Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 05.10.2006, Az.: 1 B 4127/06
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 05.10.2006
- Aktenzeichen
- 1 B 4127/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 44732
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2006:1005.1B4127.06.0A
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz/Leitsätze:
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Folgeverfahren
Änderung der Sachlage bei der Verschlechterung eines Krankheitsbildes
Unzureichende Kostenübernahmeerklärung (ohne Klärung der tatsächlichen Kosten für Behandlung und Medikation im Heimatland)
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Landkreis Leer als zuständige Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die vorgesehene Abschiebung der Antragstellerin nicht vollzogen werden darf.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Das einstweilige Rechtsschutzbegehren ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Die gem. § 123 Abs. 5 VwGO vorrangigen §§ 80, 80 a VwGO sind nicht anzuwenden, da kein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliegt. Im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. November 2005 ist entsprechend der Regelung in § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG für Folgeanträge, die nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens berechtigen, keine erneute Fristsetzung und Abschiebungsandrohung oder -anordnung erlassen worden. Die in § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG vorgesehene formlose Mitteilung des Bundesamtes über das Ergebnis der Prüfung des Folgeantrages an die abschiebende Behörde ist nicht als Verwaltungsakt mit Außenwirkung anzusehen. Die Wirkung dieses Aktes gegenüber der Ausländerbehörde kann jedoch durch eine entgegenstehende Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wieder aufgehoben werden. Diese Mitteilung kann im Rahmen eines Antrages nach § 123 Abs. 1 VwGO auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gerichtlich erfochten werden (vgl OVG Weimar, Urteil vom 16. Juli 1999 - 3 EO 510/99 - NVwZ-Beil. I 2000, 38; OVG Münster, Beschluss vom 9. Februar 2000 - 18 B 1141/99 - juris; OVG Hamburg, Beschluss vom 14. August 2000 - 4 Bs 48/00.A - NVwZ-Beil. I 2001,.9; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. September 2000 - 11 S 988/00 - NVwZ-Beil. I 2001, 8).
Der für eine derartige Anordnung erforderliche Anordnungsgrund liegt vor. Für die Antragstellerin soll nach den Angaben des Landkreises ... in einem Bescheid vom 26. Juli 2006 die Abschiebung beim zuständigen Landeskriminalamt beantragt werden, da Passersatzpapiere vorliegen.
Der Antragstellerin steht auch ein Anordnungsanspruch iSv § 123 Abs. 1 zu. Die Voraussetzungen von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, wonach ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Absätze 1 bis 3 VwVfG vorliegen, sind hier gegeben. Hierfür ist erforderlich, dass sich die dem Verwaltungsakt zu Grunde liegende Sach- und Rechtslage nachträglich zu Gunsten der Betroffenen geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden oder es müssen Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sein.
Für die Antragstellerin ist hier eine Änderung der Sachlage im Hinblick auf ein Verbot der Abschiebung nach Aserbaidschan gem. § 60 Abs. 7 AufenthG eingetreten, die jedenfalls der kurzfristig geplanten Abschiebung entgegen steht. Aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen vom 9. Mai und 3. Juni 2005 sowie vom 31. Juli 2006 ergibt sich eine neue Qualität hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin. Den Ausführungen in dem Bescheid des Bundesamtes vom 2. November 2005, wonach den Bescheinigungen vom 9. Mai und 3. Juni 2005 nicht entnommen werden könne, dass sich das bei der Antragstellerin diagnostizierte Krankheitsbild seit Abschluss des Erstverfahrens derart geändert haben könnte, dass die ihr bei einer Rückkehr in ihr Heimatland drohende Gefahr anders beurteilt werden müsste, kann nicht gefolgt werden. Dem Urteil im Erstverfahren (1 A 484/02) lagen ärztliche Bescheinigungen des Evangelischen Krankenhauses ... vom 25. Juli 2001 und des Epilepsie-Zentrums ... vom 1. Juli 2004 zu Grunde. Aus diesen Bescheinigungen wurde nicht ersichtlich, dass für die Antragstellerin ein besonderes Krankheitsbild vorliegt, welches trotz Inanspruchnahme der bei Epilepsie grundsätzlich vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten in Aserbaidschan eine erhebliche Verschlechterung der Krankheit und eine damit einhergehende konkrete Bedrohung für Leib und Leben im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland nach sich zöge. Demgegenüber wird in den Schreiben des Arztes für Neurologie ... vom 9. Mai und 3. Juni 2005 neben der fokalen symptomatischen Epilepsie auch eine chronische Encephalitis (Rasmussenencephalitis) diagnostiziert. Die Rasmussenencephalitis befällt eine der beiden Großhirnhälften und zerstört diese in einem Monate bis Jahre dauernden Krankheitsprozess (Klinik für Epileptologie - Universitätsklinikum Bonn; http://www.epileptologie-bonn.de). In den Schreiben vom 9. Mai und 3. Juni 2005 wird weiter ausgeführt, dass die Antragstellerin regelmäßig einer sehr aufwändigen medikamentösen Behandlung und einer ergotherapeutischen Betreuung bedarf. Es handele sich um eine sehr komplizierte Erkrankung, die auch beim Einsatz modernster Medikamente nur sehr begrenzt beeinflussbar sei. Ohne Behandlung würde sich die Erkrankung innerhalb weniger Wochen wahrscheinlich in einen desolaten Zustand entwickeln, verbunden mit einem schweren geistigen wie körperlichen Verfall. Diese Diagnose spiegelt sich in der Medikation der Antragstellerin wider. Nach dem Bericht des Evangelischen Krankenhauses Oldenburg vom 25. Juli 2001 wurde die Antragstellerin ursprünglich mit Valproinsäure, Primidon und Clobazam behandelt. Valproinsäre ist eines der weltweit am häufigsten verwendeten Medikamente gegen Epilepsie (vgl. http://www.epilepsie-netz.de). Primidon bzw. Phenobarbital ist ebenfalls eines der ältesten und weltweit am häufigsten (da sehr billig) verwendeten Medikamente gegen Epilepsie (ebd.). Bei Clobazam handelt es sich um eine Benzodiazepim, das als Notfallmedikament herangezogen wird (ebd.). Die Antragstellerin wurde nach dem Bericht des Evangelischen Krankenhauses ... bereits in Aserbaidschan mit Valproinsäure, Barbituraten und dem Benzodiazepim Diazepam (Valium) behandelt.
Die Anfallshäufigkeit und - stärke konnte damit aber offensichtlich nicht unter Kontrolle gebracht werden. Nach den Ausführungen von Herrn ... musste die Antragstellerin anschließend stattdessen mit Levetiracetam (Keppra), Lamotrigin und Pregabilin (Lyrica) therapiert werden. Es handelt sich dabei um Medikamente der neueren Generation bzw. bei Pregabilin sogar dem neuesten Medikament gegen Epilepsie, das in Deutschland zugelassen worden ist (vgl. wiederum http://www.epilepsie-netz.de). Mit diesen Medikamenten wird die Antragstellerin nach dem ärztlichen Bericht des Klinikums Emden vom 31. Juli 2006 auch derzeit noch therapiert. Aus diesem Bericht ergibt sich zudem, dass die Antragstellerin seit September 2004 mindestens zweimal (21.9 - 30.10. 2004, 10.2.- 31.3. 2005) im Epilepsie-Zentrum ... und vom 10.7.-3.8. 2006 in der Neurologischen Klinik des Klinikums ... (Diagnostik- und Therapieschwerpunkt u.a. Epilepsie) stationär behandelt werden musste. Für die Antragstellerin war mithin seit 2004 jährlich mindestens eine mehrwöchige stationäre fachspezifische Behandlung erforderlich.
Beide dargelegten Aspekte - die neue Medikation sowie die Häufung stationärer Behandlungen - machen deutlich, dass hier nunmehr ein diagnostiziertes Krankheitsbild vorliegt, was sich erheblich von dem unterscheidet, das dem Urteil im Erstverfahren zugrunde lag. Dies gilt bereits hinsichtlich der grundsätzlich in Aserbaidschan zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten. Spezialisierte Epilepsie-Zentren, wie sie hier regelmäßig in Anspruch genommen werden müssen, dürften nicht existieren. Auch die grundsätzliche Verfügbarkeit der nun erforderlichen Medikamente neuerer Generation ist fraglich. Hinreichend spezifische Auskünfte zu beiden Komplexen liegen jedenfalls nicht vor. Bereits diese Umstände machen eine weitere Aufklärung im Hauptsacheverfahren erforderlich. Selbst dann, wenn grundsätzlich geeignete Behandlungsmöglichkeiten bestünden und die erforderlichen Medikamente verfügbar wären, ist aber nicht hinreichend ersichtlich, dass die Antragstellerin diese in Anspruch nehmen könnte. Eine stationäre Behandlung ist nur gegen Bezahlung möglich (vgl. Lagebericht Aserbaidschan vom 23. März 2006), Medikamente sind zwar grundsätzlich beschaffbar, wobei die Beschaffungsdauer in einzelnen Fällen aber bis zu drei Monaten betragen kann und die Kosten sich - ebenfalls in Einzelfällen - auf das Zwei- bis Dreifache des in Deutschland üblichen Preises belaufen (Deutsche Botschaft in Baku an VG Wiesbaden vom 7. Juli 2004). Die vom Landkreis ... für zwei Jahre in Aussicht gestellte Kostenübernahme in Höhe von jährlich maximal 2.500 Euro erweist sich vor diesem Hintergrund aller Voraussicht nach bereits hinsichtlich des dabei jährlich zur Verfügung stehenden Betrages als unzureichend. Bereits die für die Antragstellerin derzeit erforderlichen Medikamente kosten nach den Angaben von Herrn ... monatlich 1.428,82 Euro. Da es sich um Medikamente handelt, die selbst in Deutschland erst seit kürzerer Zeit zugelassen sind, spricht viel dafür, hier einen Einzelfall im Sinne der o.g. Auskunft vom 7. Juli 2004 anzunehmen. Hinzu kämen dann noch die Kosten für die aller Voraussicht nach auch in Aserbaidschan weiterhin nötigen stationären Behandlungen, soweit diese überhaupt verfügbar sind. Zur Verhinderung irreparabler Nachteile für die Antragstellerin ist folglich selbst unter Berücksichtigung der Kostenübernahme im Hauptsacheverfahren zu klären, welche Kosten für die erforderliche Behandlung und Medikation in Aserbaidschan tatsächlich entstünden. Diese Klärung ist nötig; für die behandlungsbedürftige Antragstellerin besteht ohne hinreichende Behandlungsmöglichkeit und Medikamentenversorgung in Aserbaidschan eine Gefährdungslage im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG. Im Hauptverfahren wird gegebenenfalls zudem der Frage nachzugehen sein, ob angesichts der diagnostizierten chronischen Erkrankung einerseits und der Verdienstmöglichkeiten in Aserbaidschan andererseits die Sicherung der Behandlung und Medikation nach Ablauf einer auf zwei Jahre begrenzten Kostenübernahme realistisch ist bzw. durch welche konkreten Maßnahmen die Realisierung einer Kostenübernahme sichergestellt werden kann.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).