Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 14.10.2008, Az.: 2 A 3/07

Bewilligungszeitraum; Eignungsnachweis; Fristverlängerung; Fälligkeit; Förderungshöchstdauer; Hinausschieben der Fälligkeit; Leistungsnachweis; Sozialleistung; Verlängerung; ärztliches Attest

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
14.10.2008
Aktenzeichen
2 A 3/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 55108
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Bescheid, mit dem gemäß § 48 Abs. 2 BAföG die Fälligkeit zur Vorlage eines Leistungsnachweises hinausgeschoben wird, wirkt auf den Beginn des 5. Fachsemesters zurück.

Tatbestand:

1

Die Klägerin studiert seit dem Wintersemester 2003/2004 an der Beklagten die Fächer Deutsch und Spanisch für Lehramt. Sie erhielt seit Studienbeginn zunächst antragsgemäß Ausbildungsförderungsleistungen vom Studentenwerk G., das in Ausbildungsförderungsangelegenheiten namens und im Auftrage der Beklagten tätig wird. Nachdem die Klägerin ihr “Kleines Latinum“ nicht bestanden hatte, versagte die Beklagte der Klägerin unter Berufung auf § 48 Abs. 1 BAföG ab Oktober 2005 zunächst weitere Ausbildungsförderungsleistungen. Hiergegen führte die Klägerin vor der erkennenden Kammer Klage (2 A 547/05). Im Rahmen eines am 10. Oktober 2006 in diesem Verfahren abgehaltenen Erörterungstermins machte die Klägerin erstmals gesundheitliche Gründe dafür geltend, warum sie die erforderliche Prüfung bisher nicht abgelegt hatte. Die anwesenden Vertreter der Beklagten signalisierten, prüfen zu wollen, ob eine Verlängerung der Frist für die Abgabe des Eignungsnachweises möglich ist, wenn die Klägerin ein entsprechendes ärztliches Attest vorlegen würde. Daraufhin nahm die Klägerin ihre Klage auf Anraten des Gerichts zurück.

2

Am 1. November 2006 bat die Klägerin die Beklagte unter Überreichung eines ersten ärztlichen Attestes zu prüfen, ob Ausbildungsförderungsleistungen nicht doch ab Oktober 2005 weiter bewilligt werden könnten. Gleichzeitig gab sie einen Wiederholungsantrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen ab. Anfang Dezember 2006 legte sie eine detaillierte nervenfachärztliche Stellungnahme des Dr. med. H. I. vor, nach der die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, sich im Sommersemester 2005 zum “Kleinen Latinum“ anzumelden. Ihr Zustand habe sich im Wintersemester 2005/2006 und Sommersemester 2006 verschlechtert.

3

Daraufhin verschob die Beklagte auf den Antrag der Klägerin vom 1. November 2006 hin die Fälligkeit des Leistungsnachweises mit einem Leistungsstand des 4. Fachsemesters für das Fach Romanistik (Anm. des Gerichts: Gemeint ist das “Kleine Latinum“) mit Bescheid vom 13. Dezember 2006 auf das Ende des Wintersemesters 2006/2007. Daneben bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 2007 Ausbildungsförderungsleistungen in Höhe von monatlich 432,00 Euro für den Bewilligungszeitraum November 2006 bis September 2007.

4

Am 9. Januar 2007 hat die Klägerin bei Gericht einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine auf die Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen in der Zeit von Oktober 2005 bis Oktober 2006 gerichtete Klage gestellt. Nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss der Kammer vom 28. Januar 2008 hat die Klägerin am 1. Februar 2008 Klage erhoben. Zu deren Begründung macht sie geltend, sie sei genauso vorgegangen, wie dies im Erörterungstermin vom 10. Oktober 2006 vorgesehen gewesen sei und könne nicht verstehen, warum ihr für den Streitzeitraum Ausbildungsförderungsleistungen nicht bewilligt würden.

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Als Reaktion auf die Ausführungen der Kammer im PKH-Beschluss hat die Beklagte am 7. April 2008 einen Bescheid erlassen, mit dem sie Ausbildungsförderungsleistungen für die Zeit von Oktober 2005 bis Oktober 2006 ausdrücklich versagte.

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Die Klägerin beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 7. April 2008 zu verpflichten, der Klägerin Ausbildungsförderungsleistungen für den Bewilligungszeitraum Oktober 2005 bis Oktober 2006 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie ist der Ansicht eine (erneute) Förderung der Klägerin sei erst ab November 2006 nach Antragstellung am 1. November 2006 und Vorlage eines ärztlichen Attestes Anfang Dezember 2006 möglich. Der Bescheid vom 2. November 2005, mit dem sie Leistungen für den Bewilligungszeitraum von Oktober 2005 bis September 2006 versagt habe, sei bestandskräftig. Eine Rückbeziehung auf den hier streitbefangenen Bewilligungszeitraum sei nicht möglich. Zwischen Oktober 2005 und Oktober 2006 hätten Gründe für ein Hinausschieben des Fälligkeitszeitpunktes für die Vorlage des Leistungsnachweises nach § 48 Abs. 2 BAföG nicht vorgelegen. Die Klägerin habe Gründe für ein solches Hinausschieben nicht innerhalb der ersten vier Monate des Bewilligungszeitraums, sondern erst im gerichtlichen Erörterungstermin vom 10. Oktober 2006 geltend gemacht. Da § 48 Abs. 1 BAföG eine Ausschlussfrist sei, sei sie mit diesem Vorbringen für die Vergangenheit ausgeschlossen. Für die Zukunft sei ihr Vorbringen jedoch bis einschließlich März 2007 zu berücksichtigen gewesen und von ihr, der Beklagten, mit Bescheid vom 4. Januar 2007 auch berücksichtigt worden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze dieses und des Verfahrens 2 A 547/05 sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 2. November 2005 (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X) und auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen in der Zeit von Oktober 2005 bis Oktober 2006. Der Bescheid der Beklagten vom 7. April 2008, der dem entgegensteht, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 BAföG).

13

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

14

Bei Erlass des Bescheides der Beklagten vom 2. November 2005 ist das Recht unrichtig angewandt worden. Zu Unrecht geht die Beklagte in diesem Bescheid davon aus, die Klägerin habe den ab dem 5. Fachsemester erforderlichen Leistungsnachweis nicht erbracht. Diese Aussage erweist sich im Zeitpunkt des Bescheiderlasses als richtig, kann aber vor der weiteren Entwicklung des Verfahrens keinen Bestand mehr haben. Aus der gebotenen “ex-post-Sicht“ (vgl. dazu Vogelsang in: Hauck/Noftz, SGB X § 44 Rn. 8) ergibt sich, dass Leistungen allein mit dieser Begründung nicht hätten versagt werden dürfen. Denn zugunsten der Klägerin lagen Tatsachen im Sinne von § 48 Abs. 2 BAföG vor, die eine spätere Überschreitung der Förderungshöchstdauer nach § 15 Abs. 3 oder eine Verlängerung der Förderungshöchstdauer nach § 15 a Abs. 3 rechtfertigten. Diese Gründe ergeben sich aus dem bestandskräftigen, und damit für die Beteiligten dieses Verfahrens bindenden Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2006, mit dem die Fälligkeit der Vorlage des fehlenden Leistungsnachweises (“Kleines Latinum“) auf das Ende des Wintersemesters 2006/2007 hinausgeschoben wird. Diese Entscheidung des Hinausschiebens der Fälligkeit ist zur Überzeugung des Gerichts nicht teilbar in eine Zeit ab erstmaliger Geltendmachung von Gründen im Sinne von § 48 Abs. 2 BAföG und eine Zeit davor. Selbst wenn zwischen Beginn des 5. Fachsemesters und dem erstmaligen Geltendmachen von Hinderungsgründen im Sinne von § 48 Abs. 2 BAföG, wie hier, mehrere Monate bzw. ein ganzes Jahr liegen, wirkt eine für den Auszubildenden positive Entscheidung nach § 48 Abs. 2 BAföG, d.h. die Hinausschiebung des Fälligkeitszeitpunkts für die Vorlage der geforderten Leistungsnachweise, auf den gesamten, vor diesem Zeitpunkt liegenden Zeitraum zurück. Als Folge davon kann dem Auszubildenden zu keinem vorhergehenden Zeitpunkt das Fehlen eines erforderlichen Leistungsnachweises leistungsvernichtend entgegengehalten werden, wie dies aber gegenüber der Klägerin mit dem Bescheid der Beklagten vom 2. November 2005 geschehen ist. Denn an den nach § 48 Abs. 2 BAföG neu festgesetzten Nachweistermin sind genau die Wirkungen geknüpft, den Absatz 1 an die dort genannten Zeitpunkte knüpft. Bei Vorliegen der übrigen Förderungsvoraussetzungen ist über den Termin des Absatzes 1 hinaus Ausbildungsförderung bis zu dem neu festgesetzten Vorlagetermin zu erbringen (Rothe/Blanke, BAföG, § 48 Rn. 36; ähnlich Ramsauer/Stallbaum/Sternal, BAföG, 4. Aufl., § 48 Rn. 23). Dies macht auch in der Sache Sinn; denn auch und gerade während des streitbefangenen Zeitraums Oktober 2005 bis Oktober 2006 war die Klägerin ausweislich der nervenärztlichen Stellungnahme des Dr. med. I. vom 1. Dezember 2006 gesundheitlich nicht in der Lage, den geforderten Leistungsnachweis zu erbringen. Das Hinausschieben der Fälligkeit der Vorlage des Leistungsnachweises ist daher nicht nur vom Regelungsgehalt des Bescheides der Beklagten vom 13. Dezember 2006, sondern auch von dem diesem Bescheid zugrunde liegenden Lebenssachverhalt unteilbar. Für die Annahme der Beklagten, derartige Gründe dürften immer und stets erst ab Antragstellung oder ihrer Bekanntgabe der Beklagten gegenüber Wirkung entfalten, fehlt die Rechtsgrundlage (vgl. zu einer ähnlichen Verwaltungspraxis, VG Magdeburg, Urteil vom 1.7.2008 -6 A 28/07-, zitiert nach juris). § 48 BAföG enthält ein derartiges Erfordernis nicht. Soweit das BAföG ein Antragserfordernis kennt (§ 46 BAföG), betrifft dies erkennbar nur den Antrag auf Gewährung von Ausbildungsförderungsleistungen selbst. Diesen hat die Klägerin am 29. Juni 2005 jedoch gestellt.

15

Da die Klägerin unrichtige oder unvollständige Angaben nicht gemacht hat, ist ihr Anspruch schließlich nicht nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X ausgeschlossen.

16

Der Anspruch der Klägerin besteht nicht nur für den - üblichen (§ 50 Abs. 3 BAföG) - Bewilligungszeitraum von Oktober 2005 bis September 2006, sondern auch für den Monat Oktober 2006, obwohl die Klägerin einen diesbezüglichen Wiederholungsantrag im Sinne von § 46 BAföG erst Anfang November 2006 gestellt hat, so dass Leistungen gemäß § 15 Abs. 1 BAföG im Grundsatz auch erst ab November 2006 weiter bewilligt werden könnten, wie dies die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 4. Januar 2007 getan hat. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung:

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Der rechtswidrige Bescheid der Beklagten vom 2. November 2005 enthielt nicht nur die Regelung, dass der klägerische Antrag für den Bewilligungszeitraum von Oktober 2005 bis September 2006 abgelehnt werde, sondern auch diejenige, dass Ausbildungsförderung ab Oktober 2005 nicht mehr geleistet werde. Auch die hiermit ausgesprochene Rechtsfolge muss, da sie rückschauend durch den Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2006 rechtswidrig geworden ist, über § 44 SGB X beseitigt werden. Der Klägerin kann nicht entgegengehalten werden einen Folgeantrag ab Oktober 2006 nicht gestellt zu haben. Denn im Oktober 2006 hatte der Bescheid vom 2. November 2005 noch Bestand und der Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2006, der zu dessen Rechtswidrigkeit geführt hat, existierte noch nicht. Für die Klägerin konnte deshalb gar kein Anlass bestehen einen, zu der Zeit - noch - unnützen, weil bereits abgelehnten Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen zu stellen. Jedenfalls nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruchs ist die Klägerin so zu stellen als hätte sie die Ausbildungsförderung fristgerecht noch im Oktober 2006 beantragt.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.