor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bereits der ursprüngliche Antrag der A auf eine Abzweigung des Kindergeldes gerichtet war, die Familienkasse jedoch diesen Abzweigungsantrag nach Erhalt des dazu erforderlichen und von der Klägerin nachgereichten Kindergeldantrags nicht mehr beschied. Die Beklagte hätte unter den dargelegten Voraussetzungen aber prüfen müssen, ob sie unter Beachtung sachgerechten Ermessens die Auszahlung an A nicht nur wegen der Anweisung der Klägerin, sondern ohnehin nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG im Wege der Abzweigung veranlassen musste, und hierüber einen entsprechenden Verwaltungsakt erlassen. Eines ausdrücklichen erneuten Antrags bedurfte es hierzu nicht, weil die Vorschrift einen solchen als tatbestandliche Voraussetzung nicht vorsieht (vgl. Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 19. April 2005, 11 K 672/03, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2005, 1720). Die Klägerin hätte sich aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG gegen eine Abzweigung des Kindergelds nicht wehren können; zudem waren sich alle an der Antragstellung beteiligten Personen einig, das Kindergeld solle direkt an A fließen. Dass die Klägerin bzw. deren Betreuerin oder A nicht auf den Erlass eines Abzweigungsbescheids bestanden haben, kann ihnen als juristische Laien nicht zum Vorwurf gemacht werden. Da die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 EStG objektiv vorlagen, reduzierte sich unter den vorliegenden Umständen nach Ansicht des erkennenden Senats der Ermessensspielraum der Beklagten auf Null, und ein Abzweigungsbescheid hätte ergehen müssen (vgl. zur Ermessensreduzierung auf Null BFH-Urteile vom 10. Oktober 2001, XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201; und vom 9. Februar 2009, III R 20/07, juris).

dd. Nach alledem hatte das beigeladene Jobcenter zwar einen Erstattungsanspruch gegenüber der beklagten Familienkasse, denn durch die Erbringung von Sozialleistungen nach dem SGB II (ohne Anrechnung von Kindergeld) an das Kind A galt der Kindergeldanspruch gegenüber der insoweit vorrangig verpflichteten Familienkasse als erfüllt. Da aber vorliegend die Voraussetzungen einer Abzweigung an das Kind A nach § 74 Abs. 1 EStG objektiv erfüllt waren und die direkte Auszahlung des Kindergeldes an A auch gerade deshalb erfolgte, weil das Kindergeld von vornherein ihr (und nicht etwa der kindergeldberechtigten Klägerin) zur Verfügung stehen sollte, bestand kein Rückforderungsanspruch der Familienkasse gemäß § 218 Abs. 2 AO i.V.m. § 37 Abs. 2 AO gegenüber der Klägerin.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.