Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 09.11.2005, Az.: 12 A 389/04

Frage des Unterliegens von liturgischem Läuten von Kirchenglocken dem immissionsschutzrechtlichen Grundpflichten nach § 22 Abs. 1 Satz Bundesimmissionsschutzgesetz (BlmSchG); Überschreiten der Zumutbarkeitsschwelle bei Lärm ; Besonderer Schutz bei liturgischem Glockenläuten; Durchführung einer Güterabwägung bei der Beurteilung der Erheblichkeit von Lärm; Zentralistische Einheitsregelung auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften; Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit durch Gebetsläuten

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
09.11.2005
Aktenzeichen
12 A 389/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 32140
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2005:1109.12A389.04.0A

Verfahrensgegenstand

Unterlassen von Kirchenglockengeläut

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Hannover -12. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2005
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Gonschior
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung über die Kosten ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten, ein Kirchenglockengeläut um 07:00 Uhr morgens zu unterlassen.

2

Der Kläger ist Miteigentümer und -bewohner einer Wohnung in dem Gebäude {B.} in {D.}. Das Grundstück liegt in einem Gebiet, das als Kerngebiet durch Bebauungsplan überplant ist. In etwa 250 m Entfernung befindet sich die {J.}-Kirche der Beklagten. Der Kläger wandte sich ab August 2003 mehrfach vergeblich mit der Bitte an die Beklagte, das etwa 3 Minuten lange morgendliche Gebetsläuten von 07:00 Uhr auf 08:00 Uhr zu verlegen.

3

Der Kläger hat am 16.01.2004 Klage erhoben. Zu deren Begründung führte er im Wesentlichen aus: Der maßgebliche Immissionsschallpegel von 60 dB(A) werde durch das Glockenläuten überschritten; die Nachtruhe werde durch das Dauergeläut beendet. Das Glockengeläut um diese frühe Uhrzeit sei rücksichtslos. Er nehme in Abrede, dass es sich überhaupt um ein liturgisches Geläut handele. Es bestehe im Schaumburger Land keine feste Praxis des morgendlichen Glockenläutens; außer in der Kirche der Beklagten werde lediglich noch in einer Kirche in Stadthagen das morgendliche Gebetsläuten um 07:00 Uhr praktiziert. Von den rund 10.000 Einwohnern {D.}s gehörten nicht einmal 2/3 der evangelisch-lutherischen Konfession an. Er, der Kläger, werde in seiner negativen Religionsfreiheit beeinträchtigt. Der Bestandschutz für das Betläuten sei erloschen, da es zwischenzeitlich etwa 2 Jahre lang nicht ertönt sei. Es bestehe für ihn die Gefahr eines gesundheitlichen Schadens durch das Staccato-Geläut.

4

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, das Kirchenglockengeläut der {K.}-Kirche, {D.}, morgens um 07:00 Uhr zu unterlassen.

5

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Die Beklagte führt aus: Der von der TA-Lärm vorgegebene Wert von 60 dB(A) werde während des beanstandeten Läutens um 07:00 Uhr auch nicht kurzzeitig überschritten. Dies ergebe sich aus einer Schallpegelmessung, die der Glockensachverständige für die ev.-luth. Landeskirche Hannover, Diplom-Physiker {L.}, am 24.02.2004 vor dem Gebäude, in dem sich die klägerische Wohnung befinde, durchgeführt habe. Die über eine halbe Minute hinweg protokollierten Messwerte zeigten einen Maximalwert von 50,3 dB(A). Bei dem Betläuten handele sich um ein bereits im Mittelalter üblich gewordenes Aufrufen zum Gebet. Als liturgisches Glockenläuten betreffe es den Kernbereich kirchlicher Lebensäußerung und unterliege damit als Teil der Religionsausübung dem besonderen Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG. Es werde lediglich die kleinste von insgesamt 3 Glocken geläutet. Da die Glockenstube - anders als sonst - mit einer dichten Schalung versehen sei, klinge das Betläuten relativ dezent. Aus dem Umstand, dass das Glockengeläut wegen der Sanierung der Kirche in der Zeit von Juli/August 2001 stillgelegt und im August/September 2003 wieder in Betrieb genommen worden sei, folge kein Anspruch des Klägers auf Unterlassen des Betläutens. Auch in 6 anderen Gemeinden des Schaumburger Gebietes werde ein Gebetsläuten praktiziert.

7

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen; dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

9

Der Kläger hat keinen Rechtsanspruch darauf, dass die Beklagte das streitgegenständliche Gebetsläuten um 07:00 Uhr morgens unterlässt.

10

Durch das streitige Gebetsläuten wird die Zumutbarkeitsschwelle für Lärmimmissionen nicht zu Ungunsten des Klägers überschritten.

11

Zwischen den Beteiligten ist zutreffend unstreitig, dass auch das liturgische Läuten von Kirchenglocken dem immissionsschutzrechtlichen Grundpflichten nach § 22 Abs. 1 Satz BlmSchG unterliegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.10.1983, - BVerwG 7 C 44.81 -, BVerwGE 68, 62 [BVerwG 07.10.1983 - 7 C 44/81]). Für die Beantwortung der Frage einer möglichen Unzumutbarkeit der Geräuschimmissionen, ohne deren Bejahung es auf die Frage ihrer technischen Vermeidbarkeit gar nicht erst ankommt, ist grundsätzlich auf das Regelwerk der TA-Lärm vom 26.08.1998 (GMBI. S. 503) zurückzugreifen.

12

Bei Lärm wird die Zumutbarkeitsschwelle überschritten, wenn die Belästigungen für die Nachbarschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 BlmSchG (vgl. § 5 Nr. 1 BlmSchG bzw. § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BlmSchG) erheblich sind, was in

13

einer wertenden Betrachtung festzustellen ist (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - IV 22.75 -, BVerwGE 52, 122). Um das Maß der von dem Kläger noch hinzunehmenden Störung, also seine Schutzwürdigkeit, zu bestimmen, ist zum einen seine konkrete Grundstückssituation ausschlaggebend. Es kommt insbesondere auf die bauplanungsrechtlichen Bedingungen an, denen das Grundstück ausgesetzt ist.

14

Für das Grundstück, an dem der Kläger Miteigentum hat, setzt der Bebauungsplan Nr. 40 "Galenberg" Kerngebiet i.S.d. § 7 BauNVO fest. Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur (§ 7 Abs. 1 BauNVO); zulässig sind in solchen Gebieten gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO sonstige Wohnungen (d.h. solche, die nicht Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter sind, § 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO) nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans. Daraus folgt, dass Kerngebiete nicht vorwiegend dem Wohnen dienen und das Verlangen, von Immissionen verschont zu bleiben, dort in geringerem Maße berechtigt ist als beispielsweise in einem allgemeinen Wohngebiet.

15

Für die Bestimmung des Maßes des Zumutbaren ist vorliegend vor allem erheblich, dass es sich bei dem morgendlichen Gebetsläuten um ein liturgisches Glockengeläut handelt, das den besonderen Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG genießt (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 13.05.1996 - 6 L 1093/94, OVGE MüLü 46, 390; bestätigt durch: BVerwG, Beschl. v. 02.09.1996 - 4 B 152/96, NVwZ 1997, 390).

16

In die "Güterabwägung", die bei der Beurteilung der Erheblichkeit von Lärm durchzuführen ist, ist daher insbesondere der Gesichtspunkt einzustellen, dass das liturgische Glockengeläute im herkömmlichen Rahmen regelmäßig keine erhebliche Belästigung, sondern eine zumutbare, sozial adäquate Einwirkung darstellt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.09.1996, a.a.O.). Für die Frage der Zumutbarkeit des nur drei Mal täglichen Angelus-Läutens - des "katholischen Pendants" des Betläutens - ist nach dieser Rechtssprechung in erster Linie auf die Lautstärke und Lästigkeit des Einzelgeräusches und damit auf den Wirkpegel abzustellen und nicht etwa auf die Mittelwertbildung, dessen Bedeutung in solchen Fällen zurücktritt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.09.1996, a.a.O.). Hält sich der Wirkpegel des Einzelgeräusches des Angelus-Läutens innerhalb des Rahmens, den die Regelwerke ganz allgemein für Einzelgeräusche in dem Wohngebiet (im Sinne der Benutzungsverordnung), in dem der Betroffene wohnt, als zumutbar ansehen, so führt die Überschreitung des Mittelungspegels, der hier ohnehin nur als "grober Anhalt" dienen kann, wegen der bereits erwähnten "Güterabwägung" nicht zur Unzumutbarkeit (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.09.1996, a.a.O.).

17

Für das vorliegende Verfahren folgt daraus, dass die Klage nur dann Erfolg haben könnte, wenn der Nachweis geführt wäre, dass das streitige morgendliche Gebetesläuten einen Wirkpegel hervorruft, der den nach den Regelwerken der TA-Lärm tagsüber als tolerierbar angesehenen Maximalpegel für Einzelgeräusche in Höhe von 90 dB(A) für ein Kerngebiet (Nr. 6.3 I.V.m. Nr. 6.1 TA-Lärm) überschreitet. Dieser Nachweis ist nicht nur nicht erbracht; vielmehr behauptet der Kläger eine Lärmüberschreitung unsubstantiiert, quasi "ins Blaue hinein".

18

Diese bloße Behauptung reicht vorliegend umso weniger aus, als die Beklagte ein Gutachten des Diplom-Physikers {L.}, Glockensachverständiger für die Ev.-luth. Landeskirsche Hannover, vom 27.02.2004 vorgelegt hat, das zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangt ist. Danach ist bei einer am 24.02.2004 in der Zeit von 17:00 Uhr bis 17:05 Uhr vor der der {K.}-Kirche zugewandten Ecke des Gebäudes, in dem der Kläger wohnt, durchgeführten Schallpegelmessung ein Maximalwert von 50,3 dB(A) festgestellt worden; die dem Gutachten beigefügte Messkurve zeigt dies.

19

Der Umstand, dass das von dem Kläger mitbewohnte Haus nach dessen eigenem Vortrag - immerhin - ca. 250 m von der {K.}-Kirche entfernt liegt, stützt den Vortrag der Beklagten.

20

Der Kläger hat dieses Gutachten nicht substantiiert angegriffen.

21

Aus diesem Grunde war der Beweisantrag des Klägers, Sachverständigenbeweis über das Maß des durch das Betläuten hervorgerufenen Schallpegels zu erheben, abzulehnen. Denn darin liegt ein unzulässiger Ausforschungsbeweis - gleichsam eine Beweiserhebung "ins Blaue hinein" -, weil der Kläger die Behauptung, die von dem streitgegenständlichen Glockengeläut verursachten Geräuschimmissionen überträfen die dargelegten Grenzwerte, nicht nur ohne jede tatsächliche Grundlage aufstellt, sondern auch - wie dargelegt -erhebliche Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Betläuten die Grenzwerte nicht nur für Geräuschspitzen, sondern auch für die Mittelwertbildung (Nr. 6.1 TA-Lärm) einhält.

22

Die Klage kann auch nicht etwa deshalb Erfolg haben, weil - wie der Kläger behauptet - außer in der {K.}-Kirche lediglich in einer Kirche in Stadthagen im Schaumburger Land das morgendliche Gebetsläuten praktiziert wird. Unabhängig davon, dass die Beklagte - vom Kläger unwidersprochen - 6 weitere ev.-luth. Kirchengemeinden im Gebiet des Kirchenkreises Schaumburg benannt hat, die ebenfalls um 7:00 Uhr bzw. um 6:00 Uhr zum Gebet läuten, kommt es darauf rechtlich im Ergebnis nicht an. Die Wahrnehmung des in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung garantierten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften verlangt keine zentralistischen Einheitsregelungen auf der jeweils höchsten organisatorischen Ebene, sondern lässt es zu, den örtlichen Kirchengemeinden die Einzelheiten der gemeinschaftlichen Religionsausübung zu überlassen. Besteht daher keine kirchenrechtliche Bestimmung über das liturgische Läuten, so liegt es im Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Gemeinde, ihre eigenen Vorstellungen und Bräuche zu entwickeln und sich danach in ihrer liturgischen Praxis zu richten. Auch eine ungeschriebene örtliche Läuteordnung genießt demnach den vollen Schutz des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 Weimarer Reichsverfassung (vgl. BayVGH, Beschl. v. 11.01.2005 - 22 ZB 04.3246 -, BayVBI. 2005, 312, 313). So liegt der Fall hier.

23

Auch der Umstand, dass die Beklagte das morgendliche Gebetsläuten während eines Zeitraums von etwa Sommer 2001 bis Sommer 2003 nicht praktiziert hat, weil die {K.}-Kirche seinerzeit renoviert wurde, verhilft der Klage nicht zum Erfolg. Entgegen der Auffassung des Klägers entfällt dadurch nicht ein "Bestandsschutz" für das morgendliche Gebetsläuten. Dies schon deshalb nicht, weil ein Wegfall des Bestandsschutzes voraussetzt, dass das Läuten bereits vor der zweijährigen Unterbrechung lediglich aufgrund Bestandsschutzes zulässig war, jedoch nach der aktuellen Rechtslage nicht mehr zulässig wäre. Dies ist - wie bereits ausgeführt - gerade nicht der Fall.

24

Die negative Religionsausübung des Klägers aus Art. 4 GG wird durch das Gebetsläuten nicht beeinträchtigt. Die negative Komponente von Grundrechten bezieht sich ausschließlich auf die Nichtausübung des Grundrechts durch den Grundrechtsträger und hat sich darauf auch zu beschränken; der Versuch, aus der negativen Religions- bzw. Religionsausübungsfreiheit ein Recht darauf herzuleiten, dass andere auf eine von ihnen gewünschte positive Religionsausübung verzichten, geht im Ansatz fehl (Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog, Komm. z. GG, Rdnr. 60 zu Art. 4).

25

Der Kläger hat als Unterlegener gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

26

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO, §§ 708 Nr. 11,711 ZPO.

Gonschior