Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 27.04.2004, Az.: 4 B 207/04

Anordnung; Brille; Brillenglas; Darlehen; Eilverfahren; einstweilige Anordnung; Interessenabwägung; Kosten; Praxisgebühr; Regelsatz; Regelsatzleistung; Regelsatzverordnung; Sozialhilfe; Zuzahlung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
27.04.2004
Aktenzeichen
4 B 207/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50989
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller darlehensweise eine einmalige Beihilfe in Höhe vom 90 € für die Beschaffung von Brillengläser zu gewähren.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Gründe

1

Der Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, ihm für die Beschaffung von Brillengläsern eine einmalige Beihilfe in Höhe von 90 EUR zu gewähren, hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; der weitergehende Antrag ist unbegründet.

2

Seit Januar 2004 haben Sozialhilfeberechtigte im Falle eines Arztbesuches die Praxisgebühr sowie die Zuzahlung für Arzneimittel und Verbandskosten und einen Fahrtkostenanteil selbst zu tragen. Ob dies für Brillengläser auch gilt und wenn ja in welcher Höhe, ist den gesetzlichen Regelungen nicht zu entnehmen.

3

Das Gericht kann angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller ohne die ihm verordneten Brillengläser um 20 % vermindert sehen kann und deshalb eine zeitnahe Entscheidung erforderlich ist, nicht abschließend klären, ob der Antragsteller aufgrund der neuen ab dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung des § 1 Abs. 1 Satz 2 der Regelsatzverordnung (vgl. Artikel 29 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, BGBl. I, 2190, 2255) verpflichtet ist, die Kosten der von ihm benötigten Brillengläser aus den Regelsatzleistungen selbst zu tragen. Nach der aktuellen Fassung des § 1 Abs. 1 Satz 2 Regelsatzverordnung umfassen die Regelsätze u.a. auch die Leistungen für Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe, soweit sie nicht nach den §§ 36 bis 38 des Bundessozialhilfegesetzes übernommen werden. Aus der gleichzeitigen Streichung des bisherigen § 38 Abs. 2 BSHG wird deutlich, dass hiervon die auch von Versicherten zu tragenden Eigenleistungen, d.h. insbesondere die neu eingeführte Praxisgebühr (§ 28 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 61 Satz 2 SGB V), die Zuzahlung für Arznei und Verbandmittelkosten (§ 31 Abs. 3 i.V.m. § 61 Satz 1 SGB V) sowie der vom Versicherten selbst zu tragende Fahrkostenanteil (§§ 60, 61 SGB V), erfasst werden sollen (vgl.: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 9. März 2004 – 12 ME 64/04 –). Es kann im vorliegenden Eilverfahren gegenwärtig jedoch nicht hinreichend sicher geklärt werden, ob dies auch für die Kosten von Brillengläsern gilt, auf deren Erstattung die Versicherten – trotz ärztlicher Verordnung – nach § 33 SGB V keinen Anspruch haben und die deshalb auch jenseits der Belastungsgrenzen von ihnen selbst zu tragen sind.

4

Im Rahmen einer Interessenabwägung überwiegt das Interesse des Sozialhilfeberechtigten auf Gewährung eines Darlehen zwecks Brillenerwerbs, wenn ihm eine Verbesserung der Sehfähigkeit um 20% bescheinigt wird und er bereit ist, verhältnismäßig billige Brillengläser zu verwenden. Gegenüber diesem Interesse tritt das öffentliche Zinsinteresse zurück.

5

Vor dem Hintergrund dieser noch offenen Rechtsfrage und angesichts der möglichen Grundrechtsbetroffenheit des Antragstellers ist im Rahmen des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine Interessenabwägung durchzuführen, d.h. zu entscheiden, ob eine Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Dabei sind die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, im Hauptsacheverfahren aber der Erfolg zu versagen wäre. Die Abwägung der gegenseitigen Interessen ergibt, dass diejenigen des Antragstellers unter Berücksichtigung der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles ein deutlich höheres Gewicht haben. So bescheinigt ihm der behandelnde Arzt bei Verwendung der verordneten Gläser eine Verbesserung seiner Sehfähigkeit um 20 % gegenüber den derzeit von ihm benutzten Gläsern. Soweit die Antragsgegnerin in Frage stellt, ob es sich bei den in Auftrag gegebenen Gläsern um die verordneten Gläser handelt ist anzumerken, dass sich der Antragsteller statt der verordneten Gleitsichtbrille für bifokale Gläser entschieden hat, die ebenfalls der ärztlichen Verordnung entsprechen, aber deutlich billiger sind. Der im laufenden Bezug stehende Antragsteller ist aufgrund seiner Bedürftigkeit jedenfalls nicht in der Lage, die hinsichtlich ihrer Höhe angemessen erscheinenden Kosten der ihm verordneten Gläser in einer Summe aufzubringen, zumal er bereits den ihm zuzumutenden Eigenanteil für chronisch Kranke geleistet hat, so dass er jedenfalls einen Anspruch auf Gewährung eines Darlehens (vgl.: § 15 a Abs. 1 Satz 1 BSHG) zur Beschaffung der von ihm hinreichend dringend benötigten Brillengläser hat. Dem steht auf Seiten der Antragsgegnerin nur ein geringfügiges Zinsinteresse entgegen. Hingegen ist dem Antragsteller zuzumuten in einem sich evtl. anschließenden Hauptsacheverfahren klären zu lassen, ob ihm die Beihilfe zu belassen ist.

6

Die Kostenentscheidung beruht auf einer Anwendung der Regelungen in den §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.