Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 24.06.2005, Az.: 6 B 3346/05
Grundwehrdienst, Studium; Studium im Praxisverbund; Wehrdienst, Berufsausbildung; Wehrdienst, Studium; Zurückstellung, Berufsausbildung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 24.06.2005
- Aktenzeichen
- 6 B 3346/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50695
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 12 Abs 4 S 2 Nr 3 WehrPflG
- § 4 BBiG
- § 36 Abs 1 BBiG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die im Rahmen eines Vertrages über das "Studium im Praxisverbund" bei der Volkswagen AG vereinbarte Parallelausbildung zum Industriekaufmann stellt eine Berufsausbildung im Sinne des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG dar.
Gründe
I. Der am D. 1986 geborene Antragsteller wurde mit Musterungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Hannover vom 8. Februar 2005 als wehrdienstfähig und verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten gemustert. Im Hinblick auf den bevorstehenden Erwerb der allgemeinen Hochschulreife wurde er bis zum 30. Juni 2005 vom Wehrdienst zurückgestellt. Am 30. März 2005 schloss der Antragsteller mit der Volkswagen AG einen Vertrag über ein „Studium im Praxisverbund“ nach Maßgabe des zwischen der Volkswagen AG und der IG Metall - Bezirksleitung Niedersachsen und Sachsen-Anhalt vereinbarten und am 1. September 2005 in Kraft tretenden Tarifvertrags vom 28. Februar 2005. Der Vertrag sieht eine am 1. September 2005 beginnende zweistufige Ausbildung des Antragstellers über einen Zeitraum von neun Semestern vor. Hierzu wird der Antragsteller an einer Fachhochschule in der Studienrichtung Technischer Vertrieb ausgebildet. Zugleich erhält er während des Grundstudiums eine Ausbildung bei der Volkswagen AG zum Industriekaufmann nach Maßgabe der Ausbildungs- und Prüfungsvorgaben der Industrie- und Handelskammer (IHK).
Unter Hinweis auf diese Ausbildung und Vorlage des Vertrages beantragte der Antragsteller am 7. April 2005 seine weitere Zurückstellung vom Wehrdienst, die das Kreiswehrersatzamt Hannover mit Bescheid vom 26. April 2005 ablehnte. Mit Einberufungsbescheid vom selben Tag berief das Kreiswehrersatzamt Hannover den Antragsteller unter Anordnung des Dienstantritts am 4. Juli 2005 zur Ableistung des Grundwehrdienstes beim Fernmeldebataillon 1 in Rotenburg (Wümme) ein. Den Widerspruch des Antragstellers gegen beide Bescheide wies die Wehrbereichsverwaltung Nord, Hannover, mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2005 zurück.
Der Antragsteller hat am 10. Juni 2005 im Hauptsacheverfahren 6 A 3344/05 Klage gegen die Bescheide des Kreiswehrersatzamtes Hannover vom 26. April 2005 und den Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2005 erhoben.
Im vorliegenden Verfahren hat der Antragsteller am 10. Juni 2005 um vorläufigen Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung des Einberufungsbescheides nachgesucht. Er macht geltend, dass er sich bei einer Verschiebung des Ausbildungsbeginns bei der Volkswagen AG nach Ableistung des Wehrdienstes erneut um ein Studium im Praxisverbund bewerben müsste, wobei unsicher sei, ob er dann in dem Auswahlverfahren Erfolg hätte. Jedenfalls gehe ihm mit der Einberufung ein gesicherter Ausbildungsplatz verloren. Die Antragsgegnerin verkenne, dass er kein übliches Studium aufnehmen wolle, dessen Beginn sich verschieben lasse. Auch die Auffassung der Antragsgegnerin, dass sein Ausbildungsverhältnis nach § 1 Abs. 1 Arbeitsplatzschutzgesetz ruhe, sei falsch.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Hannover vom 26. April 2005 und den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung Nord, Hannover, vom 12. Mai 2005 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin vertritt die Auffassung, dass im Fall des Antragstellers ein Zurückstellungsgrund nicht vorliege. Seine Ausbildung bei der Volkswagen AG sehe ein Studium in einem geregelten neunsemestrigen Studiengang vor, so dass ihm ein Zurückstellungsgrund nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 Buchst. c) Wehrpflichtgesetz (WPflG) nicht zustehe. Da der Antragsteller dieses Studium noch nicht begonnen habe, liege auch ein Zurückstellungsgrund nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 Buchst. b) WPflG nicht vor. Im Übrigen liege eine besondere Härte auch nicht in Gestalt des Verlustes einer einmaligen Berufschance vor. Das Berufsausbildungsverhältnis des Antragstellers sei nach § 15 Arbeitsplatzschutzgesetz geschützt, es ruhe während des angeordneten Wehrdienstes.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts verweist die Kammer auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und den Inhalt der für die Entscheidung beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin.
II. Der gem. § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 2 WPflG zulässige Antrag ist begründet.
Die im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz gegen den Sofortvollzug des Einberufungsbescheides vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der Abwehr der Vollzugsfolgen und dem Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Durchsetzung der Wehrpflicht geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach § 33 Abs. 4 Satz 2 WPflG hat der Widerspruch gegen den Einberufungsbescheid im vorliegenden Verfahren kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung. Ein Antragsteller muss daher im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO seine Pflicht zur Ableistung des angeordneten Wehrdienstes mit überwiegender Aussicht auf Erfolg bestreiten können, wenn sein Rechtsschutzbegehren zum Ziel führen soll. Das ist vorliegend der Fall. Die Einberufung des Antragstellers erweist sich nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht als rechtmäßig:
Der Antragsteller hat nach summarischer Beurteilung des Sachverhalts - mit Verbindlichkeit für die Entscheidung im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz - glaubhaft gemacht, dass seiner Einberufung zum Wehrdienst ab 1. Juli 2005 eine neu eingetretene Wehrdienstausnahme entgegen steht. Er kann danach mit Blick auf den Gestellungstermin seine Zurückstellung vom Wehrdienst beanspruchen. Nach § 12 Abs. 4 Satz 1 WPflG setzt die Zurückstellung wegen persönlicher, wirtschaftlicher und beruflicher Gründe voraus, dass die Heranziehung zum Wehrdienst für den Wehrpflichtigen mit Blick auf den Dienstantrittstermin eine besondere Härte bedeutet.
Eine besondere Härte stellt die mit Dienstantritt zum 4. Juli 2005 verfügte Heranziehung des Antragstellers zum Grundwehrdienst in Bezug auf das mit Wirkung vom 1. September 2005 eingegangene Ausbildungsverhältnis mit der Volkswagen AG dar.
Nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG liegt eine besondere Härte im oben genannten Sinne als Zurückstellungsgrund in der Regel vor, wenn die Einberufung des Wehrpflichtigen
a) eine zu einem schulischen Abschluss führende Ausbildung,
b) ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium, in dem zum vorgesehenen Diensteintritt das dritte Semester bereits erreicht ist, oder einen zu einem Drittel absolvierten sonstigen Ausbildungsabschnitt oder
c) eine bereits begonnene Berufsausbildung unterbrechen oder die Aufnahme einer rechtsverbindlich zugesagten oder vertraglich gesicherten Berufsausbildung verhindern würde.
Das Gericht teilt nicht die Auffassung der Antragsgegnerin zur rechtlichen Einordnung des Vertrages über das „Studium im Praxisverbund“ unter die vorstehend genannten Zurückstellungsregelungen. Vielmehr liegt ein Tatbestand der zuletzt genannten Alternative des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG, wonach eine besondere Härte in der Regel vorliegt, wenn die Einberufung des Wehrpflichtigen die Aufnahme einer vertraglich gesicherten Berufsausbildung verhindern würde. Dass der Antragsteller auch die vertraglichen Voraussetzungen der geschlossenen Zusatzvereinbarung über das Mindestergebnis seiner Abiturnote erfüllt, hat er durch Vorlage des Gesamtnotenüberblicks mit Schriftsatz vom 20. Juni 2005 glaubhaft gemacht. Danach hat er in der Abiturprüfung eine Punktzahl von 600 erreicht, was nach Anlage 3 zu § 14 der Verordnung über die Abschlüsse in der gymnasialen Oberstufe, im Fachgymnasium, im Abendgymnasium und im Kolleg (AVO-GOFAK) einer Abiturnote von 2,0 entspricht.
Es trifft zwar zu, dass das in dem Ausbildungsvertrag vom 30. März 2006 vereinbarte Fachhochschulstudium des Antragstellers noch nicht weitgehend gefördert ist und daher nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 Buchst. b) WPflG allein eine Zurückstellung nicht begründen kann. Die Antragsgegnerin verkennt jedoch, dass die Fachhochschulausbildung des Antragstellers in der Studienrichtung Technischer Vertrieb nicht die einzige im Vertrag vom 30. März 2005 vereinbarte Ausbildung des Antragstellers ist. Die Besonderheit des „Studiums im Praxisverbund“ besteht darin, dass die Auszubildenden einerseits ihr Fachhochschulstudium absolvieren und dabei andererseits im Rahmen der zeitlich während des Grundstudiums parallel durchgeführten betrieblichen Ausbildung zum Facharbeiter ausgebildet werden. Auszubildende, die einen Ausbildungsvertrag nach Maßgabe des Tarifvertrags „Studium im Praxisverbund“ vom 28. Februar 2005 mit der Volkswagen AG abschließen, erwerben danach innerhalb der Regelstudienzeit von neun Semestern zwei berufliche Qualifikationen, und zwar einen Fachhochschulabschluss sowie in einem anerkannten Ausbildungsberuf nach § 4 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) einen berufsqualifizierenden Abschluss (vgl. § 36 Abs. 1 BBiG).
Der Umstand, dass abweichend von den bisher bekannten Inhalten des „Studiums im Praxisverbund“ der Antragsteller eine kaufmännische Ausrichtung seiner Ausbildung und damit nicht eine Berufsausbildung zum Facharbeiter, sondern zum Industriekaufmann gewählt hat, ändert nichts daran, dass er neben seiner Fachhochschulausbildung eine am 1. September 2005 beginnende weitere Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf, die im herkömmlichen dualen Unterrichtssystem am Arbeitsplatz und in der Berufsschule vermittelt wird (vgl. das zum Vertragsgegenstand gemachte Merkblatt „Studium im Praxisverbund“, Bl. 15 GA), vereinbart hat.
Diese Ausbildung, nämlich die am 1. September 2005 beginnende Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Volkswagen AG, fällt jedoch als Berufsausbildung im Sinne des BBiG zweifelsfrei unter das in § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG zuletzt genannte Regelbeispiel einer bereits vereinbarten Berufsausbildung. Dass sie nach dem Willen der Vertragsparteien eine untrennbar mit dem zugleich aufzunehmenden Fachhochschulstudium ändert an ihrem Rechtscharakter nichts. Das folgt schon daraus, dass beide Ausbildungsgänge unterschiedlich erfolgreich absolviert werden können. Gründe, die Ausbildung des Antragstellers zum Industriekaufmann abweichend von der Regel des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 WPflG nicht unter den Schutz der Zurückstellungsgründe zu stellen, sind daher nicht erkennbar.