Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 30.10.2008, Az.: 2 B 194/08
ADHS; Behinderung, seelische; Internat; Maßnahme: Geeignetheit
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 30.10.2008
- Aktenzeichen
- 2 B 194/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 45365
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2008:1030.2B194.08.0A
Rechtsgrundlagen
- 35a I SGB VIII
- 5 II 2 SGB VIII
- 78b III SGB VIII
Amtlicher Leitsatz
Zum eingeschränkten Wunsch- und Wahlrecht bei Unterbringung in einer Einrichtung mit der Vereinbarungen nach § 78b Abs. 1 SGB VIII nicht geschlossen sind.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller für den Besuch des auf ADHS-Kinder spezialisierten privaten Gymnasiums mit Internat G. Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII zu gewähren,
hat keinen Erfolg. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, einen solchen Anspruch zu haben.
Der am ... geborene Antragsteller leidet an dem Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Daneben sind weitere kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen, u.a. längere depressive Reaktionen, sowie psychosomatische Beschwerden, u.a. Herzrhythmusstörungen und Asthma, diagnostiziert. In diesen Diagnosen sind sich die Beteiligten weitgehend einig. Der Antragsteller gehört damit zum Personenkreis der seelisch Behinderten nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII.
Uneinigkeit besteht zwischen den Beteiligten hinsichtlich der Frage, ob der Antragsteller infolge seiner Erkrankungen in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Hierauf kommt es für die Entscheidung indes nicht an, weil der Antragsteller einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin seinen Besuch des Internatsgymnasiums in G. aus Mitteln der Jugendhilfe fördert, selbst dann nicht hätte, wenn eine Teilhabegefährdung im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII vorläge.
Die Beteiligten streiten darüber, welches die für den Antragsteller angemessene und erforderliche Hilfe ist. Der Antragsteller und seine Eltern sehen das Internat als einziges Mittel an, die psychischen Probleme des Antragstellers zu bewältigen. Sie hätten in der Vergangenheit schon viel unternommen, nichts aber habe geholfen. Die Antragsgegnerin favorisiert demgegenüber ein Bündel ambulanter Maßnahmen (Schulbegleitung, Tagesgruppe, Familientherapie), notfalls auch eine Heimunterbringung, diese aber in F.. Sie folgt damit den Empfehlungen der Evangelischen Jugendhilfe H.e.V. vom 17. April 2008, deren Mitarbeiterinnen den Antragsteller und seine Eltern im Frühjahr 2008 über mehrere Wochen betreuten und den Empfehlungen des Hilfeplans vom 1. und der Helferkonferenz vom 3. September 2008.
Bei der Entscheidung "über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart" (§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) bzw. über "Art und Umfang der Hilfe" (§ 36 Abs. 1 Satz 1 sowie § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), bei der "Ausgestaltung der Hilfe" (§ 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) und gegebenenfalls "bei der Auswahl der Einrichtung oder Pflegestelle" (§ 36 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII) steht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein Beurteilungsspielraum zu. Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind ( BVerwG, Urteil vom 24.6.1999 -5 C 24.98-, BVerwGE 109, 155; Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18.8.2005 -4 ME 45/05- ). Dass der Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. September 2008, mit dem Jugendhilfeleistungen für den Besuch des Internats in G. abgelehnt werden, solche Fehler enthält, ist nicht ersichtlich und wird vom Antragsteller auch nicht vorgetragen. Vielmehr beruht die Ansicht, es sollten zunächst einmal alle ambulanten, ggf. auch stationären, Möglichkeiten in F. ausgeschöpft werden, auf der übereinstimmenden Einschätzung mehrer Fachleute, die sich intensiv mit dem Antragsteller und seiner gesundheitlichen wie familiären Situation beschäftigt haben.
Zu Unrecht beruft sich der Antragsteller für sein Begehren auf das in § 5 Abs. 1 SGB VIII verankerte Wunsch- und Wahlrecht, wonach die Leistungsberechtigten das Recht haben, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Dieses Recht besteht nur bei gleich geeigneten Maßnahmen, nicht aber, wenn, wie hier, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, eine Maßnahme für geeignet hält, die andere, gewünschte aber nicht.
Hinzu kommt, dass dieses Wunsch- und Wahlrecht, käme es denn hier zum Tragen, gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII eingeschränkt wäre. Danach soll dem Wunsch nach einer Leistung im Sinne von § 78a SGB VIII, wozu gemäß Nr. 5 der Vorschrift auch die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in Einrichtungen über Tag und Nacht im Sinne von § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII (Internatsunterbringung) gehört, und wenn mit dem Träger der Einrichtung eine Vereinbarung nach § 78b SGB VIII nicht geschlossen wurde, nur entsprochen werden, wenn die Erbringung der Leistung in dieser Einrichtung im Einzelfall oder nach Maßgabe des Hilfeplanes (§ 36 SGB VIII) geboten ist. Eine solche Vereinbarung im Sinne von § 78b SGB VIII hat der Träger des Internats in G. nach fernmündlicher Auskunft der in leitender Funktion dort tätigen Frau C.... N.... mit dem örtlichen Träger der Jugendhilfe bewusst nicht geschlossen. Weder eine Leistungs- (Nr. 1) noch eine Entgelt- (Nr. 2) noch eine Qualitätsvereinbarung (Nr. 3) liegen vor. Mit dem eingeschränkten Wunsch- und Wahlrecht korrespondiert die eingeschränkte Leistungspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe nach § 78b Abs. 3 SGB VIII. Danach ist der Träger zur Übernahme des Leistungsentgelts für den Fall, dass eine Vereinbarung nach Abs. 1 nicht abgeschlossen wurde, nur verpflichtet, wenn dies insbesondere nach Maßgabe der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) im Einzelfall geboten ist. Das ist nur der Fall, wenn keine von den Einrichtungen, mit denen solche Vereinbarungen bestehen, geeignet oder in der Lage ist, die erforderliche Hilfe zu leisten, und daher eine andere geeignete Einrichtung in Anspruch genommen werden muss (Jans/ Happe/ Saurbier/ Mass, Jugendhilferecht, § 78b Rn. 53). Dass nur und ausschließlich das Internat in G. in der Lage ist, den Integrationsbedarf des Antragstellers zu decken, ist weder vorgetragen noch sonst für das Gericht ersichtlich. Auf die von der Antragsgegnerin problematisiert, nicht abschließend geklärte Frage, ob es für das Internat in G. überhaupt eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII gibt, kommt es demnach nicht - mehr - an.
Besteht damit der vom Antragsteller behauptete Anspruch gegen die Antragsgegnerin nicht, so verkennt das Gericht gleichwohl nicht, dass der Antragsteller und seine Familie, insbesondere seine Mutter, der Unterstützung durch das Jugendamt der Antragsgegnerin bedürfen. Eine solche Unterstützung, die neben den von der Antragsgegnerin genannten Maßnahmen auch in einer qualifizierten Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII gesehen werden könnte, macht indes nur Sinn, wenn sie vom Antragsteller und seinen Eltern auch gewünscht und angenommen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Da die Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg nicht hat, kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden (§§ 166 VwGO i.V.m. 114 ZPO).