Landgericht Lüneburg
Urt. v. 15.02.2021, Az.: 27 Ks 1501 Js 29550/20 (11/20)

Bibliographie

Gericht
LG Lüneburg
Datum
15.02.2021
Aktenzeichen
27 Ks 1501 Js 29550/20 (11/20)
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 72077
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In der Strafsache
gegen
XXX,
geboren 1998 in AA,
zurzeit Justizvollzugsanstalt V.,
wegen Mordes
hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg als Schwurgericht in der öffentlichen Sitzung vom 15.02.2021, an der teilgenommen haben
Vorsitzender Richter am Landgericht A.
als Vorsitzender
Richter am Landgericht B.
Richter am Landgericht C.
als beisitzende Richter
Herr D.
Herr E.
als Schöffen
Erste Staatsanwältin F.
als Beamtin der Staatsanwaltschaft
Rechtsanwalt G.
als Verteidiger
Justizangestellte H.
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Angeklagte ist des Totschlags schuldig.

Sie wird zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt.

Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.

Die zur Tatzeit 21-jährige Angeklagte wuchs XXX bei ihren Eltern auf. Im Jahre 2018 machte sie Abitur und begann im Februar 2019 eine Ausbildung zur Kauffrau für XXX. Im September 2019 brachte sie ein Kind zur Welt, dessen Tötung Gegenstand dieses Verfahrens ist.

Die Angeklagte ist nicht vorbestraft. Sie wurde am 27.08.2020 vorläufig festgenommen und befand sich vom 28.08.2020 - aufgrund des Haftbefehl des Amtsgerichts L. vom selben Tag (Az. 15 Gs 1584/20) - bis zum 15.02.2021 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Ende XXX gebar sie während der Untersuchungshaft erneut einen Sohn.

II.

Die Angeklagte wurde im Dezember 2018 von einem Bekannten ungewollt schwanger, ohne die Schwangerschaft in der Folge zu realisieren. Vorbereitungen für die Geburt und die Versorgung ihres Kindes bzw. dessen Freigabe zur Adoption o.ä. traf sie nicht. Wenn Freunde sie darauf ansprachen, dass sie schwanger aussehe, erklärte sie, sie habe nur zu viel Schokolade gegessen. Einer Freundin, der Zeugin AAA, gegenüber äußerte sie, sie könne gar nicht schwanger werden, weil sie so viel rauche und Alkohol trinke.

Am 17. oder 18.09.2019 brachte sie im Haus ihrer Eltern in BB auf der Toilette im Obergeschoss ein vollständig entwickeltes, lebendes, männliches Kind zur Welt. Die Angeklagte war mit der Situation, namentlich der für sie völlig überraschenden Geburt, dem emotionalen Stress, den Schmerzen und der hormonellen Umstellung, überfordert. Für sie war das Neugeborene das ihre Überforderung auslösende Element, und um diese Überforderung zu beseitigen, entschied sie sich dafür, das Kind zu töten. In Ausführung dieses Entschlusses durchtrennte sie die Nabelschnur und ergriff mit beiden Händen den Hals des Kindes, um es zu töten. Nachdem sie das Kind eine Zeit lang gewürgt hatte, drückte sie ihm ein Handtuch auf das Gesicht, um in fortdauernder Tötungsabsicht dessen Atemwege zu blockieren. Das Kind starb infolge dieser Behandlung an Sauerstoffmangel. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der Angeklagten bei Begehung der Tat eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Sinne von § 20 StGB vorlag, aufgrund derer ihre Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war.

Nach der Tat entsorgte die Angeklagte den Mutterkuchen in der Toilette, wickelte das tote Neugeborene in Handtücher und legte es in einen blauen Müllsack aus Plastik. Den Müllsack steckte sie in einen weiteren Müllsack gleichen Typs, den sie mit einem Knoten verschloss. Wo sie den Müllsack mit dem Leichnam anschließend verwahrte, konnte nicht sicher festgestellt werden. Gefunden wurde er am 25.08.2020, also rund 11 Monate nach der Tat, auf dem Grundstück, wo die Angeklagte mit ihren Eltern und ihrem Bruder weiterhin wohnte. Der Sack war an einem Gartenhaus abgestellt. Der Zeuge BBB, der das Gartenhaus streichen wollte, entdeckte den Sack und öffnete ihn in Anwesenheit der Mutter der Angeklagten. Dabei entdeckten sie den Leichnam des Kindes und informierten die Polizei.

Am 27.08.2020 holten die Zeugen KHK'in I. und KHK J. die Angeklagte an ihrem Ausbildungsplatz ab. Nachdem sie die Angeklagte als Beschuldigte belehrt hatten, fuhren sie mit ihr zur Rechtsmedizin des Universitätsklinikums H.-E., wo sie auf ermittlungsrichterliche Anordnung hin untersucht werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt ging die Polizei davon aus, dass die Geburt und die Tötung des Säuglings durch die Angeklagte erst wenige Tage zurückliegen würden. Dieser Verdacht sollte durch die rechtsmedizinische Untersuchung geklärt werden. Auf der Fahrt erklärte die Angeklagte spontan, dass ihr aktueller Freund, der Zeuge BBB, nicht der Vater des tot aufgefundenen Kindes sei und auch sonst "nichts damit zu tun" habe. Vor Beginn der Untersuchung belehrte die Zeugin Frau Prof. Dr. med. K., Fachärztin für Rechtsmedizin, die Angeklagte dahingehend, dass sie ihr gegenüber keinerlei Angaben mache müsse. Dennoch erklärte die Angeklagte im Anschluss an diese Belehrung in Anwesenheit der Zeuginnen KHK'in I. und Dr. med. L., sie habe das zwei Tage zuvor tot aufgefundene Kind bereits im September 2019 im Badezimmer ihres Elternhauses zur Welt gebracht. Das Kind habe "gewimmert", sie habe es nicht gestillt. Rund 5 Minuten nach der Geburt habe sie es "erwürgt" bzw. "erstickt". Die Zeugin Frau Prof. Dr. med. K. holte daraufhin einen Teddybären, an dem die Angeklagte demonstrierte, wie sie erst mit beiden Händen am Hals des Kindes gewürgt und dann ein Handtuch auf dessen Gesicht gedrückt habe. Im weiteren Verlauf der Untersuchung gab die Angeklagte an, erneut schwanger zu sein, was kurz darauf gynäkologisch bestätigt wurde.

III.

1.

Die oben unter I. getroffenen Feststellungen zur Person beruhen auf den Angaben der Angeklagten in der Hauptverhandlung. Dass die Angeklagte bislang unbestraft ist, folgt aus der in der Hauptverhandlung verlesenen Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 23.12.2020.

2.

Die oben unter II. getroffenen Feststellungen zur Sache beruhen auf der Einlassung der Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, sowie den sonstigen in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismitteln.

Die Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung - durch eine Erklärung ihres Verteidigers und ohne Fragen zu beantworten - im Wesentlichen wie folgt eingelassen: Sie sei die Mutter des im August 2020 im Garten ihrer Eltern aufgefunden Säuglings. Die Schwangerschaft habe sie "nicht realisiert". Bis in den Sommer 2019 hinein habe sie unregelmäßig ihre Regelblutung gehabt, bei einem Frauenarzt sei sie bis zu ihrer Festnahme nie gewesen Eines Nachts habe sie starke Schmerzen bekommen. Auf der Toilette im Obergeschoss des Wohnhauses ihrer Eltern sei ein Kind aus ihr herausgekommen. Die Toilette sei voller Blut gewesen, das Kind habe an der Nabelschnur gehangen und sich "leblos" angefühlt. Es habe sich nicht bewegt und keinen Laut von sich gegeben. Sie sei "wie in Trance" gewesen, habe den Körper des Kindes in Handtücher eingewickelt und dann in einem Plastikbeutel in den elterlichen Garten gelegt.

Diese Einlassung ist, soweit sie von den Feststellungen abweicht, widerlegt. Soweit im Folgenden Abbildungen (z.B. Lichtbilder) erwähnt werden, wurden diese in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Wegen der Einzelheiten wird gemäß § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf die Abbildungen verwiesen. Im Einzelnen:

Die Feststellungen zur Auffindesituation am 25.08.2020 beruhen auf den Angaben des Zeugen BBB. Die Müllsäcke und die Handtücher, in die der Leichnam verpackt war, sowie der Leichnam selbst (zwischen dem roten Handtuch und dem Gartenhaus liegend) sind auf Bild 14 in Bd. I, Trennblatt 3 "Tatort XXX", Bl. 8 dokumentiert.

Dass es sich bei dem toten Säugling um das Kind der Angeklagten handelte, hat eine molekulargenetische Untersuchung bestätigt. Die Sachverständige Dr. rer. nat. M. vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums H.-E. hat diesbezüglich im Wesentlichen ausgeführt, sie habe das Erbgut der Angeklagten und des toten Säuglings in 16 DNA-Systemen untersucht. Die Angeklagte und der tote Säugling hätten in jedem der untersuchten DNA-Systeme mindestens ein gemeinsames DNA-Merkmal aufgewiesen. Daraus ergebe sich eine "Mutterschaftswahrscheinlichkeit" von 99, 9999%, d.h. die Mutterschaft sei aus sachverständiger Sicht "praktisch erwiesen". Mit derselben rechnerischen Wahrscheinlichkeit ist nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. N. vom Landeskriminalamt Niedersachsen die Vaterschaft von CCC durch eine DNA-Untersuchung erwiesen. Bei dieser Untersuchung, so der Sachverständige, seien ebenfalls 16 DNA-Systeme und zusätzlich weitere 23 y-chromosomale DNA-Systeme untersucht worden.

Dass die Angeklagte das Kind nach rund 39-wöchiger Schwangerschaft am 17. oder 18.09.2019 zur Welt brachte, schließt die Kammer aus folgenden Umständen: Anlässlich ihrer rechtsmedizinischen Untersuchung am 27.08.2020 hat die Angeklagte selbst erklärt, das Kind im September 2019 geboren zu haben. Dies haben die Zeuginnen KHK'in I. und Dr. med. L. bekundet. Zuvor war sie nach Angaben der Zeugen KHK'in I. und KHK J. an ihrer Arbeitsstelle über ihre Rechte als Beschuldigte in einem Strafverfahren belehrt worden und im rechtsmedizinischen Institut von der Zeugin Prof. Dr. med. K. nochmals darauf hingewiesen worden, dass sie keine Angaben machen müsse. Zu den damaligen Angaben der Angeklagten passen die in der Hauptverhandlung verlesenen Nachrichten aus dem Sonderheft "Auswertung Chatverlauf CCC". Aus ihnen folgt, dass die Angeklagte und CCC im Dezember 2018 an mindestens zwei Tagen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Auf Bl. 373 finden sich eine Nachricht des CCC ("Du bist aber auch echt locker, was deine Pille angeht so vonwrgen ohne Kondom oder so") und die Antwort der Angeklagten ("Hab bis eben auch noch geschlafen Eigentlich wäre mit ja auch besser, aber du hattest ja auch keins") vom 21.12.2018. Auf Bl. 401 ist eine weitere Nachricht des CCC vom 23.12.2018 dokumentiert ("Und schon wieder ohne gummi"). Für die Kammer folgt daraus, dass das Kind in der zweiten Dezemberhälfte 2018 gezeugt und rund 39 Wochen später, also am 17. oder 18.09.2019, geboren wurde. Dafür spricht auch die in der Hauptverhandlung verlesene ärztliche Bescheinigung vom 18.09.2019 (Bd. I, Trennblatt 5, Abschnitt "Vernehmungen", Bl. 34), ausweislich derer die Angeklagte am 17. und 18.09.2019 - nach Überzeugung der Kammer infolge der Geburt - arbeitsunfähig war. Diese terminliche Eingrenzung wird gestützt durch die Aussagen der Zeugen AAA, DDD, EEE und FFF, denen zufolge die Angeklagte bis in den September 2019 hinein schwanger aussah und Ende Oktober bzw. Anfang November 2019 wieder deutlich schlanker war. Die Zeugin AAA hat erklärt, sie habe die Angeklagte Anfang August 2019 anlässlich einer Wohnungseinweihung gesehen und für schwanger gehalten. Sie habe die Angeklagte darauf angesprochen und ihr Unterstützung angeboten. Diese habe jedoch bestritten, schwanger zu sein ("Sie sagte, sie raucht und trinkt so viel, da wird schon nichts passieren in Bezug auf eine Schwangerschaft."). Im September 2019 habe sie, so die Zeugin, die Angeklagte anlässlich eines Erntedankfestes erneut getroffen und für schwanger gehalten ("Da war XXX in dem gleichen dicken Zustand."). Die Zeuginnen DDD und EEE haben angegeben, sie hätten die Angeklagte am 31.08.2019 anlässlich des sog. "Bierkastenlaufs" in CC gesehen. Zu diesem Zeitpunkt habe die Angeklagte schwanger ausgesehen, was ihnen besonders aufgefallen bzw. aufgestoßen und in Erinnerung geblieben sei, weil sie trotzdem geraucht und Bier getrunken habe. Eine Freundin von ihr, so die Zeugin DDD, habe die Angeklagte auf diesen Umstand angesprochen, aber die Angeklagte habe erklärt, nicht schwanger zu sein. Ihr großer Bauch komme vom Essen. Der Zeuge FFF hat glaubhaft bekundet, die Angeklagte ebenfalls anlässlich des Bierkastenlaufs gesehen und für schwanger gehalten zu haben. Rund zwei Wochen später, also Mitte September 2019, habe er sie erneut getroffen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie sogar "hochschwanger" ausgesehen. Bei einem weiteren Treffen Ende Oktober 2019 sei von einem Schwangerschaftsbauch hingegen nichts mehr zu sehen gewesen. Auch die Zeugin DDD hat bekundet, dass die Angeklagte im November 2019 auf einer Geburtstagsfeier wieder schlank gewesen sei. Schließlich steht auch das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams dem festgestellten Geburtszeitraum nicht entgegen. Der Sachverständige Prof. Dr. med. O. hat diesbezüglich ausgeführt, dass der Todeszeitpunkt aus rechtsmedizinscher Sicht nicht sicher zu beurteilen sei. Der Leichnam sei deutlich verwest gewesen, so dass sich u.a. das Gehirn bereits verflüssigt habe. Er gehe deshalb von einer mindestens mehrwöchigen, möglicherweise auch mehrmonatigen Lagerung des Leichnams aus. Mehr als diese grobe Eingrenzung sei nicht möglich, weil bereits unklar sei, ob der Leichnam die ganze Zeit über am Gartenhaus gestanden habe oder ob er zumindest zeitweise gekühlt worden sei. Aufgrund der Lagerung in Plastikmüllsäcken sei der Leichnam nicht von Insekten besiedelt worden, so dass deren Art, Zahl und Enzwicklungsstadium zur Todeszeitbestimmung - anders als bei einer offenen Lagerung - nicht herangezogen werden könne. Außerdem sei es durch die Müllsäcke zu einem weitgehenden Luftabschluss gekommen, was sauerstoffabhängige Zersetzungsprozesse verlangsamt haben könne, so dass auch aus dem Grad der Verwesung keine genaueren Schlüsse gezogen werden könnten.

Dass das Kind lebend geboren wurde, folgt für die Kammer aus den Angaben der Angeklagten anlässlich ihrer Untersuchung in der Rechtsmedizin am 27.08.2020. Von einer Totgeburt sei, so die Zeuginnen Prof. Dr. med. K., Dr. med. L. und KHK'in I. übereinstimmend, zu keinem Zeitpunkt die Rede gewesen. Die Angeklagte habe stattdessen berichtet, dass das Kind "gewimmert" habe, so die Zeugin Dr. med. L. Dazu passend hat der Sachverständige Prof. Dr. med. O. ausgeführt, dass er bei der Obduktion keinerlei Hinweise auf Entwicklungs- oder Geburtsfehler entdeckt habe, die auf eine Totgeburt hindeuten würden. Die Ein- und Ausflussverhältnisse des Herzens seien normal gewesen. Die üblichen "Schwimmtests" von Lunge und Magen habe er aufgrund des fortgeschrittenen Verwesungszustands des Leichnams nicht durchführen können, die Körpermaße hätten jedoch einem normal entwickelten, reifen und lebensfähigen Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von bis zu 3 Kilogramm entsprochen.

Dass die Angeklagte das Kind kurz nach der Geburt vorsätzlich getötet hat, folgt ebenfalls aus ihren Angaben gegenüber den Zeuginnen Prof. Dr. med. K., Dr. med. L. und KHK'in I. Diese haben übereinstimmend bekundet, dass die Angeklagte ihnen gegenüber erklärt habe, ihr Kind im elterlichen Haus zur Welt gebracht und kurz nach der Geburt getötet zu haben. Dies habe sie, so die Zeuginnen Dr. med. L. und KHK'in I., anschließend wie festgestellt an einem Teddy demonstriert, den die Zeugin Prof. Dr. med. K. zu diesem Zweck geholt habe. Den Mutterkuchen habe sie in der Toilette entsorgt und den Leichnam in Handtücher gewickelt und in Mülltüten verpackt. Die Kammer hat keine Bedenken, diese geständigen Angaben ihren Feststellungen zugrunde zu legen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Angeklagte zu Unrecht der Tat bezichtigt hätte, bestehen nicht. Die Angaben der Angeklagten sind insoweit auch ohne Einschränkungen verwertbar. Sie war zuvor, nämlich bei der Abholung an ihrem Ausbildungsplatz, durch die Zeugin KHK'in I. als Beschuldigte vollständig über ihre Rechte, insbesondere ihr Schweigerecht, belehrt worden. Eine Beschuldigtenvernehmung war zu diesem Zeitpunkt auch nicht vorgesehen, der Auftrag der Polizeibeamten beschränkte sich vielmehr auf den Transport der Angeklagten zur Rechtsmedizin H. Dies haben die Zeugen KHK'in I. und KHK J. übereinstimmend bekundet. Vor der anschließenden rechtsmedizinischen Untersuchung wurde sie von der Zeugin Prof. Dr. med. K. nach deren Bekundungen nochmals darauf hingewiesen, dass sie keinerlei Angaben machen müsse. Auch das Obduktionsergebnis lässt sich mit einem Tod durch Erwürgen bzw. Ersticken in Einklang bringen. Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. med. O. ausgeführt, er habe weder knöcherne Verletzungen noch Organverletzungen gefunden, die auf eine andere Todesursache hindeuten würden, so dass die Angaben der Angeklagten durchaus plausibel seien. Sog. Petechien, also Einblutungen in die Mundschleimheut oder die Augenbindehäute, habe er zwar nicht feststellen können, dies sei jedoch dem Zustand des Leichnams geschuldet und schließe einen Tod durch Erwürgen bzw. Ersticken keineswegs aus.

Zum psychischen Zustand und zur Schuldfähigkeit der Angeklagten bei Tatbegehung hat der psychiatrische Sachverständige Dr. med. P., Facharzt für Psychiatrie, im Wesentlichen ausgeführt: Die Angeklagte habe sich von ihm nicht untersuchen lassen. Ausgehend vom Ergebnis der Beweisaufnahme seien eine Reihe "typischer" Motivationen für Kindstötungen sicher auszuschließen, z.B. das Vorliegen einer psychischen Erkrankung bei der Angeklagten, der Versuch eines erweiterten Suizides, eine Tat zur Verdeckung vorangegangener Kindesmisshandlungen, eine anhaltende Überforderung oder der Wunsch nach Rache am Kindsvater. Aus sachverständiger Sicht anzunehmen sei hingegen eine sog. "negierte" bzw. "abgewehrte" Schwangerschaft, also die unzutreffende subjektive Gewissheit, nicht schwanger zu sein. Statistisch bleibe eine von 2500 Schwangerschaften bis zur Geburt unbemerkt. Im vorliegenden Fall spreche das von den Zeuginnen AAA, DDD und EEE beschriebene Verhalten der Angeklagten in den Wochen vor der Geburt, namentlich das ausdrückliche Bestreiten der Schwangerschaft und der anhaltende Konsum von Alkohol und Nikotin, dafür, dass sie die Schwangerschaft tatsächlich nicht realisiert habe. Eine "negierte" Schwangerschaft trete zumeist bei jungen Frauen mit unreifer Persönlichkeit und Defiziten in den Bereichen Kommunikation und Problemlösung auf. Dies treffe nach der Beschreibung der Zeuginnen AAA und EEE auf die Angeklagte zu. Die Zeugin AAA hat bekundet, bis 2018 eng mit der Angeklagten befreundet gewesen zu sein. Sie habe die Angeklagte als teilweise naiv empfunden, insbesondere was das Thema Verhütung angeht ("Sie nahm halt nicht die Pille. Sie sagte, sie raucht und trinkt so viel, da wird schon nichts passieren in Bezug auf eine Schwangerschaft."). Auch habe die Angeklagte nach Abschluss der Schule in ihrer Entwicklung "keinen Schritt nach vorne gemacht", sondern sei bestimmten Vorlieben ("schlafen, Typen, feiern, saufen") verhaftet geblieben. Ihrem Eindruck nach sei dies ein "Verdrängungsmodus" gewesen, in den die Angeklagte sich begeben habe, wenn sie sich gestresst gefühlt habe. Die Angeklagte sei auch in Alltagssituationen schnell überfordert gewesen. So sei sie "mit der Haushaltsführung komplett überlastet" und in Tränen aufgelöst gewesen, als ihre Mutter für einige Tage abwesend gewesen sei. Auch die Zeugin EEE, eine weitere Freundin der Angeklagten, hat diese als zurückhaltende Persönlichkeit beschreiben, die normalerweise nicht über persönliche Probleme gesprochen, sondern sich nur unter dem Einfluss von Alkohol gelegentlich ein Stück weit geöffnet habe. Dazu passend hat der Zeuge BBB erklärt, dass er von der erneuten Schwangerschaft der Angeklagten und seiner Vaterschaft nicht etwa von ihr, sondern aus der Presse erfahren habe. Durch die für sie überraschende Geburt, so der Sachverständige Dr. med. P. weiter, sei die Angeklagte in einen emotionalen Stresszustand geraten, der zusammen mit den Schmerzen der Geburt, der hormonellen Umstellung und einer "tiefen Ratlosigkeit" zu einer hochgradigen Überforderung geführt habe. In diesem labilen Zustand, der nicht ausschließbar - von den Auswirkungen her einem "Affektsturm" vergleichbar - die Qualität einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne von § 20 StGB erreicht habe, habe sie zwar gewusst, dass sie das Kind nicht töten durfte, jedoch gleichwohl dem Tötungsimpuls (im Sinne von "Das Kind muss weg!") nachgegeben. Für sie sei das Neugeborene das ihre Überforderung auslösende Element gewesen, und um diese Überforderung zu beseitigen, habe sie sich dafür entschieden, das Kind zu töten. Infolge der hochgradigen Überforderung sei ihre Steuerungsfähigkeit (Hemmungsfähigkeit) höchstwahrscheinlich erheblich vermindert gewesen. Anhaltspunkte für eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit hätten sich aus sachverständiger Sicht nicht ergeben.

Die Kammer schließt sich den Ausführungen des Sachverständigen nach eigener kritischer Würdigung an mit der Maßgabe, dass ihr die Prüfung der Schuldfähigkeit der Angeklagten in eigener Verantwortung obliegt. Mit dem Sachverständigen geht sie von einer negierten Schwangerschaft aus. Hierfür spricht, dass die Angeklagte selbst im Zustand fortgeschrittener Schwangerschaft ihre Lebensführung in keiner Weise verändert und sämtliche Hinweise auf bzw. Fragen nach einer Schwangerschaft gleichsam "in den Wind geschlagen" hat. Dass die Angeklagte weiterhin geraucht und getrunken hat, wertet die Kammer als Ausdruck der subjektiven Gewissheit, nicht schwanger zu sein. Denn die schädlichen Wirkungen von Alkohol und Nikotin auf ein im Mutterleib heranwachsendes Kind sind allgemein bekannt, und es haben sich keine Hinweise dafür ergeben, dass die Angeklagte dies verkannt haben könnte oder dass ihr die möglichen schweren Folgen für ihr Kind infolge eines Mangels an Empathie oder Verantwortungsbewusstsein egal gewesen wären. Das Vorgehen der Angeklagten nach der Tat (Verpacken des Leichnams in Handtücher und Müllsäcke, Entsorgen des Mutterkuchens in der Toilette) wirkt situationsadäquat und umsichtig, Hinweise auf eine schwere seelische Erschütterung fehlen. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie während des engsten Tatgeschehens infolge eines hochgradigen Überforderungserlebens im Zustand einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne von § 20 StGB befand, aufgrund derer ihre Schuldfähigkeit zwar nicht aufgehoben, jedoch im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war.

IV.

Nach den Feststellungen hat sich die Angeklagte des Totschlags (§ 212 StGB) schuldig gemacht, indem sie ihr neugeborenes Kind absichtlich tötete. Dass sie dabei aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB gehandelt hätte, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ohne Verantwortung für das Kind und die sich daraus ergebenen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit bei der Tötung eine - wenn auch nur untergeordnete - Rolle gespielt hat. Bewusstseinsdominant und damit ausschlaggebend für den Tötungsentschluss war demgegenüber jedoch das Gefühl von Hilfslosigkeit und Überforderung unmittelbar nach der unerwarteten Niederkunft (s.o.), das nicht als "sittlich auf tiefster Stufe stehend" einzuordnen ist.

V.

Die Strafe ist nicht dem Regelstrafrahmen des § 212, sondern dem Strafrahmen des § 213 StGB zu entnehmen, der eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren vorsieht. Es liegt ein unbenannter (sonstiger) minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB vor. Entscheidend für die Bewertung als minder schwerer Fall ist, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des gemilderten Strafrahmens geboten erscheint. So liegt der Fall hier. Zugunsten der Angeklagten ist zu berücksichtigen, dass sie unbestraft und geständig ist. Hinzu kommt, dass sie in der Hauptverhandlung durchgängig einen emotional betroffenen, zeitweise aufgewühlten Eindruck machte und sich in ihrem letzten Wort für die Tat entschuldigte. Die Kammer versteht dieses Verhalten insgesamt als Ausdruck von echter Reue und ernsthafter Verantwortungsübernahme. Zudem ist die Angeklagte aufgrund ihre Alters, vor allem aber aufgrund des Umstands, dass sie Mutter eines XXX Säuglings ist, besonders haftempfindlich. Angesichts der überragenden Bedeutung, die dem Rechtsgut Leben zukommt, rechtfertigen diese Umstände für sich genommen indes noch nicht die Annahme eines minder schweren Falles. Erst durch das Hinzutreten der psychischen Ausnahmesituation unmittelbar nach der Geburt, die nicht ausschließbar zu einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB geführt hat, kann das Tatgeschehen in der gebotenen Gesamtschau als minder schwerer Fall gewertet werden.

Unter erneuter Abwägung aller für und gegen die Angeklagte sprechenden Umstände ist eine

Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten

tat- und schuldangemessen.

VI.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 465 Abs. 1 StPO.