Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 28.01.2004, Az.: 7 B 432/04

Befreiung; Belastungsgrenze; Darlehen; Hilfe zum Lebensunterhalt; Nachranggrundsatz; Praxisgebühr; Sozialhilfe; Zuzahlung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
28.01.2004
Aktenzeichen
7 B 432/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50917
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG - 02.02.2004 - AZ: 4 ME 54/04

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1

Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO mit Beschluss vom 28.01.2004 zur Entscheidung übertragen hat.

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Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,

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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zuzahlungen für Arzneimittel zu übernehmen,

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ist zulässig, jedoch unbegründet.

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Eine einstweilige Anordnung kann das Gericht gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur vorläufigen Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses dann erlassen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass der geltend gemachte Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin besteht und ohne eine vorläufige Regelung wesentliche, in § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO näher beschriebene Nachteile zu entstehen drohen (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO iVm § 920 Abs. 2 ZPO).

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Im vorliegenden Fall ist es dem Antragsteller nicht gelungen, einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO

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Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Übernahme der Zuzahlungen nach dem SGB V im Wege einer einmaligen Beihilfe. Ein Anspruch auf gesonderte Übernahme der Zuzahlungen durch Gewährung einer einmaligen Beihilfe besteht nur insoweit, als der Bedarf nicht ein Regelbedarf ist und deshalb nicht durch Regelsatzleistungen abgegolten ist. Regelbedarf ist der ohne Besonderheiten des Einzelfalles (§ 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG) bei vielen Hilfeempfängern (zu deren Einteilung in Gruppen vgl. § 2 RegelsatzVO) gleichermaßen bestehende, nicht nur einmalige Bedarf nach § 1 Abs. 1 RegelsatzVO. Die Abgrenzung, was vom Gegenstand und vom Wert her zum Regelbedarf gehört, hat der Normgeber in § 22 BSHG in Verbindung mit § 1 RegelsatzVO festgelegt (BVerwG, Urteil vom 13.12.1990 - 5 C 17.88 -, FEVS 41, 221). Durch Artikel 29 des am 01.01.2004 in Kraft getretenen Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG vom 14.11.2003 <BGBl. I, S. 2190>) hat er in § 1 Abs. 1 Satz 2 der RegelsatzVO die Leistungen für Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe, soweit sie nicht nach den §§ 36 bis 38 des Gesetzes (BSHG) übernommen werden, aufgenommen. Aufgrund der Änderungen des § 38 BSHG durch Artikel 28 des GMG (Streichung des bisherigen zweiten Halbsatzes in Abs. 1 Satz 1 und Aufhebung des bisherigen Abs. 2) werden die Leistungen nicht gesondert übernommen. Damit hat der Gesetzgeber die sog. Praxisgebühr und die Zuzahlungen zu Medikamenten zum Regelbedarf erklärt (so auch schon Einzelrichterin der beschließenden Kammer im Beschluss vom 20.01.2004 - 7 B 224/04 -; sowie Beschluss vom 15.01.2004 - 7 B 59/04 -). Die entgegengesetzte Ansicht des Verwaltungsgerichts Braunschweig (Beschluss vom 14.01.2004 - 4 B 64/04 -) überzeugt nicht. Zwar ist es richtig, dass die Regelsätze seit 01.01.2004 bisher nicht erhöht wurden. Dem Gesetzgeber ist es jedoch unbenommen, auch ohne Erhöhung der Regelsätze Empfängern von Sozialhilfe zusätzlich den Eigenanteil für Medikamente und sonstige Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze aufzubürden. Schließlich wird dies auch allen anderen, insbesondere den Beziehern von kleinen Einkommen knapp über dem Sozialhilfebedarf zugemutet, ohne dass sich deren Einkommen entsprechend erhöht haben.

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Letztendlich bestreitet der Antragsteller auch gar nicht seine Verpflichtung, die nach dem SGB V vorgesehenen Zuzahlungen selbst zu übernehmen. Er geht - jedenfalls in der ursprünglichen Antragsschrift - nur rechtsfehlerhaft davon aus, dass die Belastungsgrenze in jeden Monat entsprechend dem monatlichen Regelsatz anzusetzen ist, mithin - bei chronischer Erkrankung - pro Monat lediglich 2,96 € (1 Vh. des Regelsatzes von 296 €) als Eigenanteil zu übernehmen sei.

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Die Bemessung der Belastungsgrenze wird nach § 62 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 5 Nr. 1 SGB V aber auf das Jahreseinkommen berechnet. Bei einem derzeitigen Regelsatz für einen Haushaltsvorstand iHv. 296 € ist die Belastungsgrenze nach alledem vom Jahresbetrag iHv. 3552 € zu berechnen. Die "normale" Belastungsgrenze von 2 v.H. ist mithin erst bei einem Zuzahlungsbetrag von 71,04 € erreicht, bei einer chronischen Erkrankung (1 v.H.) allerdings bereits bei einem Betrag von 35,52 €. Es kann durchaus sein, dass bei schweren Erkrankungen die Belastungsgrenze bereits im Laufe des ersten Monats eines Jahres erreicht wird. Dann aber braucht für den Rest des Jahres keine Zuzahlungen mehr geleistet werden.

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Gleichwohl kommen - insbesondere bei Ansatz der normalen Belastungsgrenze von 71,04 € - dann erhebliche Belastungen auf einen Hilfeempfänger zu, wenn dieser Betrag auf einmal oder innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes anfällt. In diesem Fall müsste wohl nach § 15a BSHG der Träger der Sozialhilfe einen Teil der Zuzahlungen kurzfristig als Darlehen übernehmen (vgl. insoweit schon die Begründung zu Artikel 28 Buchstabe c des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - BT-Drs. 15/1525 S. 167).

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Im vorliegenden Fall kommt indes eine vorläufige Übernahme der weiteren Zuzahlungen nicht - auch nicht als Darlehen - in Betracht. Denn Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann, insbesondere wer die erforderliche Hilfe von Trägern anderer Sozialleistungen erhalten kann, § 2 Abs. 1 BSHG.

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Der Antragsteller hat ausweislich der von ihm vorgelegten Quittungen bereits Zuzahlungen in Höhe von 47,50 € geleistet. Da er nach seiner eigenen Darstellung jedoch chronisch erkrankt ist, hatte er die Belastungsgrenze bereits bei einem Betrag von 35,52 € erreicht. Seine Krankenkasse hat ihn nun von der Zuzahlungspflicht zu befreien, so dass er keine weiteren Zuzahlungen mehr in diesem Jahr leisten muss, für die der Träger der Sozialhilfe ggf. in Vorleistung treten müsste.

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Nach dem aktuellen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 SGB V gilt ein Patient dann als chronisch krank, wenn er wenigstens ein Jahr lang mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und bei ihm zusätzlich eines der folgenden Merkmale zutrifft:

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Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 2 oder 3 nach den Bestimmungen der gesetzlichen Pflegeversicherung

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Ein Grad von mindestens 60 Prozent Schwerbehinderung oder mindestens 60 Prozent Erwerbsminderung

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Nach ärztlicher Einschätzung ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich, ohne die aufgrund der ständig behandlungsbedürftigen Gesundheitsstörung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität zu erwarten ist.

17

Laut dem vom Antragsteller vorgelegten ärztlichen Attest des Dr. Dirk S. vom 27.01.2004 befindet sich der Antragsteller in Dauerbehandlung. Ob der Antragsteller pflegebedürftig iSd der Pflegstufe 2 oder höher ist, ist unbekannt. Die Art der Erkrankungen des Antragsteller sprechen aber dafür, dass der dritte Punkt - Erfordernis einer kontinuierlichen medizinischen Versorgung - vorliegen dürfte. Letztendlich bedarf dies hier keine abschließenden Klärung. Denn wie sich aus dem vorgelegten Bescheid über die Hilfe zum Lebensunterhalt ergibt, ist der Antragsteller voll erwerbsgemindert.

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Der krankenversicherte Antragsteller muss sich im Wege der Selbsthilfe an seine Krankenkasse wenden und dort eine Befreiung von weiteren Zuzahlungen erreichen, weil er die Belastungsgrenze erreicht hat. Ein Eilrechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte ist dabei auch nicht in Hinblick auf einen effektiven Rechtsschutz (vgl Art. 19 Abs. 4 GG) und eine schnelle Hilfe geboten. Denn der Antragsteller kann auch bei den Sozialgerichten gem. § 86b Abs. 2 SGG um vorläufigen Eilrechtsschutz nachzusuchen. Es obliegt ihm, diese Möglichkeit zu nutzen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß §§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO war abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, wie sich aus den vorstehenden Entscheidungsgründen ergibt.