Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 11.07.2007, Az.: L 11 B 3/06 AY

Geltendmachung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG); Vorliegen einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik durch Asylbewerber; Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung durch rechtsmissbräuchliches Verhalten; Folgen einer Identitätstäuschung oder der Abgabe von wissentlich falschen Angaben über die Herkunft in der Vergangenheit; Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
11.07.2007
Aktenzeichen
L 11 B 3/06 AY
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 40397
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0711.L11B3.06AY.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 15.02.2006 - AZ: S 53 AY 5/06 ER

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Rechtsmissbräuchlichkeit i.S.d. § 2 AsylbLG setzt ein subjektiv vorwerfbares, für die Verlängerung des Aufenthalts ursächliches Handeln des Asylbewerbers voraus. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn Ausländer nicht ausreisen, obwohl ihnen dies möglich und zumutbar ist. Verbleiben Unklarheiten und Zweifel, geht dies zu Lasten der Behörde. Die Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens ist eine anspruchsausschließende Einwendung.

  2. 2.

    Für die Leistungseinschränkung nach § 2 AsylbLG muss sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt haben bzw. noch auswirken. Irrelevant ist, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat (sog. "abstrakte Betrachtungsweise").

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 15. Februar 2006 wird aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern ab 13. Januar 2006 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig - und unter dem Vorbehalt der Rückforderung - Leistungen gemäß § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) unter Anrechnung bereits gemäß § 3 AsylbLG gezahlter Beträge zu gewähren.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin E. aus F. für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren bewilligt.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen gemäß § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

2

Die Antragsteller und Eheleute zu 1.) und 2.) sind nach eigenen Angaben im Jahre 1972 in Aserbaidschan geboren. Der Antragsteller zu 3.) ist das Kind der Eheleute. Er wurde im Jahre 1998 in F. geboren. Die Antragsteller zu 1.) und 2.) sind im Jahre 1998 in der Bundesrepublik eingetroffen. Seit 19. Oktober 1998 beziehen sie Leistungen nach §§ 3 - 7 AsylbLG. Der Asylantrag der Antragsteller zu 1.) und 2.) wurde im Dezember 1998 abgelehnt. Das Verwaltungsgericht F. hat diese Entscheidung mit Urteil vom 8. Mai 1992 bestätigt. Seitdem wird der Aufenthalt der Antragsteller fortlaufend geduldet (§ 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz - AufenthG ). Seit 8. Juni 2006 ist der Antragsteller zu 1.) im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Aufenthaltserlaubnis wurde erteilt, da mit Rücksicht auf den gesundheitlichen Zustand des Antragstellers zu 1.) eine Reise- und Transportunfähigkeit vorliegt. Die Aufenthaltserlaubnis war zunächst für ein Jahr befristet. Sie wurde am 31. Mai 2007 verlängert, da auf absehbare Zeit eine Abschiebung oder freiwillige Ausreise mit Rücksicht auf die Transportunfähigkeit und eine hinzugetretene Suizidgefahr nicht möglich ist.

3

Gegen den Leistungsbescheid vom 4. Januar 2005 über die Änderung von laufenden Leistungen nach § 3 AsylbLG haben die Antragsteller Widerspruch eingelegt mit der Begründung, dass ihnen erhöhte Leistungen nach § 2 AsylbLG zustünden. Nach Ermittlungen bei der Ausländerstelle der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Rechtsmissbräuchlichkeit i.S. von § 2 AsylbLG und nach Einholen einer amtsärztlichen Auskunft über den Gesundheitszustand und die Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1.) erging der Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2005. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, dass entsprechend den Auskünften der Ausländerstelle vom August, September und November 2005 die Antragsteller die Umstände zu vertreten hätten, aus denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen bisher nicht möglich gewesen seien. Sie hätten somit die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen seien wegen fehlender Heimreisedokumente nicht möglich. Die Antragsteller zu 1.) und 2.) hätten im Jahre 1998 vor der Anhörung im Asylverfahren und nur einige Tage später in der Anhörung zum Asylverfahren widersprüchliche Angaben gemacht, die allein dem Zweck dienten, die Abschiebung nach Aserbaidschan zu verhindern. Die Antragsteller hätten im Jahre 1998 angegeben, dass ihnen in G. (Aserbaidschan) Reisepässe mit dem Zweck "Tourist" ausgestellt worden seien. Wenige Tage später hätten sie angegeben, bereits im Jahre 1992 aus Aserbaidschan in die russische Föderation ausgereist zu sein. Die Dokumente seien Anfang der 90er Jahre bei einem Überfall von Armeniern in Aserbaidschan verbrannt worden. In der russischen Föderation hätten sich die Antragsteller bis zur Ausreise in das Bundesgebiet aufgehalten. Zudem habe der Antragsteller zu 1.) im Asylverfahren eine nach Auffassung des Verwaltungsgerichts gefälschte Heiratsurkunde seiner Eltern vorgelegt. In den Jahren 2003 und 2004 sei der Antragsteller zu 1.) mehrmals zur Vorlage eines Heimatpasses aufgefordert worden. Der Antragsteller zu 1.) sei dieser Aufforderung aus gesundheitlichen Gründen nicht nachgekommen. Der Antragstellerin zu 2.) sei zuzumuten gewesen, in der aserbaidschanischen Botschaft in H. vorzusprechen. Auch dies sei bisher nicht erfolgt. Die Bemühungen der Ausländerstelle um die Ausstellung von Passersatzpapieren in der Deutschen Botschaft in I. seien bisher erfolglos verlaufen. Dort sei eine Identifizierung der Antragsteller nicht möglich gewesen. Deshalb sei davon auszugehen, dass die Antragsteller dort wissentlich falsche Angaben zur Person gemacht hätten, damit eine Ausstellung von Ausweisen vereitelt werde.

4

Am 13. Januar 2006 haben die Antragsteller Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vor dem Sozialgericht (SG) Hannover gestellt. Zur Begründung haben sie ausgeführt, dass sie sich bereits seit vielen Jahren im Bundesgebiet aufhielten und ihren Aufenthalt nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätten. Die dauerhafte Herabsetzung von Sozialleistungen unterhalb des Sozialhilfeniveaus widerspreche dem Integrationsgedanken des AsylbLG. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass die Antragsteller zu 1.) und 2.) während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet beide schwer erkrankt seien. Der Antragsteller zu 1.) leide an einer schweren psychischen Erkrankung. Die Antragstellerin zu 2.) sei an Brustkrebs erkrankt. Die Ausreise und Abschiebung des Antragstellers zu 1.) sei tatsächlich unmöglich, weil eine Reise- und Transportunfähigkeit aufgrund dieser schweren psychischen Erkrankung vorliege. Bereits deshalb sei der Antragsteller zu 1.) noch nicht einmal in der Lage gewesen, sich in den vergangenen Jahren um die Ausstellung von Passersatzpapieren in der Aserbaidschanischen Botschaft in Berlin zu bemühen. Die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller habe sich bereits mehrfach an die Aserbaidschanische Botschaft gewandt, mit der Bitte Passersatzpapiere auszustellen. Eine Reaktion sei trotz mehrmaliger Erinnerung nicht erfolgt. Die ergebnislosen Nachforschungen der Ausländerstelle bei der Deutschen Botschaft in Baku dürften den Antragstellern auch nicht als rechtsmissbräuchliches Verhalten zugerechnet werden. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Sorgfältigkeit der dort durchgeführten Nachforschungen und daran, ob dort überhaupt Angaben der Antragsteller zu 1.) vorliegen. Die widersprüchlichen Angaben im Asylverfahren könnten den Antragstellern nicht vorgeworfen werden. Die Antragsteller könnten sich nicht erklären, wie es zu der Angabe "1998" in der Rubrik "Ausstellungsdatum im Pass" gekommen sei. Sie selbst hätten das Formular nicht ausgefüllt mangels Sprachkenntnisse. Ein Dolmetscher sei tätig geworden. Bisher sei die fehlende Authentizität der Heiratsurkunde der Eltern nicht bewiesen. Das Verwaltungsgericht habe diese Auffassung vertreten, ohne dass der Nachweis einer Falschurkunde geführt worden sei.

5

Das SG Hannover hat mit Beschluss vom 15. Februar 2006 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Als Begründung hat es ausgeführt, dass die Antragsteller ihren Aufenthalt rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten durch die Vernichtung des Reisepasses und der Angabe einer falschen Identität. Hierfür hat es auf die Gründe des Urteils des Verwaltungsgerichts Hannover vom 8. Mai 2002 (Az: 12 A 8250/98) Bezug genommen. Danach könnten die Antragsteller ihre aserbaidschanische Herkunft nicht belegen. Die Angaben zu ihrer Herkunft seien widersprüchlich und nicht glaubwürdig. Dieses Verhalten ließe darauf schließen, dass sie ihre wahre Identität verschleierten und damit aufenthaltsbeendende Maßnahmen verhindern wollten. Aufgrund dieses rechtsmissbräuchlichen Verhaltens komme es auf den Gesundheitszustand des Antragstellers nicht an.

6

Hiergegen richtet sich die am 22. März 2006 eingelegte Beschwerde, verbunden mit den Antrag, den Antragstellern auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin E. zu gewähren. Die Antragsteller bestreiten, ihre Reisepässe vernichtet und Angaben zu einer falschen Identität gemacht zu haben. Die widersprüchlichen Angaben im Formular zum Antrag im Asylverfahren aus dem Jahre 1998 könnten nicht zu ihren Lasten gehen. Die Antragsteller könnten zwar ihre Identität nicht belegen. Deshalb täuschten sie aber nicht zugleich über ihre Identität. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Hannover stünden dem nicht entgegen, da sich die Einschätzung in erster Linie auf das Fluchtschicksal bezogen habe, das hier nicht relevant sei. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Einschätzung der Echtheit der Heiratsurkunde werde angezweifelt. In der mündlichen Verhandlung sei es in der Tat zu einer Verwechslung des Namens des Großvaters gekommen. Sämtliche Ausweispapiere der Antragsteller seien bei dem Überfall Anfang der 90er Jahre vernichtet worden. Durch einen Bekannten seien sie in den Besitz der Heiratsurkunde der Eltern des Antragstellers zu 1.) gekommen. Durch das mehrfache, wenngleich erfolglose Herantreten an die Aserbaidschanische Botschaft in Berlin seien die Antragstellern ihrer Mitwirkungspflichten zur Ausstellung von Passersatzpapieren hinreichend nachgekommen. Die Antragsgegnerin tritt dem entgegen und weist insbesondere darauf hin, dass auch die dem Antragsteller zu 1.) ausgestellte Aufenthaltserlaubnis nicht zu einer Leistungsprivilegierung nach § 2 AsylbLG führen könne.

7

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Die die Antragsteller betreffende Leistungsakte der Antragsgegnerin lag vor und ist Gegenstand der Entscheidung gewesen. II. Die gemäß §§ 172 ff. zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das SG Hannover die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die angefochtenen Beschlüsse waren daher aufzuheben. Den Antragstellern stehen vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - und unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen ab 13. Januar 2006 sog. Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG zu.

8

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches, die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, sowie des Anordnungsgrundes - die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung - sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 3 Zivilprozessordnung - ZPO -). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat der Antragsteller vorläufig Anspruch auf die beantragte Leistung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

9

Dies zugrunde gelegt, haben die Antragsteller die Voraussetzungen für den von ihnen geltend gemachten Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. den Regelungen des SGB XII ab Antragstellung glaubhaft gemacht.

10

Gemäß § 2 AsylbLG ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten Leistungen nach Abs. 1 nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach Abs. 1 erhält (§ 2 Abs. 3 AsylbLG). Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen aller Voraussicht nach bei den Antragsstellern vor. Die Antragsteller haben Leistungen nach § 3 AsylbLG über eine Dauer von mehr als 36 Monaten bezogen; insofern besteht zwischen den Beteiligten Übereinstimmung.

11

Zwischen den Beteiligten ist allerdings streitig, ob die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Unter der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer ist ein subjektiv vorwerfbares, für die Verlängerung des Aufenthalts ursächliches Handeln des Asylbewerbers zu verstehen. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn Ausländer nicht ausreisen, obwohl ihnen dies möglich und zumutbar ist (vgl BSG, Urteil vom 8. Februar 2007, B 9b AY 1/06 R).

12

Die hieran verbleibenden Zweifel gehen zu Lasten der Antragsgegnerin, weil die Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens gem. § 2 Abs. 1 AsylblG eine anspruchsausschließende Einwendung ist (vgl. BSG a.a.O.). Der Vorwurf, dass die Antragsteller bei der Beschaffung von Pass- bzw. Passersatzpapieren nicht hinreichend mitgewirkt hätten, wird dadurch erschüttert, dass die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller sich bereits Anfang des Jahres 2005 an die Botschaft der Aserbaidschanischen Republik schriftsätzlich gewandt hat und unter Angabe der persönlichen Daten der Antragsteller und ihrer Eltern um Mitteilung gebeten hat, ob die Familie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzt und ob Passersatzpapiere ausgestellt werden können. Zwei weitere Erinnerungen blieben erfolglos. Ob den Antragstellern darüber hinaus in eigener Person Mitwirkungshandlungen, wie persönliche Vorsprachen bei den Aserbaidschanischen Botschaften in Berlin bzw. in H. zuzumuten waren, bleibt fraglich. Schon im Jahre 2003 lagen ernsthafte medizinische Befunde vor, die für eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1.) zu diesem Zeitpunkt sprachen (vgl. Ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Psychiatrie J. vom 3. Februar 2003). Bereits im Jahre 2004 manifestierte sich die schwere depressive Erkrankung, die im Zusammenhang mit den Erlebnissen im Heimatland steht, durch Angstattacken derart, dass der Antragsteller zu 1.) nur in sehr begrenztem Umfang in der Lage war, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Bewältigung längerer Strecken in Bus und Bahn war unmöglich (vgl. ärztliche Bescheinigung Dr. K. vom 30. August 2004, 1. März 2005). Angesichts der Aufsichts- und Fürsorgepflicht der Antragstellerin zu 2.) für den damals 5 bzw. 6 Jahre alten Antragsteller zu 3.) und der bei der Antragstellerin zu 2.) Anfang des Jahres 2005 diagnostizierten Brustkrebserkrankung, die einer engmaschigen Behandlung und Kontrolle bedurfte, bleibt fraglich, ob der Antragstellerin eine Reise nach Aserbaidschan während dieser Zeiträume zuzumuten war

13

Dass bisher eine fehlende Identifizierung der Antragsteller durch die Botschaft aufgrund wissentlich falscher Angaben der Antragsteller verursacht worden ist, ist bisher nicht glaubhaft gemacht worden. Das vor der Anhörung im Asylverfahren im Antragsformular für die Ausstellung eines Passersatzantrages erklärte Datum "1998" und die Angabe "Tourist" kann auf einen Übertragungsfehler seitens des Dolmetschers zurückzuführen sein. Dies ist nach dem substantiierten Vortrag der Antragsteller jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Hierfür spricht auch, dass die Antragsteller diese Angaben unmittelbar danach - also nur wenige Tage später - selbst korrigiert haben und seitdem durchgängig an den geänderten Daten festgehalten haben. Die korrigierten Angaben lagen auch dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 9. Dezember 1998 zugrunde.

14

Die von der Antragsgegnerin in bezug genommenen Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 8. Mai 2002 (Az: 12 A 8250/98 und 12 A 383/99) beziehen sich in erster Linie auf die geltend gemachten Fluchtgründe der Antragsteller zu 1.) und zu 2.). Die dort verbliebenen Zweifel wurden im Wesentlichen auf die fehlenden Personaldokumente zur aserbaidschanischen Herkunft der Antragsteller zurückgeführt. Die aserbaidschanische Herkunft wird aber nach wie vor behauptet und konnte den Antragstellern bisher nicht widerlegt werden. Ob die von den Antragstellern im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über eine Dritte Person erhaltene und vorgelegte Heiratsurkunde der Eltern tatsächlich gefälscht ist, bleibt fraglich. Eine Untersuchung der Urkunde hat offensichtlich nicht stattgefunden. Der Beweis einer Fälschung ist bisher jedenfalls nicht erbracht worden.

15

Die aufgezeigten Unklarheiten und verbleibenden Zweifel hinsichtlich der Herkunft und Identität der Antragsteller können in diesem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht weiter aufgeklärt werden. Dies wird dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Hier wird insb. auch zu überprüfen sein, welche zumutbaren Mitwirkungshandlungen die Antragsgegnerin den Antragstellern bzw. seiner Prozessbevollmächtigten zur Aufklärung der Identität, Herkunft und Staatsangehörigkeit der Antragsteller noch konkret aufgeben muss, um diese Tatsachen zweifelsfrei aufzuklären. Sollte im Klagverfahren der Nachweis eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens in der Vergangenheit (wie z.B. Identitätstäuschung oder wissentlich falsche Angaben über die Herkunft) erbracht werden, so müsste geprüft und entschieden werden, ob sich ein solches, in der Vergangenheit liegendes, vorwerfbares Verhalten der Antragsteller auf den streitgegenständlichen Zeitraum noch leistungseinschränkend auswirkt.

16

Nach Auffassung des erkennenden Senats ist bei dieser Beurteilung zwar die gesamte Dauer des Aufenthalts der Antragsteller in der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen. Insoweit folgt der erkennende Senat noch dem für das AsylbLG nicht mehr zuständigen 7. Senat des Landessozialgerichts (vgl. dessen Urteil vom 20. Dezember 2005, Az: L 7 AY 40/05). Der erkennende Senat vermag sich aber der dortigen Auffassung insofern nicht anzuschließen, als es für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes darauf ankommen soll, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat oder der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist (sog. "abstrakte Betrachtungsweise").

17

Nach Auffassung des erkennenden Senates kommt es hingegen darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt hat bzw. noch auswirkt. Nur wenn ein solcher kausaler Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festgestellt werden kann, kann sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend auswirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss aber im streitgegenständlichen Leistungszeitraum noch fortwirken.

18

Diese Interpretation trägt dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommen Regelungszweck Rechnung, wonach nur jene Ausländer Leistungen nach § 2 AsylblG erhalten, "die unverschuldet nicht ausreisen können" (vgl BT- Drucks 15/420, S 121; vgl. auch BSG a.a.O.). Weder dem Wortlaut der Norm noch dem genannten Gesetzeszweck ist eine abstrakte oder generelle Betrachtungsweise zu entnehmen. Sie führt im Ergebnis zu einem Ausschluss der leistungsrechtlichen Besserstellung auf Dauer, wofür § 2 Abs. 1 AsylblG keine Anhaltspunkte enthält. Dieser Vorschrift ist vielmehr zu entnehmen, dass der Bezug von Leistungen auf Sozialhilfeniveau nach Ablauf der zeitlichen Voraussetzungen die Regel sein soll, sofern nicht die anspuchsausschließende Einwendung der Rechtmissbräuchlichkeit vorliegt. Damit soll einer stärkeren Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und einer verbesserten sozialen Integration nach längerem Aufenthalt in der Bundesrepublik Rechnung getragen werden ( vgl. Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl, § 2 AsylblG RdNr. 1). Im übrigen führt der dauerhafte Ausschluss von Leistungen auf Sozialhilfeniveau gerade dann zu unbilligen Ergebnissen, wenn es bei langjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik zu Veränderungen in der Lebenssituatiion, im Verhalten oder im Aufenthaltsstatus der Asylbewerber kommt.

19

Ist dem Gericht - wie hier - eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az: 1 BvR 569/05, NVbZ 2005, 927 ff.). In diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend in die Abwägung einzustellen.

20

Diese Folgenabwägung geht hier zu Gunsten der Antragsteller aus. Hierbei war für den Senat von Bedeutung, dass dem Antragsteller zu 1.) seit dem 8. Juni 2006 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz erteilt worden ist mit Rücksicht darauf, dass eine Reise- und Transportunfähigkeit - und nunmehr auch eine Suizidgefahr - vorliegt. Dieser Aufenthaltsstatus des Antragstellers zu 1.) trägt den Feststellungen des Amtsarztes der Antragsgegnerin vom 14. Dezember 2005 Rechnung, wonach bereits zu diesem Zeitpunkt eine absolute Reise- und Transportunfähigkeit diagnostiziert worden und eine stationäre psychiatrische Behandlung dringend angeraten worden war. Selbst die Antragsgegnerin ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass der Antragsteller zu 1.) nicht in der Lage war, die Botschaft in Berlin aufzusuchen (Stellungnahme des Fachbereiches Soziales vom 11. Oktober 2005).

21

Zuzustimmen ist der Antragsgegnerin allerdings insofern, dass allein der Besitz dieser Aufenthaltserlaubnis die Antragsteller noch nicht leistungsrechtlich privilegiert. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG sind nach diesem Gesetz Ausländer leistungsberechtigt, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz besitzen. Durch die Einbeziehung von Personen mit einer solchen Aufenthaltserlaubnis in den Kreis der Leistungsberechtigten des AsylbLG hat der Gesetzgeber hinreichend deutlich gemacht, dass dieser Personenkreis grundsätzlich genauso zu behandeln ist, wie die sonstigen Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 AsylbLG. Ob und inwiefern dieser Personenkreis die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt, namentlich - neben den hier unstreitigen zeitlichen Voraussetzungen - die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

22

Für diese leistungsrechtliche Beurteilung kann der Aufenthaltsstatus der Antragsteller nicht außer Acht gelassen werden. Denn § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG regelt, dass einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

23

Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift nur dann in Betracht, wenn sowohl die Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise unmöglich ist. Eine freiwillige Ausreise ist im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, die die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Solche Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen u.a. auch Verbote aus dem Verfassungsrecht (z.B. aus Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG. Bei Bestehen solcher Abschiebungsverbote hat nach dem Gesetzeskonzept die zwangsweise Rückführung des betroffenen Ausländers zu unterbleiben. Dann aber ist ihm in aller Regel auch eine freiwillige Rückkehr in sein Heimatland aus denselben rechtlichen Gründen nicht zuzumuten und damit unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwGE 126, 192; so auch schon BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - BVerwG 1 C 9.95 - NVwZ 1997, 1114 zu den Vorgängerbestimmungen in § 30 Abs. 3 und 4 AuslG; vgl. ferner ebenso die Gesetzesbegründungen, die darauf abstellten, dass bei § 25 Abs. 5 AufenthG "implizit auch die Zumutbarkeit" zu prüfen sei (vgl. BT- Drucks 15/420 S. 80 und 14/8414 S. 75)).

24

Die Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise eines Ausreisepflichtigen Ausländers ist auch maßgeblich für die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit des Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG und für die damit verbundene Rechtsfolge einer möglichen leistungsrechtlichen Privilegierung. Denn das Nichtwahrnehmen zumutbarer Ausreisemöglichkeiten begründet den Rechtsmissbrauch (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2007, Az: B 9 b 1/06 R). Aller Voraussicht nach ist dem Antragsteller zu 1.) die Ausreise mit Rücksicht auf seine schwere psychische Erkrankung und die damit verbundene Reise- und Transportfähigkeit bzw. die Suizidgefahr auf absehbare Zeit nicht möglich und daher nicht zumutbar. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG) steht der Ausreise des Antragstellers zu 1.) entgegen.

25

Der besondere Schutz der Familie, der durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet wird, führt zu einer Unzumutbarkeit der Ausreise für die Antragstellerin zu 2.) und für den Antragsteller zu 3.). Das BVerwG hat wiederholt entschieden, dass das Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts bezweckt, die familiäre Lebensgemeinschaft zu gewährleisten, indem ein familiäres Zusammenleben ermöglicht wird (vgl. BVerwGE 65, 174, 180 [BVerwG 23.03.1982 - 1 C 20/81]; 65, 188, 193) [BVerwG 26.03.1982 - 1 C 29/81]. Die Nichtausreise kann den Antragstellern zu 1.) bis 3.) daher zur Zeit auch leistungsrechtlich nicht vorgeworfen werden. Die Antragsteller haben damit einen Bleibegrund im Sinne der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) dargelegt und auch glaubhaft gemacht, der sie leistungsrechtlich privilegiert. Die Folgenabwägung geht daher zu Gunsten der Antragsteller aus. Angesichts der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 6 Abs. 1 GG und der Verpflichtung des Staates zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit und des besonderen Schutz der Familie muss das Interesse der Antragsgegnerin, Leistungen auf Sozialhilfeniveau bis zur Entscheidung des Rechtsstreites in der Hauptsache nicht zu gewähren, zurückstehen.

26

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Sie beziehen seit Jahren sog. Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG. Diese Leistungen dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe sind diese Leistungen über deutlich abgesenkt (sog. "Zweites Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum". vgl. Hohm NVwZ 2007, 419, 421). Die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass den Antragstellern aller Voraussicht nach Leistungen auf Sozialhilfeniveau zustehen, spricht für die Eilbedürftigkeit dieser Regelungsanordnung. Sie dient der Beseitigung einer existenziellen Notlage (vgl. Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2001, 4 M 3889/00). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor, da die Leistungen nur vorläufig zugesprochen worden sind.

27

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar ( § 177 SGG).

Hinweis: Das Dokument wurde redaktionell aufgearbeitet und unterliegt in dieser Form einem besonderen urheberrechtlichen Schutz. Eine Nutzung über die Vertragsbedingungen der Nutzungsvereinbarung hinaus - insbesondere eine gewerbliche Weiterverarbeitung außerhalb der Grenzen der Vertragsbedingungen - ist nicht gestattet.