Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.09.1995, Az.: 12 L 2035/95
Anerkennung; Asyl; Rechtsschutzbedürfnis; Kosovo; Asylantrag
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.09.1995
- Aktenzeichen
- 12 L 2035/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 14181
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1995:0928.12L2035.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover 31.10.1994 - 13 A 7108/94
- nachfolgend
- BVerwG - 13.12.1995 - AZ: BVerwG 9 B 667.95
- BVerwG - 06.08.1996 - AZ: BVerwG 9 C 169/95
Tenor:
Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wird der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Hannover - 13. Kammer Hannover - vom 31. Oktober 1994 geändert.
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. September 1994 wird aufgehoben, soweit es festgestellt hat, die Kläger erfüllten die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG.
Die Kosten beider Rechtszüge trägt die Beklagte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen; das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der - nach eigenen Angaben - 1965 in Pristina (Republik Serbien, vormals Republik Kosovo) geborene Beigeladene zu 1) und die 1962 in Fushe Kosove (Republik Serbien, vormals Republik Kosovo) geborene Beigeladene zu 2) sind Eheleute; sie sind - nach ihren Angaben - albanische Volkszugehörige moslemischen Glaubens. Nach ihrer Darstellung reisten sie am 22. August 1994 aus ihrem Heimatland aus und gelangten auf dem Landweg - zunächst über Makedonien und Bulgarien reisend, der weitere Reiseweg ist nicht bekannt - am 25. August 1994 in das Bundesgebiet ein, wobei sie sich der Hilfe eines türkischen Staatsangehörigen bedienten, der hierfür einen Betrag von 4.500,-- DM erhalten hat.
Am 26. August 1994 beantragten sie ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 1. September 1994 machte der Beigeladene zu 1) geltend: Er sei einfaches Mitglied der LDK und habe, nachdem er 1990 infolge der Teilnahme an dem Generalstreik aus dem Postdienst ausgeschieden sei, ein Cafe betrieben, in dem auch Zusammenkünfte der LDK und der Gewerkschaft stattgefunden hätten. Im Zusammenhang mit einer LDK-Versammlung sei er im Juni 1994 von der Polizei mit auf die Wache genommen worden, wo er für mehr als sechs Stunden festgehalten und von einem Polizisten bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen worden sei; auf Intervention eines ihm bekannten Polizisten sei er dann entlassen worden. Am 20. August 1994 sei die Polizei wiedergekommen, habe ihm alle Papiere weggenommen, das Cafe geschlossen und ihn aufgefordert, am 22. August 1994, 8.00 Uhr auf der Dienststelle zu erscheinen. Dieser Aufforderung sei er nicht nachgekommen. Als sie an diesem Tage gegen 12.00 Uhr den Eindruck gehabt hätten, daß die Polizei ihn holen komme, habe er mit seiner Ehefrau über den Hinterausgang das Haus verlassen; sie hätten sich zu seinen Schwiegereltern begeben. Der Schwiegervater habe sie noch in derselben Nacht mit seinem Kraftfahrzeug außer Landes gebracht und ihnen aus seinen Ersparnissen einen Betrag von 4.500,-- DM für die Fluchtorganisation zur Verfügung gestellt. Die Beigeladene zu 2) berief sich auf die Asylgründe ihres Ehemannes und ergänzte und vertiefte dessen Vorbringen zu den Geschehnissen.
Mit Bescheid vom 2. September 1994 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Beigeladenen ab, weil diese auf dem Landweg und damit über einen sicheren Drittstaat i.S.d. Art. 16 a GG eingereist seien, und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) vorlägen, weil den Beigeladenen allein wegen ihrer albanischen Volkszugehörigkeit eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung drohe; das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 4 AuslG läge hinsichtlich der Bundesrepublik Jugoslawien vor; im übrigen lägen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vor.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat, soweit die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 3 AuslG angenommen worden sind, hiergegen am 19. September 1994 Klage erhoben, zu deren Begründung er geltend gemacht hat, albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo drohe nicht schon wegen ihrer Volkszugehörigkeit eine i.S.d. § 51 AuslG beachtliche Verfolgung.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. September 1994 aufzuheben, soweit die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 Abs. 4 AuslG bejaht worden sind.
Die Beigeladenen und die Beklagte, denen die Klage jeweils zur Stellungnahme zugestellt worden war, haben sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage, ohne die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu hören, durch Gerichtsbescheid vom 31. Oktober 1994 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß den Beigeladenen als "ethnischen Albanern" aus der serbischen Provinz Kosovo im Falle einer Rückkehr in die Heimat wegen ihrer Volkszugehörigkeit gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmittelbar gruppengerichtete Verfolgung durch den serbischen Staat drohe, mithin die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 Abs. 4 AuslG vorlägen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom erkennenden Senat durch Beschluß vom 28. März 1995 zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten, mit der er geltend macht, daß nach den in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juni 1994 - 9 C 149.94 - festgelegten Anforderungen an die Verfolgungsdichte auch bei unmittelbar staatlicher Gruppenverfolgung der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben könne. Nach den vorliegenden Erkenntnissen könne nicht davon ausgegangen werden, daß jede im Kosovo lebende Person albanischer Volkszugehörigkeit allein wegen dieser Volkszugehörigkeit einer politischen Verfolgung seitens des serbischen Saates ausgesetzt sei.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheit beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Hannover - 13. Kammer, Einzelrichter - vom 31. Oktober 1994 zu ändern und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. September 1994 aufzuheben, soweit die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 Abs. 4 AuslG bejaht worden sind.
Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
Die Beigeladenen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen,
und verweisen zur Begründung auf die zutreffenden Gründe des angegriffenen Gerichtsbescheides. § 81 AsylVfG sei bei der vorliegenden Fallkonstellation nicht, auch nicht analog, anwendbar.
Unter dem 29. Mai 1995 zeigte die Stadt Lingen (Ems) an, daß die Beigeladenen sich seit etwa einem Monat nicht mehr in der ihnen zugewiesenen Unterkunft aufhielten; es sei davon auszugehen, daß sie im Bundesgebiet oder im benachbarten Ausland untergetaucht seien. Die Beigeladenen sind über ihre Prozeßbevollmächtigten unter Fristsetzung aufgefordert worden, ihren gegenwärtigen Aufenthalt mitzuteilen und nachzuweisen, daß sie nicht auf Dauer in ihr Heimatland zurückgekehrt oder aus dem Bundesgebiet ausgereist seien. Die Prozeßbevollmächtigten der Beigeladenen haben schriftsätzlich erklärt, ihnen sei der Aufenthaltsort der Beigeladenen nicht bekannt, und dies in der mündlichen Verhandlung bestätigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen; er ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist zulässig und begründet. Die Berufung hat hier schon deswegen Erfolg, weil ein Sachbescheidungsinteresse der Beigeladenen für das Begehren auf Feststellung, daß die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG vorliegen, nicht (mehr) festgestellt werden kann.
1. Voraussetzung für die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG - ebenso wie für die Anerkennung als Asylberechtigter - ist, daß ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung besteht. Dieses Interesse ist nicht nur - in der prozessualen Form des Rechtsschutzbedürfnisses - erforderlich, sondern wirkt zurück auf das verwaltungsverfahrensrechtliche Sachbescheidungsinteresse und auf den materiellen Anspruch selbst. Dieses berechtigte Interesse muß in jedem Rechtszug fortbestehen (so - in bezug auf das Rechtsschutzinteresse für die verwaltungsgerichtliche Klage - Hailbronner/Schenk, § 81 AsylVfG Rn. 7 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat dies durch die Regelungen des § 33 AsylVfG (für das Asylverfahren vor dem Bundesamt) und § 81 AsylVfG (für das verwaltungsgerichtliche Verfahren) in der Weise aufgeformt, daß bei Nichtbetreibens des Verfahrens trotz Aufforderung der Antrag bzw. die Klage als zurückgenommen gilt.
Diese Regelungen, die als Ausdruck eines übergreifenden Prinzips zu werten sind, sind allerdings unmittelbar nicht anwendbar. Das Asylverfahren vor dem Bundesamt ist mit dem Bescheid vom 2. September 1994, in dem unter Ablehnung des Asylantrages festgestellt wurde, daß die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG vorliegen, abgeschlossen. § 81 AsylVfG findet weder unmittelbar noch analog Anwendung, weil Kläger des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht die Asylsuchenden selbst sind, sondern der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten.
Daß hier die verwaltungsverfahrensrechtliche bzw. prozessuale Antrags- bzw. Klagrücknahmefiktion nicht greifen können, ändert indes nichts daran, daß für den Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz auch materiellrechtlich ein Sachbescheidungsinteresse bestehen muß, und zwar in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt.
2. Ein solches Sachbescheidungsinteresse kann hier nicht (mehr) festgestellt werden.
Die Beigeladenen sind seit längerem (April 1995) unbekannten Aufenthaltes; die Verfahrensbevollmächtigten der Beigeladenen haben mitgeteilt, daß sie den Aufenthaltsort der Beigeladenen nicht mitteilen können, weil der Kontakt zu ihnen abgerissen sei; dies haben sie in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts bestätigt.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß sich berechtigte Anhaltspunkte für das Fehlen oder Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses ergeben, wenn aufgrund einer Ausreise aus dem Bundesgebiet Anlaß zu der Annahme besteht, daß das Verfahren nicht weiter betrieben werden solle, sich ein Asylbewerber beharrlich weigert, den zuständigen Behörden und Gerichten seinen Aufenthaltsort im Inland bekanntzugeben, oder er unbekannt verzogen ist (vgl. - jeweils m.w.N. - Hailbronner/Schenk, § 81 AsylVfG Rn. 11, 16). Allerdings entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Asylklage nicht schon allein deswegen, weil der Ausländer während des Rechtsstreits ausgereist ist. Asylrecht kann in der Bundesrepublik grundsätzlich zwar nur in Anspruch nehmen, wer sich auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik aufhält (BVerwG, Urt. v. 26. Juni 1994 - 9 C 196.83 -, BVerwGE 69, 323); dies schließt indes - jedenfalls bei in den Verfolgerstaat abgeschobenen Asylbewerbern - die Fortsetzung des Verfahrens und die Möglichkeit eines Erfolges der Asylklage des Abgeschobenen nicht aus (s. BVerfG, Beschl. vom 2. Mai 1984 - 2 BvR 1413/83 -, BVerfGE 67, 43, 57 [BVerfG 02.05.1984 - 2 BvR 1413/83]; Beschl. vom 25. Februar 1981 - 1 BvR 413, 768, 820/80 -, BVerfGE 56, 216, 243 f). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Falle einer freiwilligen Ausreise aus dem Bundesgebiet entschieden, daß das Rechtsschutzinteresse für eine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht allein deshalb entfällt, weil der klagende Ausländer während des Rechtsstreites aus der Bundesrepublik Deutschland ausgereist ist, und zur Begründung u.a. ausgeführt (Urt. vom 17. Januar 1989 - 9 C 44/87 -, NVwZ 1989, 673):
"Indessen kann die Ausreise eines Asylklägers aus der Bundesrepublik Deutschland nach wirksamer Asylantragstellung in ein anderes Land, der Eheschließung mit einer Staatsangehörigen dieses Landes und der Mitarbeit im Gewerbebetrieb der Ehefrau jedenfalls dann nicht die Aufgabe des ernsthaften Interesses an einer gerichtlichen Entscheidung über die begehrte Anerkennung gesehen werden, wenn der ausgereiste Asylbewerber so, wie der Kläger dieses Verfahrens, den Asylrechtsstreit ordnungsgemäß weiterbetreibt, unter Nennung nachvollziehbarer Gründe ausdrücklich sein fortbestehendes Interesse an der Erlangung eines die Beklagte zur Anerkennung verpflichtenden Urteils bekundet und jederzeit in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren könnte." (s. dazu auch Hess. VGH, Beschl. v. 27. Februar 1992 - 10 TH 559/90 -, InfAuslR 1990, 291).
Ein solcher Fall liegt hier im Hinblick auf das fehlende Sachbescheidungsinteresse indes nicht vor. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob an diesen Grundsätzen auch nach den Änderungen, die das Asyl- und Asylverfahrensrecht in den letzten Jahren erfahren hat, festzuhalten ist und sie auf das Begehren auf Feststellung, daß die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG vorliegen, übertragbar sind. Selbst wenn von dieser - für die Beigeladenen günstigen - Rechtslage auszugehen wäre, lägen die Voraussetzungen nicht vor. Der Aufenthaltsort der Beigeladenen, deren Asylbegehren rechtskräftig abgelehnt worden ist, ist unbekannt. Es kann nicht festgestellt werden, daß sie sich noch im Bundesgebiet aufhalten und daher eine Abschiebung, für die §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen eine Sperre errichten, überhaupt noch in Betracht kommt. Nachvollziehbare Gründe für ein fortbestehendes Interesse daran, das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 4 AuslG festgestellt zu wissen, haben die Beigeladenen nicht dargetan.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, 83 b Abs. 1 AsylVfG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
Atzler
Berlit
Radke