Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 16.06.2016, Az.: 10 B 1562/16

Beißvorfall; Gefahrenverdacht; Gefährlicher Hund; Gefährlichkeitsfeststellung; Hund; Hundehaltung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
16.06.2016
Aktenzeichen
10 B 1562/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43310
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Gefahrenverdacht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 NHundG wird bereits durch glaubhafte Schilderungen der oder des Geschädigten und dokumentierte Bissverletzungen begründet. Einer vollständigen Sachaufklärung hinsichtlich der hypothetischen Möglichkeit, dass die Bissverletzungen später durch einen anderen Hund hervorgerufen worden sind, bedarf es nicht. Der Einwand des Hundehalters, er habe selbst keine sichtbaren Verletzungen wahrgenommen, bleibt daher ohne Erfolg.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die von dem Antragsgegner getroffene Feststellung der Gefährlichkeit der von ihm gehaltenen Labrador-Mischlingshündin „Nina“.

Anlass der Verfügung ist ein Vorfall mit „Nina“ am 17. Oktober 2015, bei dem der Hund in einem Geschäft eine junge Frau verletzt hat. Die Anzeigeerstatterin gab gegenüber der Polizei an, sie habe bei Betreten des Ladens den angeleinten Hund gesehen. Der Antragsteller habe die Leine lose in der Hand gehalten und den Hund nicht eng geführt. Sie sei zunächst problemlos an ihm vorbeigegangen, auf dem Weg hinaus habe sie den Hund wieder passiert, der erst an ihrer Hand geschnuppert und kurz darauf zugeschnappt habe. Der Antragsteller habe sich für die Verletzung zunächst nicht sonderlich interessiert. Die Geschädigte erlitt bei dem Vorfall eine Riss-Quetschwunde am rechten Handrücken und mehrere Kratzer am Mittelfinger. Die Verletzung wurde ärztlich behandelt und dokumentiert. Am 19. Oktober 2015 stellte sich die Geschädigte erneut ärztlich vor, wobei die Wunde weiterhin Entzündungszeichen zeigte.

Nach Abgabe des Vorgangs an den Antragsgegner ordnete dieser vorläufig an, dass der Hund außerhalb ausbruchsicherer Grundstücke nur noch an einer 2 m langen, festen Leine und mit Beißkorb geführt werden dürfe, und hörte den Antragsteller zur Prüfung der Gefährlichkeit des Hundes an. Der Antragsteller wandte sich gegen die vorläufige Verfügung mit Klage und Eilantrag – 10 A 252/16 und 10 B 253/16 –, die er nach Ergehen der angefochtenen Verfügung für erledigt erklärte. Zur Sache führte er aus, dass die Geschädigte versucht habe, seine Hündin im Vorbeigehen am Kopf zu streicheln. Der Hund habe sich lediglich erschreckt und daher in Richtung der Hand der Geschädigten geschnappt. Diese habe sich selbst erschreckt und ihre Hand zurückgezogen. Er habe an der Hand der Geschädigten keine Verletzungen gesehen, sie habe den Laden auch ohne weiteres verlassen. Erst später sei sie zurückgekommen und habe Schmerzensgeld verlangt.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2016 stellte der Antragsgegner die Gefährlichkeit von „Nina“ fest und wies den Antragsteller darauf hin, dass er für die weitere Haltung seines Hundes einer Erlaubnis bedürfe und der Hund ab sofort außerhalb ausbruchsicherer Grundstücke nur mit einem tierschutzgerechten Maulkorb sowie angeleint geführt werden dürften. Aufgrund des Vorfalls am 17. Oktober 2015 sei davon auszugehen, dass der Hund zu gesteigert aggressivem Verhalten gegenüber Personen neige. Er habe in einer alltäglichen Situation, ohne dass die betroffene Person objektiv durch ihr Verhalten dazu beigetragen habe und ohne vorherige Drohgebärden gebissen.

Gegen diese Verfügung hat der Antragsteller am 2. März 2016 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist (10 A 1560/16), und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er hält die Feststellung der Gefährlichkeit für rechtswidrig, weil nicht zweifelsfrei erwiesen sei, dass der Hund die Anzeigeerstatterin tatsächlich gebissen habe. Eine Zeugin habe ihm bestätigt, dass sie unmittelbar nach dem Vorfall keinerlei Verletzungen bei der Betroffenen wahrgenommen habe. Es sei daher nicht erklärbar, wie die Betroffene zu der ärztlich dokumentierten Verletzung gekommen sei. Falls die Verletzung nicht von seinem Hund stamme, sei er auch nicht als gefährlich einzustufen.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 1. Februar 2016 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er verteidigt die angefochtene Verfügung.

II.

Die Entscheidung ergeht durch den Berichterstatter, dem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 3. Mai 2016 gem. § 6 VwGO zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen hat.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

1. Der Antrag ist nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, denn die Klage gegen die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes hat kraft Landesrechts nach § 7 Abs. 1 Satz 3 NHundG keine aufschiebende Wirkung. Auch im Übrigen ist der Antrag zulässig.

2. Der Antrag ist jedoch in der Sache unbegründet.

Die bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Ermessensentscheidung setzt eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen voraus, in die auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache mit einzubeziehen sind. Bei einem nach summarischer Prüfung offensichtlich Erfolg versprechenden Rechtsbehelf überwiegt im Hinblick auf die Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmende Garantie effektiven Rechtsschutzes das Suspensivinteresse des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse, so dass die aufschiebende Wirkung grundsätzlich wiederherzustellen ist. Ergibt eine summarische Einschätzung des Gerichts hingegen, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich erfolglos bleiben wird, ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz unbegründet, denn ein begründetes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung entfällt nicht dadurch, dass der Verwaltungsakt offenbar zu Unrecht angegriffen wird. Dies gilt erst recht dann, wenn ein Rechtsbehelf – wie es hier der Fall ist – schon kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat, denn hiermit bringt der Gesetzgeber klar zum Ausdruck, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dem besonders begründeten Ausnahmefall vorbehalten bleiben soll.

Ausgehend von diesen Abwägungsgrundsätzen überwiegt das öffentliche Interesse das Interesse des Antragstellers, denn bei summarischer Prüfung bleibt die Anfechtungsklage voraussichtlich ohne Erfolg.

Rechtsgrundlage der Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes ist § 7 Abs. 1 des Niedersächsischen Gesetzes über das Halten von Hunden (NHundG). Nach Satz 1 der Vorschrift hat die Behörde Hinweisen auf eine gesteigerte Aggressivität eines Hundes von Amts wegen nachzugehen. Dabei hat der Gesetzgeber mit dem Regelbeispiel in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NHundG zum Ausdruck gebracht, dass bereits das Beißen von Menschen oder Tieren durch einen Hund einen derartigen Hinweis darstellt. Nach Satz 2 hat die Behörde die Gefährlichkeit festzustellen, wenn die Prüfung nach Satz 1 Tatsachen ergibt, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.

Für die Annahme eines solchen Gefahrenverdachts genügt nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts bereits, dass der betroffene Hund ein anderes (Haus-)Tier, insbesondere einen anderen Hund, nicht nur ganz geringfügig verletzt hat. Anderes kann nach dem Sinn und Zweck der Regelung lediglich dann gelten, wenn die Verletzung im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs etwa eines Dienst-, Wach- oder Jagdhundes erfolgte oder es sich bei der Verletzung eines anderen (Haus-)Tieres um ein offensichtlich artgerechtes Abwehrverhalten handelte (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 18.1.2012 – 11 ME 423/11 –, www.dbovg.@niedersachsen.de).

Nach diesem Maßstab rechtfertigen die in dem Verwaltungsvorgang des Antragsgegners enthaltenen Feststellungen zu dem Vorfall am 17. Oktober 2015 die Annahme eines Gefahrenverdachts; gleichzeitig sind die Voraussetzungen der genannten Ausnahme nicht ersichtlich. Der Einwand des Antragstellers, es sei nicht erwiesen, dass sein Hund die Verletzungen bei der Geschädigten hervorgerufen habe, geht an der Sache vorbei. Denn ausreichend ist, wie ausgeführt, bereits der Gefahrenverdacht. Dieser wird hier bereits durch die Schilderungen der Geschädigten und ihrer Mutter sowie durch die dokumentierten Bissverletzungen hinreichend begründet.

Im Übrigen geht das Gericht nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung davon aus, dass der Hund die Geschädigte tatsächlich gebissen und verletzt hat. Die Geschädigte und ihre Mutter haben übereinstimmend bei der Polizei ausgesagt, dass sie den Antragsteller sofort auf die Bissverletzung hingewiesen hätten. Die Mutter der Geschädigten hat darüber hinaus ausgesagt, dass sich der Antragsteller den Hundebiss angesehen habe und gesagt habe „sieht ja schlimm aus“. Der Antragsteller selbst hat vorgetragen, dass er keine Verletzung der Geschädigten wahrgenommen habe, als diese den Laden verlassen habe, sie aber kurze Zeit später zurückgekommen sei und die Verletzung gezeigt habe. Die bloß theoretische Möglichkeit, dass sich die Geschädigte die Verletzung erst in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit zugezogen hat, stellt deren Aussagen nicht unter ernstliche Zweifel. Denn es ist überhaupt kein Grund dafür ersichtlich, dass die Geschädigte den Antragsteller belastet und Anzeige gegen ihn erstattet, wenn tatsächlich ein anderer Hund für die Verletzung verantwortlich war. Die Geschädigte würde sich damit nicht nur dem Risiko einer Strafverfolgung wegen falscher Verdächtigung aussetzen, sondern zugleich die Inanspruchnahme des tatsächlichen Schädigers auf Schadensersatz oder Schmerzensgeldansprüche erschweren oder gar vereiteln.

Davon unabhängig ginge auch dann, wenn man den Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen ansehen wollte, eine reine Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse, vor Gefahren geschützt zu werden, die von einem möglicherweise gefährlichen Hund ausgehen, überwiegt das Interesse des Antragstellers, bis zur endgültigen Entscheidung über die Klage gegen die Feststellung der Gefährlichkeit seines Hundes von den damit verbundenen Beeinträchtigungen verschont zu bleiben. Die mit dem Sofortvollzug verbundenen Beeinträchtigungen, den Hund nur mit Leine und Beißkorb zu führen und nach § 8 NHundG eine Erlaubnis für das Halten des Hundes beantragen, in diesem Zusammenhang den (aktuellen) Nachweis der persönlichen Zuverlässigkeit, Eignung und Sachkunde erbringen zu müssen sowie die Pflicht, den Hund einem Wesenstest zu unterziehen, zu kennzeichnen und seine Versicherung nachzuweisen, sind dem Antragsteller zumutbar, zumal dadurch keine irreversiblen Zustände geschaffen werden.

Nach der vom Gesetzgeber unter Berücksichtigung der gewandelten Anschauung in der Bevölkerung im NHundG getroffenen Risikobewertung ist es einem Hundebesitzer auch generell zumutbar, schon bei einem Gefahrenverdacht seine persönlichen Voraussetzungen nachzuweisen und einen Wesenstest mit dem Hund durchzuführen (so auch VG Osnabrück, Beschluss vom 30.7.2013 – 6 B 44/13 –, n. v.). Kennzeichnung (§ 4 NHundG) und Haftpflichtversicherung (§ 5 NHundG) sind seit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juli 2011 für Hunde, die älter als sechs Monate sind, ohnehin Pflicht des Halters.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwerts folgt aus § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 1, § 39 Abs. 1 GKG und entspricht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 18.1.2012 – a. a. O. –) in Hinblick auf die angefochtene Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes dem Auffangstreitwert, der für das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren ist.