Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 29.05.2003, Az.: 5 W 79/03
Bestimmung neuer Aufgabenkreise eines Betreuers; Einrichtung einer Betreuung zur "Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der Wohnung" ; Erweiterung um die Aufgabenkreise Gesundheitsvorsorge und Wohnungsangelegenheiten; Initiative der Kommune; Zweifel an der Geeignetheit der Betreuungsmaßnahme ; Schleichende Verlagerung öffentlicher Aufgaben ins privatrechtliche Betreuungsverfahren; Pflicht des Gerichts zur kritischen Auseinandersetzung mit fachärztlichen Gutachten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 29.05.2003
- Aktenzeichen
- 5 W 79/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 11271
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2003:0529.5W79.03.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 1896 BGB
- § 1908d Abs. 3 BGB
- § 69i FGG
Fundstellen
- FPR 2004, 264-265
- FamRZ 2004, 1320-1322 (Volltext mit amtl. LS)
- NZM 2004, 198-199
- RPsych (R&P) 2004, 161-162
Amtlicher Leitsatz
- 1)
Aus der Subsidiarität der Betreuung folgt, dass vor einer etwaigen Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers andere Möglichkeiten der Hilfe, insbes. solche der kommunalen Sozialarbeit ausgeschöpft sein müssen;
- 2)
Kann der Betreuer mit dem Aufgabenkreis "Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der Wohnung" eine erneute Vermüllung nicht dauerhaft verhindern, ist eine Erweiterung der Betreuung um die Aufgaben Gesundheitsfürsorge und Wohnungsangelegenheiten kein taugliches Mittel; insoweit kommen vorrangig vielmehr tatsächliche Hilfen nach dem BSHG, ggfs. auch eine öffentlich-rechtliche Unterbringung in Betracht, um das Problem zu bewältigen
In dem Betreuungsverfahren
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 29. Mai 2003 beschlossen:
Tenor:
Auf die weitere Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Aurich vom 10. April 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Verfahrens der weiteren Beschwerde - an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Für die Betroffene wurde erstmals durch Beschluss des Amtsgerichts - Vormundschaftsgericht - Leer vom 18. Juni 1992 eine Betreuung eingerichtet mit dem Aufgabenkreis: "Entmüllung und Entrümpelung der Wohnung, Verhinderung einer erneuten Vermüllung der Wohnung" (Bd. I Bl. 7 d.A.). Nachdem das Landgericht Aurich durch Beschluss vom 14. August 1992 (Bd. I Bl. 21 d.A.) auf die Beschwerde der Betroffenen den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Leer zurückverwiesen hatte, wurde durch Beschluss vom 18. Juli 1997 (Bd. I Bl. 88 d.A.) eine Betreuung eingerichtet mit dem Aufgabenkreis "Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der Wohnung". Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen wies das Landgericht Aurich mit Beschluss vom 4. November 1997 (Bd. I Bl. 148 d.A.) zurück. Mit Schreiben vom 23. Dezember 1999 (Bd. I Bl. 207 d.A.) beantragte der Betreuer S... die Erweiterung des Aufgabenkreises um die Aufgaben Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmungsrecht und Vermögenssorge. Diesen Antrag nahm der Betreuer ausweislich des Vermerks des Richters am Amtsgericht ... vom 20. März 2001 (Bd. II Bl. 27 d.A.) zurück, da die Betreute zurzeit "zurecht" komme. Die Vermüllung der Wohnung sei durch eine Erweiterung des Aufgabenkreises nicht zu verhindern.
Auf Grund des fachärztlichen Gutachtens des sozialpsychiatrischen Dienstes des Landkreises ... vom 23. Dezember 2002 (Bd. II Bl. 33 d.A.) beantragte der Betreuer am 27. Dezember 2002 erneut die Erweiterung des Aufgabenkreises. Mit Beschluss vom 25. März 2003 (Bd. II Bl. 53 d.A.) erweiterte das Amtsgericht Leer daraufhin die Betreuung um die Aufgabenkreise Vorsorge für die Gesundheit und Wohnungsangelegenheiten, während es die Erweiterung um die Aufgabenkreise Vermögenssorge und Aufenthaltsbestimmung ablehnte. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen vom 31. März 2003 wies das Landgericht Aurich mit Beschluss vom 10. April 2003 (Bd. II Bl. 63 d.A.) zurück. Mit Schriftsatz vom 8. Mai 2003 legte die Betroffene gegen den ablehnenden Beschluss des Landgerichts weitere Beschwerde ein (Bd. II Bl. 69 d.A.).
II.
Die gemäß §§ 27, 29 FGG zulässige weitere Beschwerde der Betroffenen ist zulässig und hat auch in der Sache zumindest vorläufigen Erfolg. Die Ausführungen des Landgerichts rechtfertigen die Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers nach den bisherigen Feststellungen nicht. Die Sache ist deshalb an das Landgericht zurückzuverweisen.
Nach § 1908 d Abs. 3 BGB ist der Aufgabenkreis des Betreuers (nur) zu erweitern, wenn dies erforderlich wird. Im Falle einer Erweiterung des Aufgabenkreises gelten die Vorschriften über die Erstbestellung des Betreuers (§§ 1896 BGB, 69 i FGG) entsprechend. Diesen rechtlichen Anforderungen trägt die Entscheidung des Landgerichts nicht ausreichend Rechnung.
a)
Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Notwendigkeit einer Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers nicht. Zwar ist die Auffassung der Betroffenen, sie könne ihre Probleme selbst lösen, wenn sie eine andere Wohnung bekäme, angesichts des langjährigen Verfahrensablaufs und der bereits aus dem Bericht der Stadt ... vom 23. März 1999 nebst Anlage "Sachverhaltsdarstellung ... G..." (Bd. I Bl. 181 d.A.) ersichtlichen häufigen Wohnungswechsel ohne entsprechende Verhaltensänderung offensichtlich unzutreffend. Dennoch wird aus den Feststellungen des Landgerichts bereits nicht deutlich, weshalb - entsprechend der Stellungsnahme des Betreuers S... vom 22. Mai 2003 (Bd. II Bl. 78 d.A.) - "die Vermüllungen .. in den letzten Jahren immer wieder so weit gediehen, dass eine gesundheitliche Gefährdung für die Betreute und die Umgebung festzustellen war." Immerhin besteht seit Juli 1997 durchgehend eine Betreuung für den Aufgabenkreis Entrümpelung der Wohnung. Insofern hätte es zumindest der Feststellung bedurft, warum nicht frühere und in kürzeren Abständen wiederholte Entrümpelungen zu dem gewünschten Erfolg oder zumindest einer erheblichen Verbesserung der Situation hätten führen können. Zwar hat der Sachverständige Dr. L... in seinem Gutachten vom 9. März 2000 (Bd. I Bl. 216 d.A.) ausgeführt, dass sich mit dem bisherigen Aufgabenkreis des Betreuers "Wahrnehmung der Interessen bei der Entmüllung der Wohnung" .. zwar kurzfristig jeweils eine gewisse Besserung der Situation erreichen (ließe), es (könne) dadurch jedoch nicht verhindert werden, dass sich innerhalb relativ kurzer Zeit wieder derselbe Zustand einstellt, der für Frau G... und die Menschen in ihrer Umgebung eine ernsthafte Gefährdung darstellt." Es ist aber nicht ersichtlich, welche Anknüpfungstatsachen diesen Feststellungen zu Grunde liegen und in welchem Umfang bislang Entrümpelungen überhaupt stattgefunden haben. Nach der Aktenlektüre könnte der Eindruck entstehen, derartige Aktionen seien bisher eher verspätet eingeleitet worden, wobei der Senat ausdrücklich darauf hinweist, dass ihm die tatsächliche, medizinische und rechtliche Problematik des vorliegenden Falles durchaus bewusst ist. Aus der Akte ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass nach der Entmüllung vom 28. Juli 1997 weitere Aktionen stattgefunden hätten. Insofern ist nicht recht verständlich, weshalb der Müllberg nach dem fachärztlichen Gutachten vom 23. Dezember 2002 (Bd. II Bl. 33 d.A.) wieder eine Höhe von "1,50 m bis 1,70 m" annehmen konnte.
b)
Die Feststellungen des Landgerichts tragen auch nicht den Umfang der neuen Aufgabenkreise des Betreuers. Nach § 1896 Abs. 2 BGB darf ein Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Der vom Amtsgericht im Beschluss vom 25. März 2003 (Bd. II Bl. 53 d.A.) gewählte Ausdruck "Sorge für die Gesundheit" umfasst den gesamten Bereich der Gesundheitsfürsorge in allen Bereichen der Medizin. Den Gutachten, auf die sich Amts und Landgericht in ihren Beschlüssen vom 25. März und 10. April 2003 beziehen, ist aber nur zu entnehmen, dass die Betroffene (allenfalls) im nervenärztlichen Bereich einer Behandlung bedarf. Feststellungen zu den sonstigen Bereichen der Gesundheitsfürsorge sind nicht getroffen, sodass nach jetzigem Aktenstand auch aus diesem Grund eine Abänderung erfolgen müsste (BayObLG FamRZ 1994, 1059, 1060; 1996, 250(LS); Jürgens (Hrsg.) - Jürgens, Betreuungsrecht, 2. Aufl. § 1896 Rz. 22; Münchener KommentarSchwab, BGB, 4. Aufl. § 1896 Rz. 67; SoergelZimmermann, BGB, 13. Aufl. § 1896 Rz. 55). Soweit das Amts und Landgericht beim Aufgabenkreis "Sorge für die Gesundheit" auch an die im Gutachten Dr. L... vom 9. März 2000 zur Besserung der psychotischen Symptomatik vorgeschlagene psychiatrische Behandlung inklusive psychopharmakologischer Behandlung gedacht haben sollten, ist unklar, unter welchen Bedingungen eine solche Behandlung stattfindet, ob die betreuungsrechtlichen Voraussetzungen dafür (noch) gegeben sind und ob trotz des pauschalen Verweises im fachärztlichen Gutachten L... vom 23. Dezember 2002 eine solche Behandlungsmöglichkeit angesichts des Zeitablaufs und der "inzwischen stark chronifizierten paranoidhalluzinatorischen Psychose" noch besteht.
Den Beschlüssen von Amts und Landgericht lässt sich auch nicht entnehmen, weshalb der Aufgabenkreis des Betreuers um "Wohnungsangelegenheiten" erweitert werden musste. Die Entrümpelung oder "Entmüllung" einer Wohnung kann als Aufgabenkreis eines Betreuers bestimmt werden (BayObLG FamRZ 2002, 348 = R&P 2002, 181). Welche weiteren "Wohnungsangelegenheiten" in Zukunft vom Betreuer geregelt werden sollen, wird weder vom Amts noch vom Landgericht ausgeführt und bleibt bislang unklar.
c)
Bei der Bestimmung neuer Aufgabenkreise des Betreuers ist auch wegen des Gesichtspunkts der Subsidiarität der Betreuung (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB) große Zurückhaltung geboten. Eine Betreuerbestellung ist danach nicht erforderlich, wenn die Angelegenheit durch andere Hilfen ebenso gut besorgt werden kann. Besonders in Fällen der vorliegenden Art ist deshalb zunächst an die originäre Zuständigkeit von Sozial, Gesundheits- und Ordnungsbehörden zu erinnern, bevor die Bestellung eines Betreuers und die Erweiterung seines Aufgabenkreises ins Auge gefasst wird (vgl. Bienwald in Anm. zu LG Freiburg FamRZ 2000, 1322 [LG Freiburg 25.02.2000 - 4 T 349/99]). Die gesetzlich vorgesehene Nachrangigkeit widerspricht einer schleichenden Verlagerung öffentlicher Aufgaben ins privatrechtliche Betreuungsverfahren.
Im vorliegenden Fall hatte das Amtsgericht die wiederholten Versuche der Stadt L... (die sich der Betreuer offensichtlich zu Eigen gemacht hat), die Betreuung zu erweitern, zunächst ,zurückgewiesen', da sich die Vermüllung durch eine Erweiterung des Aufgabenkreises nicht verhindern lasse (vgl. Bd. II Bl. 27 d.A.). Auch im jetzigen Beschwerdeverfahren hat das Amtsgericht die Erweiterung der Betreuung auf die Aufgabenbereiche "Vermögenssorge" und "Aufenthaltsbestimmung" als nicht erforderlich angesehen. Im weiteren Verfahren wird das Landgericht, wenn tatsächliche Hilfen gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 6 BSHG ("Hilfe zur Weiterführung des Haushalts") wegen der ablehnenden Haltung der Betroffenen nicht mehr in Betracht kommen, zu prüfen haben, ob andere Hilfen durch Gesundheits- oder Ordnungsamt in Betracht kommen (vgl. Coeppicus, Sachfragen des Betreuungs- und Unterbringungsrechts, S. 74ff; Bienwald a.a.O.). Zweifel an der Geeignetheit des Betreuungsrechts ergeben sich auch daraus, dass das Betreuungsrecht keine Rechtsgrundlage für den Zutritt des Betreuers zur Wohnung des Betroffenen gegen dessen Willen gibt (BayObLG R&P 2002, 181 = FamRZ 2002, 348; OLG Frankfurt BtPrax 1996, 71 = R&P 1996, 31; Bienwald, Betreuungsrecht, 3. Aufl. § 1896 BGB Rz. 215 "Wohnung, Reinigung, Zutritt, Betreten der"; Marschner/VolckartMarschner, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Aufl. Kapitel C Rz. 27; a.A. LG Freiburg FamRZ 2000, 1316 [LG Freiburg 25.02.2000 - 4 T 349/99]). In Betracht kommt allenfalls eine öffentlichrechtliche Unterbringung, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. BayObLG FamRZ 2001, 365 = R&P 2001, 156 (LS)).
d)
Abschließend sei lediglich darauf hingewiesen, dass sich die Ausführungen von Amts und Landgericht weitgehend in einer unzulässigen Wiedergabe fachärztlicher Gutachten erschöpfen. Der Tatrichter darf das Ergebnis eines Sachverständigengutachtens nicht kritiklos übernehmen. Er ist vielmehr zu einer kritischen Würdigung verpflichtet. Nur auf Grund einer solchen Überprüfung ist das Gericht im Stande, sich - wie geboten - ein eigenes Bild von der Richtigkeit der durch den Sachverständigen gezogenen Schlüsse zu machen (BayObLG R&P 2002, 33). Im vorliegenden Fall haben Amts und Landgericht jedoch nur die zentrale Aussage der Gutachten zitiert, ohne überhaupt eine eigene Würdigung vorzunehmen.
III.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens der weiteren Beschwerde obliegt dem Landgericht (Keidel/Kuntze/WinklerZimmermann, FGG, 15. Aufl. § 13 a Rz. 38ff).