Landgericht Lüneburg
Urt. v. 01.11.2021, Az.: 27 Ks 1501 Js 16202/20 (12/20)

Bibliographie

Gericht
LG Lüneburg
Datum
01.11.2021
Aktenzeichen
27 Ks 1501 Js 16202/20 (12/20)
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 72075
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In der Strafsache
gegen
L.B.
geboren am xx.yy.1934 in XX,
wohnhaft Alten- und Pflegeheim YY,
wegen Totschlags
hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg als Schwurgericht in der öffentlichen Sitzung vom 01.11.2021, an der teilgenommen haben
Vorsitzender Richter am Landgericht XXX
als der Vorsitzende
Richterin am Landgericht XXX
Richter am Landgericht XXX
als beisitzende Richter
XXX, XXX als Schöffen
Oberstaatsanwalt XXX
als Beamter der Staatsanwaltschaft
Rechtsanwalt XXX
als Verteidiger
Justizangestellte XXX
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Angeklagte ist des Totschlags schuldig.

Er wird zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

(abgekürzt gem. § 267 Abs. 4 S. 1 StPO)

I.

Der zur Tatzeit 85-jährige Angeklagte ist Rentner, nicht vorbestraft und infolge der hier in Rede stehenden Tat verwitwet. Seine zur Tatzeit 87-jährige Ehefrau A.B., die infolge eines schweren Verkehrsunfalls im Jahre 1977 mit Schädelbasisbruch und nachfolgenden Gleichgewichtsstörungen stark pflegebedürftig war, versorgte er jahrzehntelang fürsorglich und liebevoll.

Beim Angeklagten selbst besteht seit einigen Jahren eine vermutlich vaskulär bedingte demenzielle Entwicklung. Zudem leidet er unter einer Vielzahl somatischer Erkrankungen, insbesondere dem mittlerweile vollständigen Verlust seiner Sehkraft, einer Gehbehinderung und einer ausgeprägten, insulinpflichtigen Diabetes mellitus.

II.

Der Angeklagte und seine Frau bezogen im Jahr 2017 eine Wohneinheit im Alten- und Pflegeheim in YY. Der Gesundheitszustand der beiden verschlechterte sich auch dort zunehmend. Während Frau A.B. anfangs sich noch mit dem Angeklagten und dem Pflegepersonal verständigen, im Rollstuhl sitzen und das Essen selbst zu sich nehmen konnte, lag sie zuletzt nur noch im Bett, konnte sich nicht mehr selbst bewegen und reagierte weder auf Ansprache noch auf sonstige Einflüsse.

Der Angeklagte selbst glaubte, dass seine Frau durch das Pflegepersonal nicht ausreichend bzw. nicht richtig versorgt werde, und geriet mit einigen Pflegekräften immer wieder in Streit darüber, weil er aufgrund jahrzehntelanger Übernahme der Pflegetätigkeit zu wissen meinte, was für seine Frau das Beste wäre. Auch versuchte er trotz seines eigenen körperlichen Verfalls, sich weiter liebevoll um seine Frau zu kümmern. So streichelte er sie regelmäßig, massierte ihre Beine und sang ihr Lieder vor.

In den Wochen vor der Tat verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Angeklagten infolge fortschreitender Demenz und Erblindung jedoch dermaßen, dass er zunehmend Angst bekam, sich gar nicht mehr um seine Frau kümmern zu können. Er fühlte sich in einer ausweglosen Situation. Das Leben seiner Frau kam ihm angesichts deren Dämmerzustands in den Monaten vor der Tat zunehmend sinnlos vor und er glaubte, sie aus langer Verbundenheit und Liebe davon erlösen zu müssen. Zugleich wollte auch er ohne seine Frau, um die er sich so lange gekümmert hatte, nicht weiterleben. Es reifte in ihm daher der Gedanke, zunächst seine Frau und sodann gleich auch sich umzubringen.

Am frühen Nachmittag des 10.05.2020 entschied der Angeklagte sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er holte aus dem Küchenbereich ein ca. 21 cm langes Küchenmesser, begab sich damit zum Bett seiner Ehefrau, ertastete mit einer Hand eine weiche Stelle an ihrem Hals und stach schließlich mit dem Messer in deren sog. Drosselgrube hinein. Das im Hals seiner Frau steckende Messer bewegte der Angeklagte sodann in verschiedene Richtungen auf und ab, um den Tod möglichst schnell und sicher herbeizuführen. Dies führte bei A.B. u.a. zu stichbedingten Verletzungen der linken Drosselvene, des linken Rippenfells, der Schilddrüse, einer Lungenschlagader links, eines Hauptbronchus links und der linken Lunge. Infolge des damit verbundenen Blutverlustes, Einatmens von Blut sowie stark gestörter Atemfunktion trat ihr Tod sehr rasch ein. Die Getötete setzte sich gegen die Tötungshandlung nicht zur Wehr. Ob dies daran lag, dass sie sich körperlich bedingt nicht wehren konnte oder wollte, ließ sich letztlich nicht feststellen. Aufgefunden wurde sie in liegender Position mit auf dem Bauch verschränkten, nicht blutverschmierten Händen.

Anschließend - noch neben dem Bett seiner soeben getöteten Frau stehend - versuchte der Angeklagte, das Messer entsprechend der bereits zuvor gefassten Suizidabsicht gegen sich selbst einzusetzen. Es gelang dem Angeklagten jedoch aus mehreren Gründen nicht, sich selbst zu töten. Er fügte sich letztlich lediglich eine oberflächliche Schnittverletzung am Hals zu. Dies zum einen weil die Kräfte ihn verließen und zum anderen weil die Pflegerin K.D. - unvorhergesehen früher als sonst üblich - das Zimmer betrat, wodurch der Angeklagte sich in seinem Suizidversuch gestört fühlte. Zu der Zeugin K.D. sagte er: "Sie kommen viel zu früh. Sie kommen doch sonst immer viel später!". Dabei hielt er sich noch immer das Messer an den Hals. Weitere hinzugekommene Pflegekräfte redeten auf den Angeklagten ein, dass er sich nicht umbringen sollte. Der Angeklagte haderte mit sich und der Entscheidung, ob er die begonnene Selbsttötung fortsetzen werde. Wiederholt setzte er sich hin und stand wieder auf. Das Messer ließ er entgegen der Aufforderung nicht los. Dieses wurde ihm erst etwa 20 Minuten später von den herbeigerufenen Polizeibeamten abgenommen.

Bei Begehung der Tat war die (motivationale) Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge der bei ihm bestehenden demenziellen Entwicklung erheblich vermindert. Denn aufgrund der störungstypischen kognitiven Inflexibilität waren seine Gedanken derart verengt, dass er in der von ihm als ausweglos empfunden Lage, keine Alternative zur Tötung seiner Frau sah.

III.

Die Feststellungen zur Person und zur Sache beruhen auf den Angaben des Angeklagten und den sonstigen in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismitteln. Der Angeklagte hat die Tat vollumfänglich gestanden und nachvollziehbare Angaben zu seinen Motiven gemacht.

IV.

Nach den unter II. getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte des Totschlages gemäß § 212 Abs. 1 StGB schuldig gemacht.

V.

Die Strafe ist nicht dem Regelstrafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB, sondern dem Strafrahmen des § 213 StGB zu entnehmen, der eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren vorsieht. Es liegt ein unbenannter (sonstiger) minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB vor. Entscheidend für die Bewertung als minder schwerer Fall ist, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des gemilderten Strafrahmens geboten erscheint. So liegt der Fall hier. Zugunsten des Angeklagten ist zu berücksichtigen, dass er unbestraft und geständig ist. Angesichts seines hohen Alters und körperlichen Verfalls ist er besonders haftempfindlich. Hinzu kommt, dass er die Tötung seiner geliebten und von ihm über Jahrzehnte gepflegten Ehefrau auch bzw. vor allem aus altruistischen Motiven ("sie zu erlösen") begangen hat. Der glaubhaft geplante Suizid nach der Tat zeigt zudem, in welcher psychischen Ausnahmesituation er sich befunden hat. Bereits unter diesen Gesichtspunkten weichen das Tatbild und die Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle des Totschlags in einem solchen Maße ab, dass die Anwendung des Regelstrafrahmens, der eine Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren vorsieht, nicht geboten erscheint.

Des Weiteren hat die Kammer angesichts der erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB vorgenommen, so dass die zu verhängende Strafe letztlich einem Strafrahmen zwischen 3 Monaten bis zu 7 Jahren und 6 Monaten zu entnehmen war.

Unter erneuter Abwägung aller - bereits oben genannten - für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände ist eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren tat- und schuldangemessen.

Die Vollstreckung der Strafe konnte gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden. Dem geständigen, nicht vorbestraften und hochbetagten Angeklagten ist eine günstige Sozialprognose zu stellen. Darüber hinaus liegen besondere Umstände in der Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vor, die auch bei einer solchen Strafe die Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen. Es wird diesbezüglich auf die obigen, auch insoweit heranzuziehenden Ausführungen zur Begründung eines minder schweren Falls verwiesen. Vor diesem Hintergrund gebietet auch die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Strafe nicht.

VI.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 Abs. 1 StPO.