Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.12.2014, Az.: 1 Ws 343/14

Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Maßregelvollstreckungsverfahren nur bei fehlender Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten oder sonstigen Besonderheiten; Unzulässigkeit der rückwirkenden Pflichtverteidigerbeiordnung nach Abschluss des Verfahrens

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
18.12.2014
Aktenzeichen
1 Ws 343/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 31121
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2014:1218.1WS343.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 21.10.2014

Fundstelle

  • RPsych (R&P) 2015, 116-118

Amtlicher Leitsatz

Die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers ist auch dann schlechthin unzulässig und unwirksam, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, aber versehentlich nicht beschieden worden ist.

Im Maßregelvollstreckungsverfahren über die Fortdauer der Unterbringung (hier: in einer Entziehungsanstalt) ist dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder die Entscheidung von besonders hohem Gewicht und ersichtlich ist, dass sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u.a. Beschlüsse vom 20.06.2013 (1 Ws 167/13) und 11.08.2014 (1 Ws 232/14)) ist die Mitwirkung eines Verteidigers dabei in entsprechender Anwendung der §§ 140 Abs. 2, 141ff. StPO nicht in allen Fällen der Überprüfung gemäß § 67d und § 67e StGB, sondern nur dann erforderlich, wenn insbesondere aufgrund von Besonderheiten oder Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich es als evident erscheint, dass sich der Verurteilte angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, oder wenn sonst die Würdigung aller Umstände - wobei der Dauer der weiteren Freiheitsentziehung besonderes Gewicht zukommt - das Vorliegen eines schwerwiegenden Falles ergibt.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hannover wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) vom 21. Oktober 2014 aufgehoben und die Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. P. als Pflichtverteidiger abgelehnt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Staatskasse. Seine notwendigen Auslagen trägt der Verurteilte selbst.

Gründe

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Der Beschwerdegegner ist durch Urteil des Landgerichts Hannover vom 13.10.2010 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden (Bl. 2ff. Bd. I VH). Zugleich wurden seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Vorwegvollzug von 1 Jahr und 2 Monaten der verhängten Freiheitsstrafe angeordnet. Nach seiner Aufnahme im MRVZN Brauel vom 16.05.2011 wurde die Fortdauer der Unterbringung mit Beschlüssen der auswärtigen StVK des Landgerichts Göttingen am Amtsgericht Rotenburg (Wümme) mit Beschlüssen vom 04.11.2011, 08.05.2012, 02.11.2012, 26.04.2013, 24.10.2013 und 17.03.2014 angeordnet.

Das Landgericht Göttingen (auswärtige Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme)) setzte mit Beschluss vom 15.08.2014 auf Antrag des Beschwerdegegners v. 12.06.2014 (Bl. 198 Bd. II VH) auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens des Dr. R. v. 15.07.2014 (Bl. 1ff. Bd. III VH) und der ärztlichen Stellungnahme des MRVZN Brauel v. 18.06.2014 (Bl. 67ff. Bd. III VH) die Vollstreckung der Maßregel und des Strafrestes zur Bewährung aus, nachdem sowohl die Staatsanwaltschaft Hannover am 01.08.2014 (Bl. 74 Bd. III VH) als auch der Beschwerdegegner und sein Verteidiger am 30.07.2014 (Bl. 76 Bd. III VH) auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet hatten. Der Beschluss ist seit dem 06.09.2014 rechtskräftig (Bl. 85 Bd. III VH).

Im Rahmen der Anhörung zur Aussetzung des weiteren Vollzugs der Maßregel und wegen der Strafrestaussetzung zur Bewährung vom 15.08.2014 beantragte der Wahlverteidiger seine Beiordnung als Pflichtverteidiger (Bl. 84 Bd. III VH) mit der Begründung, dass er bereits in der Anhörung vom 17.03.2014 die Einholung eines Gutachtens beantragt und hieran am 13.05.2014 erinnert habe.

Nach der (ablehnenden) Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Hannover v. 05.09.2014 (Bl. 108 Bd. III VH) ordnete die auswärtige StVK des Landgerichts Göttingen bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) dem Beschwerdegegner mit dem angefochtenen Beschluss vom 21.10.2014 (Bl. 117 Bd. III VH) seinen bisherigen Wahlverteidiger für das Verfahren nach §§ 67d, 67e StGB als Pflichtverteidiger bei.

Gegen die Beiordnung richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hannover. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt wie erkannt.

Der Verteidiger des Beschwerdegegners ist der Ansicht, dass die nachträgliche Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger jedenfalls dann erfolgen müsse, wenn der Antrag rechtzeitig vor dem Abschluss des Verfahrens gestellt worden und entscheidungsreif gewesen sei. Darüber hinaus hätten die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft bereits im Antragszeitpunkt vorgelegen. Im Übrigen habe ihn die Strafvollstreckungskammer bereits durch widerspruchsloses Mitwirkenlassen im Verfahren stillschweigend als Pflichtverteidiger beigeordnet.

II.

Das von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel ist als einfache Beschwerde statthaft (§ 304 Abs. 1 StPO) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist überdies begründet.

1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers wirkt grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Bestellung. Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für ein im Rechtszug abgeschlossenes Verfahren ist grundsätzlich unzulässig (KG Berlin, Beschluss v. 09.03.2006, 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05, RN 11 m.w.N., juris; OLG Köln, Beschluss vom 13.12.2002 - 2 Ws 634/02 - RN 12, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 13.03.1997 - 2 Ws 148/97 -, juris). Das Verfahren vor dem Landgericht Göttingen, auswärtige Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme), auf das sich die angefochtene Entscheidung vom 21.10.2014 bezieht, war jedoch durch den seit dem 06.09.2014 rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Rotenburg (Wümme) vom 15.08.2014 (Bl. 85ff. Bd. III VH) bereits abgeschlossen.

Die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers ist auch dann schlechthin unzulässig und unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 20.07.2009 - 1 StR 344/08 -, NStZ-RR 2009, 348; OLG Hamm, Beschluss vom 10.07.2008 - 4 Ws 181/08 -, NStZ-RR 2009, 113), wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, aber versehentlich nicht beschieden worden ist (OLG Köln, Beschluss vom 28.01.2011 - 2 Ws 74/11 -, NStZ-RR 2011, 325; KG, Beschluss vom 27.02.2006 - 3 Ws 624/05 -, StV 2007, 343; KG, Beschluss vom 09.03.2006 - 5 Ws 563/05 -, StV 2007, 372 m.w.N.; OLG Bamberg, Beschluss vom 15.10.2007 - 1 Ws 676/07 -, NJW 2007, 3796 [OLG Bamberg 15.10.2007 - 1 Ws 675/07]). Zwar weist der Beschwerdegegner zutreffend darauf hin, dass demgegenüber in der Rechtsprechung vieler Landgerichte eine rückwirkende Bestellung für zulässig und geboten erachtet wird, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden worden ist (vgl. z.B. LG Hamburg, Beschluss vom 03.12.2013 - 632 Qs 31/13; LG Berlin, Beschluss vom 28.01.2004 - 504 Qs 8/04). Diese landgerichtliche Rechtsprechung veranlasst den Senat jedoch nicht, von seiner entgegenstehenden und der obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen.

2. Darüber hinaus war es auch nicht erforderlich, dem Verurteilten einen Pflichtverteidiger beizuordnen.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO lag nicht vor.

Die Beiordnung des Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO war nicht geboten. Im Maßregelvollstreckungsverfahren über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig, wenn sonst ersichtlich ist, dass sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann, oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist (KG, Beschluss vom 15.11.2001 - 1 AR 1413/01, 5 Ws 715/01, juris, Orientierungssatz 1). Diese Rechtsprechung ist auf den Bereich des Maßregelvollzugs in einer Entziehungsanstalt zu übertragen. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig, die auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 06.07.2009 - 2 BvR 703/09 -, juris) genügt, ist die Mitwirkung eines Verteidigers in entsprechender Anwendung der §§ 140 Abs. 2, 141ff. StPO nicht in allen Fällen der Überprüfung gemäß § 67d und § 67e StGB, sondern nur dann erforderlich, wenn insbesondere aufgrund von Besonderheiten oder Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich als evident erscheint, dass sich der Verurteilte angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, oder wenn sonst die Würdigung aller Umstände - wobei der Dauer der weiteren Freiheitsentziehung besonderes Gewicht zukommt - das Vorliegen eines schwerwiegenden Falles ergibt (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 20.06.2013 - 1 Ws 167/13 - und Beschluss vom 11.08.2014 - 1 Ws 232/14 -; unveröffentlicht, jeweils m.w.N.).

Es ist nicht ersichtlich, dass im vorliegenden Fall die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Durchführung eines fairen Verfahrens zwingend erforderlich gewesen wäre.

Aufgrund des schriftlichen Sachverständigengutachtens des Dr. R. vom 15.07.2014 hatten Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Verurteilter auf die Anhörung des Sachverständigen verzichtet, nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover (Bl. 74 Bd. III VH) übereinstimmend mit der ärztlichen Stellungnahme des MRVZN Brauel vom 18.06.2014 (Bl. 67ff. Bd. III VH) die Aussetzung der Maßregel und des Strafrestes zur Bewährung beantragt hatte. Schwierige Fragen rechtlicher oder tatsächlicher Art sind im Anhörungstermin nicht erörtert worden. Die Strafvollstreckungskammer hatte frühzeitig deutlich gemacht, dass sie den übereinstimmenden Anträgen folgen werde (Bl. 84 Bd. III VH). Soweit der Verteidiger seinen Antrag, als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden, damit begründet hatte, dass er bereits in der Anhörung am 17.03.2014 beantragt gehabt habe, ein Gutachten einzuholen, war dies unerheblich, da er seine Beiordnung erstmalig im folgenden Anhörungstermin vom 15.08.2014 beantragt hatte, in dem eine ausführliche Erörterung des Sachverständigengutachtens nicht mehr erforderlich war. Auch soweit es dort noch um die zu treffenden Weisungen und Auflagen ging, ist eine besondere Schwierigkeit nicht erkennbar. Ungewöhnliche Weisungen sind dem Verurteilten nicht erteilt worden und waren auch nicht zu erwarten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Beschwerdegegner seine Interessen insoweit nicht selbst sachgerecht hätte vertreten können.

3. Soweit der Beschwerdegegner die Ansicht vertreten hat, dass der angefochtene Beschluss lediglich deklaratorische Wirkung gehabt habe, da das Gericht die Mitwirkung des Verteidigers nach der Antragstellung auf Pflichtverteidigerbeiordnung im Anhörungstermin vom 15.08.2014 hingenommen und ihn damit bereits stillschweigend beigeordnet habe, ist dies unzutreffend.

Zwar kann die gerichtliche Bestellung als Pflichtverteidiger auch durch schlüssiges Verhalten des Vorsitzenden erfolgen. Hierfür ist in jedem Fall aber erforderlich, dass das Verhalten des Vorsitzenden unter Beachtung der sonstigen maßgeblichen Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt. Hat sich der Rechtsanwalt zunächst als Wahlverteidiger bestellt und hat er sein Mandat in der Folgezeit weder vor noch in der Hauptverhandlung (hier: im Anhörungstermin) niedergelegt, so schließt dies die Annahme, der Vorsitzende habe ihn schlüssig zum Pflichtverteidiger bestellt, aus (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 13. März 1997 - 2 Ws 148/97 -, juris).

4. Schließlich unterlag die angefochtene Entscheidung auch der Inhaltskontrolle des Senats. Die Frage, ob die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbeiordnung vorliegen, betrifft nicht die Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite, sondern bereits die Voraussetzungen der anzuwendenden Norm des § 140 Abs. 2 StPO, bei deren Vorliegen sodann ein Verteidiger beizuordnen ist, hinsichtlich dessen Person ein Ermessen des Vorsitzenden besteht (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, 2014, § 141 RN 9). Hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen besteht lediglich ein der vollumfänglichen Inhaltskontrolle des Beschwerdegerichts unterliegender Beurteilungsspielraum (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, 2014, § 140 RN 22). Mit der rückwirkenden Bestellung eines Verteidigers hat die Strafvollstreckungskammer den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten, da die nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens schlechthin unzulässig und unwirksam war.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 2 sowie einer entspr. Anwendung von Abs. 4 StPO. Es entsprach der Billigkeit, die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Staatskasse aufzuerlegen, jedoch davon abzusehen, ihr auch die notwendigen Auslagen des Beschwerdegegners aufzuerlegen, nachdem das Rechtsmittel weder zu Gunsten noch zu Lasten des Beschwerdegegners eingelegt worden ist, da die Staatsanwaltschaft lediglich ihre Aufgabe wahrgenommen hatte, die von ihr angefochtene Gerichtsentscheidung mit dem Gesetz in Einklang zu bringen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, 2014, § 473 RN 22).