Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.11.2011, Az.: 12 K 52/11

Widerruflichkeit einer Weiterleitungserklärung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
22.11.2011
Aktenzeichen
12 K 52/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 30689
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2011:1122.12K52.11.0A

Fundstelle

  • EFG 2012, 853-855

Kindergeld ab März 2005 (Weiterleitung bis Januar 2009)

Widerruf einer Weiterleitungserklärung vor deren Zugang bei der zuständigen Familienkasse (§ 130 Abs. 1 Satz 2 BGB).

Tatbestand

1

Streitig ist die Wirksamkeit einer Weiterleitungserklärung.

2

Der Kläger hat einen Sohn J (geb. XX.XX.1999), für den er Kindergeld begehrt. Von der Kindesmutter - der Beigeladenen - lebt der Kläger seit dem Jahr 2005 getrennt. Die Beigeladene ist XX-Angestellte bei YY. Sie hatte anlässlich der Geburt des Sohns das Kindergeld beantragt und seitdem laufend bezogen.

3

Am 26. Juni 2009 stellte der Kläger einen eigenen Kindergeldantrag. Er legte eine Haushaltsbescheinigung vor, aus der sich ergab, dass sich J in dem hier streitigen Zeitraum von März 2005 bis Januar 2009 im Haushalt des Klägers aufgehalten hatte.

4

Am 5. Juli 2009 unterzeichnete der Kläger eine ihm von der Beigeladenen vorgelegte Erklärung, mit der er unwiderruflich bestätigte, dass die Beigeladene das Kindergeld für die Monate März 2005 bis Januar 2009 nicht für sich behalten sondern an den Kläger weitergeleitet habe. Außerdem enthielt das Formular die Erklärung, dass der Kläger hierdurch seinen Anspruch auf Kindergeld für den genannten Zeitraum als erfüllt ansehe.

5

Die Beigeladene übersandte die Weiterleitungserklärung an ihre Familienkasse - YY -, wo das Schreiben am 8. Juli 2009 einging.

6

Am 9. Juli 2009 ging bei der beklagten Familienkasse ein Fax ein, in dem der Kläger ausführte, dass ihm seine Ex-Frau am 5. Juli 2009 ein Schriftstück vorgelegt habe, auf welchem er habe unterschreiben sollen, dass er bisher immer das volle Kindergeld erhalten habe. Da er dies zu diesem Zeitpunkt nicht besser gewusst habe und auch der Sohn dabei gewesen sei, habe er auf dem Schriftstück seine Unterschrift geleistet. Nun habe er erfahren, dass diese Aussage nicht richtig gewesen sei. Daher widerrufe er die Unterschrift auf der Weiterleitungserklärung.

7

Am 14. Juli 2009 ging bei der beklagten Familienkasse eine nicht datierte Weiterleitungsbestätigung des Klägers ein, auf der der Kläger den Passus der unwiderruflichen Bestätigung der Weiterleitung gestrichen hatte. Der Kläger führte dazu aus, dass ihm das Kindergeld nur zum Teil ausgezahlt worden sei.

8

Am 8. Oktober 2009 ging bei der beklagten Familienkasse ein Schreiben von YY ein, wonach für die Monate März 2005 bis Januar 2009 eine Weiterleitungserklärung vorliege. Gegenüber der Beigeladenen werde keine Rückforderung erfolgen.

9

Daraufhin setzte die beklagte Familienkasse mit Bescheid vom 15. Februar 2010 gegenüber dem Kläger das Kindergeld ab März 2005 fest. Gleichzeitig wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die beklagte Familienkasse den Anspruch bis Januar 2009 als erfüllt ansehe, weil der Kläger das Kindergeld im Wege der Weiterleitung erhalten habe.

10

Mit am 15. März 2010 eingegangenem Einspruch wandte der Kläger ein, dass die Beigeladene das Kindergeld tatsächlich nicht weitergeleitet habe.

11

Auf Anforderung der beklagten Familienkasse übersandte YY am 26. März 2010 die sich in ihren Akten befindliche Weiterleitungserklärung vom 5. Juli 2009.

12

Mit Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2011 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger habe am 5. Juli 2009 eine Weiterleitungserklärung abgegeben. Die im Nachhinein gegebene Begründung, dass er die Sach- und Rechtslage nicht richtig erfasst habe, könne den Erklärungsgehalt nicht erschüttern.

13

Mit am 7. Februar 2011 eingegangener Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Es sei zwar richtig, dass es zu einer Weiterleitungserklärung des Klägers gekommen sei. Der Kläger sei aber nicht ausreichend und zutreffend von der Beigeladenen über den Inhalt und die Bedeutung der Weiterleitungserklärung aufgeklärt worden. Die Beigeladene habe das Formular nicht dem Kläger ausgehändigt, sondern selbst weitergeleitet. Bereits ein bis zwei Tage nach der Unterschriftsleistung habe sich der Kläger telefonisch an die beklagte Familienkasse gewandt, weil ihm die inhaltliche Unrichtigkeit der Erklärung klargeworden sei. Dort habe man ihm gesagt, dass er ein Widerrufsschreiben schicken solle. Dies habe der Kläger am 9. Juli 2009 getan.

14

Nach § 130 Abs. 1 und Abs. 3 BGB sei der Widerruf der Weiterleitungserklärung möglich. Die beklagte Familienkasse hätte von der Weiterleitungserklärung keinen Gebrauch machen dürfen. Die Weiterleitungserklärung vom 5. Juli 2009 sei erst am 26. März 2010 bei der beklagten Familienkasse eingegangen. Bereits am 9. Juli 2009 habe der Kläger seine Erklärung per Telefax widerrufen.

15

Dass die Formularerklärung das Wort "unwiderruflich" enthalte, sei irrelevant. Es sei im Hinblick auf § 130 BGB nie zur Abgabe einer wirksamen Erklärung gekommen. Die Frage der Unwiderruflichkeit würde nur dann eine Rolle spielen, wenn es zu einer ordnungsgemäßen, wirksamen Weiterleitungserklärung gekommen wäre.

16

Die Weiterleitungserklärung sei nicht schon mit der Aushändigung an die Kindesmutter wirksam geworden. In der Weiterleitungserklärung heiße es ausdrücklich: "Bestätigung über die Weiterleitung von Kindergeld zur Vorlage bei der Familienkasse ". Maßgeblich sei der Eingang bei der beklagten Familienkasse. Mit der Aushändigung an die Kindesmutter habe diese allenfalls die Stellung einer Botin erhalten. Die Weiterleitungserklärung hätte keine Bedeutung erlangt, wenn sie nicht an die beklagte Familienkasse weitergeleitet worden wäre.

17

Auch die Erwägung der beklagten Familienkasse, dass der Widerruf gegenüber der Familienkasse der Beigeladenen hätte erfolgen müssen, sei unzutreffend. In beiden Weiterleitungserklärungen sei die beklagte Familienkasse - die Familienkasse BB - als zuständige Familienkasse bezeichnet worden. Die Weiterleitungserklärung sei daher wirksam widerrufen worden.

18

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 15. Februar 2010 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2011, zugestellt am 12. Januar 2011, teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, an den Kläger für das Kind J, geb. am XX.XX.1999, Kindergeld in Höhe von monatlich 154,00 EUR ab März 2005 bis Dezember 2008 und in Höhe von 164,00 EUR für Januar 2009 zu zahlen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

19

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

20

Die Beklagte ist der Auffassung, dass die Weiterleitungserklärung schon deshalb nicht widerrufen werden könne, weil die Erklärung ausweislich des Formulars "unwiderruflich" erfolgt sei. Eine einmal unterschriebene Weiterleitungserklärung sei für den Kläger bindend.

21

Außerdem sei die Weiterleitungserklärung bereits mit der Aushändigung an die Beigeladene wirksam geworden, da die Erklärung damit derjenigen, die die Abgabe der Erklärung vom Kläger gefordert habe, zugegangen sei. Deshalb könne der Kläger die Erklärung nicht mehr widerrufen.

22

Die Weiterleitungserklärung sei von der Beigeladenen zur Vorlage bei der für sie zuständigen Familienkasse benötigt worden. Sie sei bei der für die Beigeladene zuständigen Familienkasse des öffentlichen Dienstes eingereicht worden. Die dortige Familienkasse habe daraufhin die Rückforderung erlassen. Gegenüber der dortigen Familienkasse habe der Kläger keinen Widerruf erklärt. Deshalb sei die Weiterleitungserklärung nach wie vor wirksam.

23

Die Beigeladene trägt dezidiert zu der Zusammensetzung des gezahlten Unterhalts vor. Im Zeitpunkt der Unterzeichnung der Weiterleitungserklärung am 5. Juli 2009 sei J nicht anwesend gewesen. Der Kläger habe aufgrund eines vorherigen Telefonats mit der Beigeladenen gewusst, was es mit der Weiterleitungserklärung auf sich habe. Er habe das Formular gelesen und weitgehend selbst ausgefüllt. Von einer Überrumpelung könne keine Rede sein.

24

Die Erklärung des Klägers sei unwiderruflich abgegeben worden. Dies schließe einen später vorgenommenen Widerruf des Klägers schon begrifflich aus. Die Behörden dürften nicht im Zusammenhang mit unterhaltsrechtlichen Streitigkeiten instrumentalisiert werden. Es sei auch geklärt, dass die Widerrufserklärung nach dem Eingang der Bestätigung eingetroffen sei.

Entscheidungsgründe

25

Die Klage ist begründet.

26

I.

Der Bescheid vom 15. Februar 2010 ist dahingehend abzuändern, dass dem Kläger das Kindergeld für das Kind J für die Monate März 2005 bis Januar 2009 auszuzahlen ist.

27

1. Nach § 31 Satz 3 Einkommensteuergesetz (-EStG-) wird das monatliche Kindergeld als Steuervergütung gezahlt. Der Kindergeldanspruch ist daher ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 Abgabenordnung -AO-). Er entsteht gemäß § 38 AO, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Der Kindergeldanspruch wird durch die Kindergeldfestsetzung für den praktischen Vollzug konkretisiert (vgl. § 218 Abs. 1 Satz 1 AO).

28

2. Im vorliegenden Fall ist das Kindergeld für J für die hier streitigen Monate März 2005 bis Januar 2009 durch den Festsetzungsbescheid vom 15. Februar 2010 zu Gunsten des Klägers festgesetzt worden. Die Kindergeldfestsetzung ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

29

3. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 15. Februar 2010 neben der Kindergeldfestsetzung zusätzlich auch noch einen sog. Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO erlassen.

30

a) In dem Bescheid vom 15. Februar 2010 hat die Beklagte neben der Kindergeldfestsetzung für die Monate ab März 2005 außerdem entschieden, dass sie den Anspruch für die Monate März 2005 bis Januar 2009 als erfüllt ansehe. In diesem Ausspruch ist eine weitere hoheitliche Regelung zu sehen (vgl. § 118 Satz 1 AO), mit der verbindlich über die Auszahlung der festgesetzten Kindergeldansprüche für die Monate März 2005 bis Januar 2009 entschieden wurde.

31

b) So hat auch die Beklagte ihre eigene Verfügung verstanden. Sie hat den Bescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen und hat die späteren Einwendungen des Klägers gegen die Nichtauszahlung der festgesetzten Kindergeldbeträge als Einspruch gegen eine hoheitliche Regelung gewertet. Der Abrechnungsbescheid im Sinne des § 218 Abs. 2 AO ist das von der Abgabenordnung vorgesehene Instrument für Entscheidungen über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen.

32

c) Ein Abrechnungsbescheid kann mit Einspruch und Klage angefochten werden, was im vorliegenden Fall auch geschehen ist. Dementsprechend ist der Klageantrag des Klägers im Wege der rechtsschutzgewährenden Auslegung dahingehend zu verstehen, dass das Begehren nicht auf unmittelbare Auszahlung (Leistungsklage) sondern auf Abänderung des Abrechnungsbescheides (Anfechtungsklage) gerichtet ist. Solange in einem Abrechnungsbescheid eine Regelung enthalten ist, die einer Auszahlung entgegensteht, ist eine Klage auf unmittelbare Auszahlung von vornherein aussichtslos. Dass der Kläger eigentlich den Abrechnungsbescheid anfechten wollte, ergibt sich aus der Bezugnahme in dem Klageantrag auf den Bescheid vom 15. Februar 2010 und auf die Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2011.

33

4. Der Auszahlungsanspruch des Klägers für das Kindergeld der Monate März 2005 bis Januar 2009 ist nicht durch Zahlung - in Form der Weiterleitung - untergegangen.

34

a) Nach § 47 AO erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (hier: der Kindergeldanspruch) insbesondere durch Zahlung, Aufrechnung, Erlass, Verjährung und Eintritt einer auflösenden Bedingung. Im vorliegenden Fall könnte der Anspruch nur durch Zahlung untergegangen sein.

35

b) Ursprünglich hatte YY das streitige Kindergeld für die Monate März 2005 bis Januar 2009 an die Beigeladene ausgezahlt. Dadurch wurde der Anspruch des Klägers auf Auszahlung des Kindergelds nicht erfüllt, weil er nicht der Leistungsempfänger dieser Zahlungen war (vgl. § 37 Abs. 2 AO; siehe hierzu auch BFH-Urteil vom 25. März 2003 VIII R 84/98, BFH/NV 2003, 1404). Grundsätzlich hätte die für den Kläger zuständige Familienkasse das Kindergeld daher nochmals an den Kläger auszahlen müssen. Die für die Beigeladene zuständige Familienkasse hätte die dortige Kindergeldfestsetzung aufheben und das dort in unzutreffender Weise ausgezahlte Kindergeld zurückfordern müssen (vgl. BFH-Beschluss vom 12. August 2010 III B 94/09, BFH/NV 2010, 2062).

36

c) Die Verwaltung lässt aber in Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 2 ff. der Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zur Durchführung des steuerlichen Familienausgleichs (DA-FamEStG, BStBl I 2009, 1029, 1090) ein vereinfachtes Verfahren zu, bei dem der Erstattungsschuldner durch Vorlage eines von dem vorrangig Berechtigten ausgefüllten Vordrucks nachweist, dass er das Kindergeld an den eigentlich Berechtigten weitergeleitet hat, wenn dieser außerdem bescheinigt, das er damit seinen Anspruch auf Kindergeld als erfüllt ansieht. Sind diese Anforderungen eingehalten worden, erlässt die für den Erstattungsschuldner zuständige Familienkasse die Schuld des nachrangig Berechtigten regelmäßig aus Billigkeitsgründen. Der vorrangig Berechtigte erhält das Kindergeld infolge der abgegebenen Erklärung nicht (nochmals) ausgezahlt. Das Verfahren vermeidet die mehrfache Zahlung und Rückforderung von Beträgen, die wirtschaftlich bereits bei dem vorrangig Berechtigten verblieben sind (vgl. BFH-Beschluss vom 22. Juli 1999 VI B 344/98, BFH/NV 2000, 36; BFH-Beschluss vom 24. August 2001 VI S 1/01, BFH/NV 2002, 184; BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00, BFH/NV 2002, 1425; BFH-Beschluss vom 11. Oktober 2002 VIII B 172/01, BFH/NV 2003, 306; BFH-Urteil vom 9. Dezember 2002 VIII R 80/01, BFH/NV 2003, 606; BFH-Urteil vom 11. Februar 2003 VIII R 102/01, BFH/NV 2003, 1154; BFH-Urteil vom 11. März 2003 VIII R 77/01, BFH/NV 2004, 14; BFH-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 94/01, BFH/NV 2004, 25; BFH-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 80/00, BFH/NV 2004, 23; BFH-Urteil vom 16. März 2004 VIII R 48/03, BFH/NV 2004, 1218; BFH-Beschluss vom 12. August 2010 III B 94/09, BFH/NV 2010, 2062).

37

d) Im vorliegenden Fall hatte die Beigeladene am 5. Juli 2009 eine entsprechende Erklärung des Klägers erwirkt und bei der für sie zuständigen Familienkasse eingereicht. Damit waren die Voraussetzungen für das Verfahren nach Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 2 ff. der DA-FamEStG allerdings noch nicht vollständig erfüllt. Nach Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 4 der DA-FamEStG hatte der vorrangig Berechtigte gegenüber der für ihn zuständigen Familienkasse zu erklären, dass sein Auszahlungsanspruch aus der Kindergeldfestsetzung für die genannten Monate erfüllt sei. Nach Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 6 der DA-FamEStG hatte er zu diesem Zweck die Familienkasse zu bezeichnen, bei der er den Antrag auf Kindergeld vormals gestellt hatte.

38

e) Der Grund für diese Anforderungen besteht darin, dass erst dann, wenn der vorrangig Berechtigte gegenüber der für ihn zuständigen Familienkasse seinen Verzicht auf die erneute Auszahlung des Kindergelds verbindlich und unwiderruflich erklärt hat, sicher ist, dass die Familienkassen auf den Kindergeldanspruch nicht doppelt zahlen müssen (vgl. BFH-Urteil vom 11. März 2003 VIII R 77/01, BFH/NV 2004, 14; BFH-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 94/01, BFH/NV 2004, 25; BFH-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 80/00, BFH/NV 2004, 23). Erst dann kann auf den Erstattungsanspruch gegenüber dem nachrangig Berechtigten verzichtet werden.

39

f) Die erforderliche Erklärung des vorrangig Berechtigten, dass er seinen Auszahlungsanspruch als erfüllt ansieht, stellt eine empfangsbedürftige Willenserklärung im Sinne von §§ 116 ff. BGB dar.

40

Sie ist empfangsbedürftig, weil die beabsichtigte Erfüllungswirkung ohne einen Zugang bei der für den vorrangig Berechtigten zuständigen Familienkasse nicht eintritt. Erhält die zuständige Familienkasse keine Kenntnis von der Erklärung des vorrangig Berechtigten, dass er den Kindergeldanspruch durch das weitergeleitete Kindergeld als erfüllt ansieht, kann der vorrangig Berechtigte den Kindergeldanspruch gegenüber der Familienkasse weiterhin geltend machen, ohne dass die Familienkasse diesem Anspruch etwas entgegen halten könnte.

41

Empfangsbedürftige Willenserklärung werden erst mit Zugang bei dem Empfänger wirksam (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Nach § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB wird eine Willenserklärung nicht wirksam, wenn dem Empfänger vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Nach § 130 Abs. 3 BGB gelten diese zivilrechtlichen Grundsätze auch dann, wenn die Willenserklärung gegenüber einer Behörde abzugeben ist (vgl. BFH-Urteil vom 28. Mai 2009 III R 84/06, BStBl II 2009, 949 m.w.N.).

42

Ausweislich des Akteninhalts erhielt die für den Kläger zuständige Familienkasse am 9. Juli 2009 von dem Widerruf des Klägers Kenntnis. Dagegen wurde ihr erst am 8. Oktober 2009 von der Familienkasse der Beigeladenen mitgeteilt, dass eine Weiterleitungserklärung vorhanden sei. Dies war der früheste Zeitpunkt, zu dem die beklagte Familienkasse von einer Weiterleitungserklärung des Klägers Kenntnis erhielt. Tatsächlich ihr zugegangen ist die Weiterleitungserklärung erst am 26. März 2010. Da der Widerruf des Klägers der beklagten Familienkasse früher zugegangen ist als die Weiterleitungserklärung, entfaltet die Weiterleitungserklärung keine rechtlichen Wirkungen (§ 130 Abs. 1 Satz 2 BGB).

43

g) Entgegen der Ansicht der Beklagten reicht es für die Wirksamkeit der Willenserklärung nicht aus, dass die Weiterleitungserklärung der Beigeladenen zugegangen ist. Die Beigeladene ist nicht Adressatin der Erklärung des Klägers gewesen. Der Erklärungsinhalt richtete sich an die für den Kläger zuständige Familienkasse. Dies ergibt sich auch aus dem Formular der Weiterleitungserklärung. Die Erklärung dient "der Vorlage bei der Familienkasse". Mit der Erklärung verzichtete der Kläger auf die Auszahlung des zu seinen Gunsten festgesetzten Kindergelds. Diese Erklärung konnte nur durch den Zugang bei seiner Familienkasse rechtliche Bedeutung erlangen, nicht durch den Zugang bei der Beigeladenen. Die Beigeladene konnte allenfalls Erklärungsbotin sein, die die Willenserklärung an die zuständige Empfängerin weiter zu leiten hatte (vgl. Palandt/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 70. Auflage, § 120 Rz. 2).

44

h) Es kommt auch nicht auf den Zugang der Weiterleitungserklärung bei der Familienkasse der Beigeladenen an.

45

aa) Der rechtliche Erklärungsgehalt der Willenserklärung richtete sich an die für den Kläger zuständige Familienkasse. Denn nur diese Familienkasse war für die Auszahlung des Kindergeldanspruchs an den Kläger verantwortlich, nicht die Familienkasse der Beigeladenen.

46

bb) Zwar hat die Beklagte eingewandt, dass die Familienkasse des nachrangig Berechtigten nach Erhalt der Weiterleitungserklärung regelmäßig die Rückforderung erlasse, so dass es auf den Zugang bei ihr ankommen müsse. Insoweit unterscheidet die Beklagte aber nicht hinreichend zwischen dem nur im Verhältnis zwischen YY und der Beigeladenen relevanten Erlassverfahren (vgl. dazu: BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00, BFH/NV 2002, 1425; BFH-Beschluss vom 11. Oktober 2002 VIII B 172/01, BFH/NV 2003, 306; BFH-Urteil vom 11. Februar 2003 VIII R 102/01, BFH/NV 2003, 1154; BFH-Urteil vom 11. März 2003 VIII R 77/01, BFH/NV 2004, 14) und dem im Verhältnis zwischen der beklagten Familienkasse und dem Kläger maßgeblichen - und hier im Streit befindlichen - Abrechnungsverfahren. Außerdem hält der Senat die Verwaltungspraxis, dass die Rückforderung bereits erlassen wird, wenn die Weiterleitungserklärung bei der Familienkasse des nachrangig Berechtigten eingeht, für höchst problematisch. Das Ziel Doppelzahlungen zu vermeiden wird nämlich erst dann erreicht, wenn die Weiterleitungserklärung der Familienkasse des vorrangig Berechtigten zugeht. Wird der Erlass schon ausgesprochen, bevor dieser Zugang sichergestellt ist, kann es in einzelnen Fällen zu Doppelzahlungen kommen.

47

cc) Deshalb wurde nach Auffassung des Senats Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 4 der DA-FamEStG dahingehend formuliert, dass der vorrangig Berechtigte "gegenüber der für ihn zuständigen Familienkasse" erklären muss, dass sein Auszahlungsanspruch erfüllt ist. Diesem Ziel entspricht auch das Erfordernis in Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 6 der DA-FamEStG, die für den vorrangig Berechtigten zuständige Familienkasse zu bezeichnen. Die momentane Verwaltungspraxis ignoriert diese Anforderungen mit der Folge, dass die Gefahr von Doppelzahlungen entsteht.

48

dd) Nach Auffassung des Senats ist auch das Formular für die Weiterleitungserklärung so aufgebaut, dass sich die Willenserklärung des vorrangig Berechtigten an die für ihn zuständige Familienkasse richtet. Der Vordruck ist durch den "jetzigen Anspruchsberechtigten" - also den Kläger - auszufüllen. Auf dem Formular ist die Familienkasse des vorrangig Berechtigten einzutragen, nicht die Familienkasse des nachrangig Berechtigten. Dies macht nur Sinn, wenn es für die Wirksamkeit der Willenserklärung auf den Zugang bei der Familienkasse der vorrangig Berechtigten ankommt.

49

i) Die Familienkasse des nachrangig Berechtigten hat daher die Weiterleitungserklärung an die eigentliche Adressatin, die Familienkasse des vorrangig Berechtigten, zu übersenden. Sie agiert insoweit als Erklärungsbotin, die die Willenserklärung der zuständigen Familienkasse zuleitet, damit diese von der Erklärung mit rechtlicher Wirkung Kenntnis nehmen kann.

50

Insoweit gilt nichts anderes als beim Zugang eines Einspruchs. Wird der Einspruch nicht bei der zuständigen Behörde, sondern bei einer anderen Behörde angebracht, ist für die rechtliche Wirksamkeit des Einspruchs der Zeitpunkt des Zugangs bei der zuständigen Behörde maßgeblich (§ 357 Abs. 2 Satz 4 AO).

51

Für die Familienkasse des nachrangig Berechtigten ergeben sich aus der Weiterleitungserklärung erst dann rechtliche Konsequenzen, wenn mit dem Zugang der Erklärung bei der für den vorrangig Berechtigten zuständigen Familienkasse sichergestellt ist, dass das Kindergeld nicht nochmals ausgezahlt werden braucht. Erst dann ist der Weg frei für einen Erlass der Rückforderung gegenüber dem nachrangig Berechtigten.

52

j) Der Zugang und die Kenntnisnahme der Weiterleitungserklärung durch die Familienkasse des nachrangig Berechtigten kann nicht der Familienkasse des vorrangig Berechtigten zugerechnet werden. Dies ergibt sich schon aus der Erwägung, dass die Familienkassen nicht nur bei den Agenturen für Arbeit sondern bei ganz unterschiedlichen Einrichtungen angesiedelt sind (vgl. für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes: § 72 EStG). So gibt es zwischen den Familienkassen für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes und den Familienkassen bei der Agentur für Arbeit keine gemeinsamen Organisationsstrukturen. Der Aspekt der "Einheit der Verwaltung" kann angesichts dieser organisatorischen Trennung nicht durchgreifen. Es ist insbesondere nicht sicher gestellt, dass die Kenntnisse der unzuständigen Familienkasse zu der zuständigen Familienkasse durchdringen.

53

k) Entgegen der Auffassung der beklagten Familienkasse kommt es nicht darauf an, dass die Erklärung nach dem Wortlaut des Formulars "unwiderruflich" abgegeben wurde. Die fehlende Möglichkeit des Widerrufs bezieht sich nur auf den Zeitraum ab Zugang der Willenserklärung bei der zuständigen Familienkasse. Ist die Willenserklärung der Familienkasse wirksam zugegangen, muss sich diese darauf verlassen können, dass der vorrangig Berechtigte das weitergeleitete Kindergeld dauerhaft als Erfüllung seines Kindergeldanspruchs gelten lassen wird. Voraussetzung für diese Konstellation ist aber, dass überhaupt eine wirksame Erklärung vorliegt, wonach der vorrangig Berechtigte das weitergeleitete Kindergeld als Erfüllung ansieht. Da die Erklärung im vorliegenden Fall bereits vor ihrem Zugang bei der zuständigen Familienkasse widerrufen worden war, ist diese Grundvoraussetzung nicht gegeben. Rechtlich hat es die Weiterleitungserklärung wegen des vorherigen Widerrufs nie gegeben.

54

l) Auch die später eingegangene Weiterleitungserklärung des Klägers vom 14. Juli 2009 führt nicht dazu, dass der Kindergeldanspruch als erfüllt gilt. Auf diesem Formular strich der Kläger den Passus, dass er seinen Anspruch auf Kindergeld als erfüllt ansehe. Zwar führte er darunter erläuternd aus, dass ihm das Kindergeld nur zum Teil ausgezahlt worden sei. Diese Erläuterungen lassen sich aber nicht dahingehend auslegen, dass der Kläger in dieser Höhe auf die Auszahlung des Kindergeldanspruchs verzichtete. Einer solchen Auslegung steht schon die Streichung des Passus über die Erfüllungswirkung entgegen. Außerdem ist das Verfahren nach Tz. 64.4 Abs. 3 Satz 2 ff. der DA-FamEStG eingeführt worden, um bei einer eindeutigen Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung zu stellen (vgl. BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00, BFH/NV 2002, 1425; BFH-Beschluss vom 11. Oktober 2002 VIII B 172/01, BFH/NV 2003, 306; BFH-Urteil vom 11. Februar 2003 VIII R 102/01, BFH/NV 2003, 1154; BFH-Urteil vom 11. März 2003 VIII R 77/01, BFH/NV 2004, 14; BFH-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 80/00, BFH/NV 2004, 23; BFH-Urteil vom 16. März 2004 VIII R 48/03, BFH/NV 2004, 1218; BFH-Beschluss vom 12. August 2010 III B 94/09, BFH/NV 2010, 2062). Damit lassen sich Auslegungsspielräume hinsichtlich der abgegebenen Willenserklärungen nicht vereinbaren. Wenn nicht sicher ist, ob der vorrangig Berechtigte auf die Auszahlung des Kindergelds verzichtet hat, kann das Verfahren nicht angewandt werden.

55

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (-FGO-). Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen beruht auf § 139 Abs. 4 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (-ZPO-).