Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 22.02.2024, Az.: 26 Qs 18/24

Nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach dem Abschluss des Verfahrens als nicht möglich

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
22.02.2024
Aktenzeichen
26 Qs 18/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 15757
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hildesheim - 03.02.2024 - AZ: 109 Gs 105/24

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Verteidigerbestellung erfolgt im Strafverfahren nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten bzw. Angeschuldigten oder Angeklagten, sondern dient allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten.

  2. 2.

    Die (nachträgliche) Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist nach dem Abschluss des Verfahrens nicht möglich. Dies gilt auch für den Fall, dass der Verteidiger den Antrag vor dem Verfahrensabschluss - rechtzeitig - gestellt hat.

  3. 3.

    Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU über Prozesskostenhilfe in Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls steht dem ebenfalls nicht entgegen.

In dem Ermittlungsverfahren
gegen XXX
hat die große Strafkammer 16 des Landgerichts Hildesheim auf die sofortige Beschwerde der Betroffenen vom 05.02.2024 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hildesheim vom 03.02.2024 (109 Gs 105/24) am 22.02.2024 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Betroffenen als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Gegen die Betroffene wurden in dem hiesigen Verfahren wegen des Verdachts des Diebstahls am 18.09.2023 Ermittlungen geführt. Mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 04.12.2023 hat die Betroffene die Beiordnung ihres Verteidigers als Pflichtverteidiger beantragt. Mit Verfügung vom 12.12.2023 hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 154 StPO eingestellt.

Mit Beschluss vom 03.02.2024 (109 Gs 105/24) hat das Amtsgericht Hildesheim den Beiordnungsantrag abgelehnt. Zur Begründung wird ausgeführt, dass nach einer das Amtsgericht überzeugenden Ansicht zwar eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung ausnahmsweise zulässig sei, wenn der Beiordnungsantrag schon vor der Einstellung des Verfahrens gestellt worden sei. Allerdings würden in dem vorliegenden Fall unabhängig davon bereits die übrigen Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen.

Hiergegen wendet sich die Betroffene mit dem durch Schriftsatz ihres Verteidigers vom 05.02.2024 eingelegten Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

1.

Eine - rückwirkende - Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger - wie hier - kann nicht vorgenommen werden, nachdem das Strafverfahren zwischenzeitlich wirksam eingestellt worden ist (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 348 [BGH 20.07.2009 - 1 StR 344/08]; OLG Celle, st. Rspr., Beschlüsse vom 24.07.2012, 2 Ws 196/12; vom 12.12.2018, 2 Ws 461/18; vom 10.09.2019, 2 Ws 258/19, 2 Ws 273/19, juris; KG Berlin, Beschluss vom 09.03.2006, 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, 2023, § 142 Rn. 19 m.w.N.). Dies gilt auch, wenn ein Antrag rechtzeitig gestellt, über ihn aber (ggf. versehentlich) nicht entschieden wurde (OLG Braunschweig BeckRS 2015, 02332; OLG Stuttgart BeckRS 2015, 05292; OLG Hamm BeckRS 2011, 17170; OLG Köln NStZ-RR 2011, 325 [OLG Köln 28.01.2011 - 2 Ws 74/11]; KG StraFo 2006, 200 [KG Berlin 09.03.2006 - 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05]; siehe auch Beutel, NStZ 2022, 328, m.w.N.).

a.

Die Verteidigerbestellung erfolgt im Strafverfahren nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten bzw. Angeschuldigten oder Angeklagten, sondern dient allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dieser Zweck kann nach Abschluss des Verfahrens nicht mehr erreicht werden, da es keine zu erbringende Verteidigungstätigkeit mehr gibt, auf die sich die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger entstehende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden beziehen könnte (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10.09.2019, 2 Ws 258/19, 2 Ws 273/19).

b.

Auch nach Inkrafttreten der Reform zur Pflichtverteidigung am 13.12.2019 hat sich nach Einschätzung der Kammer daran - weiterhin - nichts geändert. Hierfür spricht auch der Wortlaut des § 143 Abs. 1 StPO n.F., wonach die Bestellung des Pflichtverteidigers mit der Einstellung des Strafverfahrens endet. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach diesem Zeitpunkt wäre daher aus Sicht der Kammer nicht von dem Sinn und Zweck der Vorschriften gedeckt.

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU über Prozesskostenhilfe in Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls steht dem ebenfalls nicht entgegen (a.A. OLG Bamberg Beschl. v. 29.4.2021 - 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711 Rn. 16). Hier heißt es in Abs. 1:

"Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist."

Hiernach besteht Anspruch auf Prozesskostenhilfe nur dann, "wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist", mithin für das weitere Verfahren von Bedeutung ist. Der Gesetzgeber hat in Umsetzung dieser Vorgabe in § 140 StPO abschließend die Fälle aufgeführt, in denen eine Pflichtverteidigung im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist und die Kosten der Rechtsverteidigung verauslagt werden. Im Interesse der Rechtspflege ist die Kostentragung jedoch nur dann, wenn eine Rechtsverteidigung überhaupt noch stattfinden kann. Dies ist nicht der Fall, wenn das Verfahren bereits abgeschlossen ist und einer weiteren Rechtsverteidigung damit die Grundlage fehlt (LG Bonn Beschl. v. 18.5.2021 - 920 Js 214/21, BeckRS 2021, 12660 Rn. 3 m.w.N.). Keineswegs sieht die Richtlinie vor, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten, gar nach rechtskräftig erfolgter kostenpflichtiger Verurteilung noch eine Beiordnung eines Verteidigers vorzunehmen (OLG Hamburg Beschl. v. 16.9.2020 - 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077, Rn. 15). Das strafprozessuale Recht der notwendigen Verteidigung knüpft zudem gerade nicht an die Bedürftigkeit der beschuldigten Person an. Dies kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass die Bestellungsvorschriften - auch nach Umsetzung der PKH-Richtlinie - eine Bedürftigkeitsprüfung nicht vorsehen. Vielmehr hat der Beschuldigte bzw. Angeklagte im Falle einer späteren Verurteilung die Kosten seiner Verteidigung zu tragen, selbst wenn diese im Falle der Pflichtverteidigung zunächst (gegebenenfalls teilweise) aus der Staatskasse entrichtet werden. Die Vorstellung, dass dem Beschuldigten in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein nur zunächst staatlich finanzierter Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird, entsprach im Übrigen auch der Vorstellung des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung im Anschluss an die PKH-Richtlinie (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2) (LG Bonn Beschl. v. 18.5.2021 - 920 Js 214/21, BeckRS 2021, 12660 Rn. 3). Der Gesetzgeber beabsichtigte in Umsetzung der Richtlinie gerade keinen Systemwechsel in der Frage der Pflichtverteidigerbestellung im Sinne der Anknüpfung an eine Bedürftigkeitsprüfung statt wie bisher allein an die Prüfung des Rechtspflegeinteresses (BT-Drucksache 19/13829 S. 22). Zu Recht ging der Gesetzgeber dabei davon aus, dass die PKH-Richtlinie der Beibehaltung des deutschen Systems der notwendigen Verteidigung nicht entgegensteht (OLG Braunschweig Beschl. v. 2.3.2021 - 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268 Rn. 10). Daher fehlt es auch an einer Vergleichbarkeit mit der - nach höchstrichterlicher Rechtsprechung anerkannten - rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe bei rechtzeitig gestellten Antrag.

c.

In einem bei den Akten befindlichen Vermerk wird vom Amtsgericht zu der Frage der rückwirkenden Beiordnung vertreten, dass es letztlich vom Zufall abhänge, ob ein gegenüber der Polizei oder Staatsanwaltschaft rechtzeitig gestellter Beiordnungsantrag dem Gericht rechtzeitig vor Einstellung zugeleitet werde und der Beschuldigte, der keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Übersendung habe, die Kosten der Wahlverteidigung zu tragen habe. Unabhängig vom Kosteninteresse "[könne es] aber nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sein", die Zulässigkeit einer Beiordnung vom "willkürlichen" Zeitpunkt der Übersendung abhängig zu machen.

Nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK ist das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand ebenfalls daran geknüpft, dass die anwaltliche Vertretung im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (LG Bonn Beschl. v. 18.5.2021 - 920 Js 214/21, BeckRS 2021, 12660 Rn. 3), sodass diesbezüglich auch die obigen Ausführungen gelten.

Die dem Beschuldigten aus der entsprechenden Sachbehandlung erwachsenen Nachteile wären aber (auch) nach der Argumentation des Amtsgerichts allein die aus der Wahlverteidigung resultierenden Kosten. Damit würde das Amtsgericht der Sache nach das Kosteninteresse in eben jenen Mittelpunkt der Frage stellen, der vermeintlich inhaltlich unabhängig davon stehen soll.

Denn es würde - stünde nicht das Kosteninteresse, sondern tatsächlich rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze im Mittelpunkt - bei von Amts wegen vorzunehmender Beiordnung auf die Antragstellung (und nicht nur deren Zeitpunkt) nicht entscheidend ankommen. Vielmehr müsste es, dieses Verständnis zugrunde legend, in allen Fällen der zu irgendeinem Zeitpunkt im Rechtssinne notwendigen Verteidigung zu einer nachträglichen Bestellung kommen, um "rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen" zu genügen. Vom Ausnahmecharakter einer solchen Entscheidung könnte dann aber sinnvoll keine Rede mehr sein.

Folgt man zudem der von der Kammer vertretenen Einschätzung, wonach Interessen der Rechtspflege die Beiordnung erforderlich machen müssen, besteht auch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Denn dieser gebietet nur die gleiche Behandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten. Aber Verfahren einerseits, die noch nicht eingestellt sind und in denen daher überhaupt noch ein Tätigwerden des beigeordneten Rechtsanwalts möglich ist und Verfahren andererseits, bei denen ein solches Tätigwerden nach Einstellung nicht mehr möglich ist, sind nicht wesentlich gleich, sondern unterscheiden sich erheblich.

d.

Hierfür spricht auch - jedenfalls unter systematischen Gesichtspunkten - § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach von einer grundsätzlich von Amts wegen veranlassten Bestellung abgesehen werden kann, wenn die alsbaldige Einstellung des Verfahrens absehbar ist und keine weiteren Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauszügen oder Beiziehung von Akten geplant sind. Darin kommt die Wertung zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber dem Fortbestand eines tatsächlichen Verteidigungsbedarfs durchaus Bedeutung zumisst. Zwar ist dem entgegenzuhalten, dass die Vorschrift ausdrücklich nur auf Fälle des § 141 Abs. 2 S. 1 Nrn. 2 und 3 StPO verweist. Damit ist aber weder für die nicht in Bezug genommenen Fälle noch generell die Relevanz eines reinen Kosteninteresses zu belegen (Beutel, NStZ 2022, 328, m.w.N.).

Sofern man - wie die Kammer - das Kosteninteresse als dem Institut der notwendigen Verteidigung fremden Aspekt ansieht, ist für eine Beiordnung nach Abschluss des Verfahrens und zwar auch, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt wurde, grundsätzlich und mithin auch nicht aus Billigkeitsgründen folgerichtig kein Raum.

Ggf. unbillige Entscheidungen lassen sich allein dadurch vermeiden, dass Beiordnungsanträge einer unverzüglichen Entscheidung im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO zugeführt werden und dem Unverzüglichkeitsgebot zuwiderlaufenden Sachbehandlungen ggf. mit einer Untätigkeitsbeschwerde entgegengetreten wird.

2.

Aufgrund der vorherigen Ausführungen kann dahinstehen, ob vorliegend die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorlagen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

IV.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 310 Abs. 2 StPO).