Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 19.09.2014, Az.: L 11 AS 502/14 B ER

Aufenthaltsgesetz; Aufenthaltstitel; Ausländer; Familienangehörige; Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende; Leistungsausschluss; Leistungsberechtigte; Nachzug; Rückausnahme

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.09.2014
Aktenzeichen
L 11 AS 502/14 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42451
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 29.04.2014 - AZ: S 26 AS 617/14 ER

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Familienangehörige eines Ausländers, der einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels AufenthG besitzt und daher aufgrund der Rückausnahme in § 7 Abs 1 Satz 3 SGB II Leistungsberechtigter im Sinne des SGB II ist, unterfallen ebenfalls keinem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II, wenn sie nach Deutschland nachziehen und ihnen ein Aufenthaltstitel nach dem Abschnitt 6 des Zweiten Kapitels AufenthG erteilt wird. Eine abweichende Handhabung ist bereits nach der Grundstruktur des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II nicht gerechtfertigt und widerspricht auch den Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. April 2014 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 11. April bis einschließlich 5. Juni 2014 vorläufig Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller beider Instanzen zu tragen.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt J., K., bewilligt.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende für die Zeit vom 11. April bis zum 5. Juni 2014.

Die am L. geborene Antragstellerin zu 1. ist die Ehefrau des am M. geborenen Herrn N. O., der am P. geborene Antragsteller zu 2. ist der Sohn der beiden. Die Genannten sind pakistanische Staatsangehörige. Nach Anerkennung als Asylberechtigter wurde Herrn N. O. eine Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 25 Abs 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) für die Zeit vom 6. September 2013 bis zum 5. September 2016 erteilt. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit wurde ebenfalls gestattet. Am 6. März 2014 reisten die Antragsteller in das Bundesgebiet ein. Ihnen waren zuvor durch die Deutsche Botschaft in Q. Visa zum Zwecke des Familiennachzuges erteilt worden. Der Antragstellerin zu 1. wurde zudem bereits mit dem Visum die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erlaubt.

Am 18. März 2014 beantragten die Antragsteller die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende. Mit Bescheid vom 26. März 2014 gewährte der Antragsgegner Herrn  N. O. Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende für die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 2014 (Gesamtbedarf: 353,-- Euro; KdU: 162,50 Euro monatlich). Für die Antragsteller weist der dem Bescheid beigefügte Berechnungsbogen jeweils Summen i.H.v. „0,00 Euro“ aus. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Antragsgegner durch Bescheid vom 3. April 2014 zurück. Für Angehörige, denen noch keine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, bestehe kein Leistungsanspruch. Die Antragsteller haben dagegen unter dem 16. April 2014 beim Sozialgericht (SG) Hildesheim Klage erhoben (Az.: R.).

Mit Wirkung vom 2. April 2014 bis zum 1. September 2016 ist den Antragstellern durch den Landkreis (LK) S. eine Aufenthaltserlaubnis für nachziehende Familienangehörige im Sinne des Kapitels 2 Abschnitt 6 des AufenthG erteilt worden.

Die Antragsteller haben am 11. April 2014 beim SG Hildesheim die Gewährung einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes beantragt. Sie haben die Auffassung vertreten, dass sie nicht dem Leistungsausschluss für Ausländer während der ersten drei Monate des Aufenthalts im Bundesgebiet unterfielen. Vielmehr komme ihnen als nachziehende Familienangehörige eines nicht vom Leistungsausschluss erfassten Ausländers ebenfalls die privilegierende Rückausnahme des § 7 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II) zugute.

Mit Beschluss vom 29. April 2014 hat das SG Hildesheim den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragsteller unterlägen dem Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts im Bundesgebiet. Obwohl Herr N. O. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 2 AufenthG und damit nach dem Kapitel 2, Abschnitt 5 des AufenthG erteilt worden sei und er damit aufgrund der Rückausnahme in § 7 Abs 1 Satz 3 SGB II, nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II unterfalle, würden seine nachziehenden Familienangehörigen nach dem Wortlaut der Norm nicht von der privilegierenden Rückausnahme erfasst. Eine abweichende Beurteilung ergebe sich auch nicht vor dem Hintergrund der den Antragstellern inzwischen erteilten Aufenthaltserlaubnisse. Denn dabei handele es sich nicht um Aufenthaltstitel nach Kapital 2 Abschnitt 5 des AufenthG, sondern um solche für nachziehende Familienangehörige nach Kapitel 2 Abschnitt 6 des AufenthG.

Gegen den am 6. Mai 2014 ihrem Bevollmächtigten zugestellten Beschluss richtet sich die am 13. Mai 2014 eingelegte Beschwerde der Antragsteller.

Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag.

Nachdem der Antragsgegner den Antragstellern durch Änderungsbescheid vom 10. Juni 2014 für die Zeit vom 6. Juni bis zum 30. September 2014 Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende bewilligt hat, haben die Antragsteller ihr Begehren auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende auf die Zeit ab gerichtlicher Antragstellung am 11. April 2014 bis zum 5. Juni 2014 begrenzt.

Sie beantragen (sinngemäß),

den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. April 2014 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen für die Zeit vom 11. April bis zum 5. Juni 2014 vorläufig Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende zu gewähren.

Der Antragsgegner tritt dem Beschwerdebegehren unter Bezugnahme auf den angegriffenen Beschluss des SG Hildesheim entgegen und beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die von dem Antragsgegner als Verwaltungsvorgänge vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.

II.

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG - statthafte und zulässige Beschwerde der Antragsteller ist begründet.

Die Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes in Form einer Regelungsanordnung liegen vor. Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie des Anordnungsgrunds – die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs 3 Zivilprozessordnung - ZPO -). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat er Anspruch auf die beantragte Leistung im Wege vorläufigen Rechtsschutzes.

Dies zugrunde gelegt ist ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden. Der Antragsgegner ist verpflichtet, den Antragstellern vorläufig auch für die Zeit vom 11. April bis einschließlich 5. Juni 2014 Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende zu erbringen. Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II kommt nicht zum Tragen. Andere Leistungsausschlüsse sind nicht erkennbar.

Dass die Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllen, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. So hat der Antragsgegner ihnen auch nach Ablauf von drei Monaten nach ihrer Einreise ab dem 6. Juni 2014 derartige Leistungen gewährt.

Die Antragsteller sind im streitigen Zeitraum auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II (in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. I, S. 1970) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Nach dieser Vorschrift sind von dem Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate des Aufenthalts. Zwar sind die Antragsteller Ausländer im Sinne dieser Vorschrift (vgl. § 2 Abs 1 AufenthG i.V.m. Artikel 116 Abs 1 Grundgesetz - GG -). Ihnen kommt jedoch die Rückausnahme des § 7 Abs 1 Satz 3 SGB II zugute, da sie als Familienangehörige eines vom Leistungsausschluss nicht erfassten Ausländers in die Bundesrepublik Deutschland nachgezogen sind. So verfügte Herr N. O. über einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels AufenthG und ist daher (im Wege der Rückausnahme) nicht von einem Leistungsausschluss erfasst. Dementsprechend sind den Antragstellern nach Maßgabe des Kapitels 2 Abschnitt 6 des AufenthG als Familienangehörige Aufenthaltstitel erteilt worden.

Dass der Leistungsausschluss hier nicht „greift“, folgt bereits aus der Normstruktur des § 7 Abs 1 Satz 2 bzw. Satz 3 SGB II. So erstreckt sich § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II (und auch nach Nr 2) ausdrücklich auf Ausländerinnen und Ausländer „und ihre Familienangehörigen“. Demgegenüber benennt § 7 Abs 1 Satz 3 SGB II zwar nur Ausländerinnen und Ausländer ohne zusätzlich ausdrückliche Erwähnung ihrer Familienangehörigen. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass im Rahmen der Rückausnahme von der in der Ausnahmevorschrift vorgegebenen Grundstruktur (Ausländerinnen und Ausländer und Familienangehörige) abgewichen werden sollte. Eine derartige Einschränkung lässt sich aus dem bloßen Wortlaut der Rückausnahme nicht ableiten. Dass eine solche Abweichung gewollt war, ergibt sich auch nicht aus den Gesetzgebungsmaterialien (vgl. BT-Drs 16/5065 vom 23. April 2007, S. 234). In Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung sehen die „Fachlichen Hinweise“ der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB 2 für Familienangehörige eines Ausländers, der einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des Zweiten Kapitels AufenthG besitzt, keinen Leistungsausschluss vor, wenn sie nach Deutschland nachziehen und ihnen ein Aufenthaltstitel nach dem Abschnitt 6 des Zweiten Kapitels AufenthG erteilt wird. Ein Leistungsausschluss für diesen Personenkreis wird auch in der Literatur abgelehnt (vgl. z.B. Hackethal in: Juris PK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 7 Rn 34; Thie in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 7 Rn 24).

Ein Leistungsausschluss ergibt sich auch nicht aus § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II. Gemäß dieser Vorschrift sind vom Leistungsbezug ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Dies ist hier bereits nicht der Fall, da sich das Aufenthaltsrecht der Antragsteller aus dem Familiennachzug ergab und damit nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 37/12 R). Da den Antragstellern im streitigen Zeitraum kein Anspruch auf Asylbewerberleistungen zugestanden hat, ergibt sich ferner kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt auch, dass der Antragsgegner durch seinen Änderungsbescheid vom 10. Juni 2014 dem ursprünglich über den 5. Juni 2014 hinausgehenden Begehren der Antragsteller nachgekommen ist, woraufhin diese ihren Antrag auf den zuletzt streitgegenständlichen Zeitraum beschränkt haben.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren hat Erfolg, weil die Rechtsverfolgung der Antragsteller hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne des § 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung – ZPO – bietet und die Antragsteller nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Die Entscheidung über die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten folgt aus § 121 Abs 2 ZPO, der Verzicht auf Ratenzahlungen aus § 120 Abs 1 ZPO.

Dieser Beschluss ist nach Maßgabe des § 177 SGG unanfechtbar.