Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 29.02.2012, Az.: 11 A 1512/11

Passpflicht; Absehen von Passpflicht; Erfüllung der Passpflicht

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
29.02.2012
Aktenzeichen
11 A 1512/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44516
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine Ermessensentscheidung, ob eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen trotz Nichterfüllung der Passpflicht erteilt wird, ist nicht schon deshalb entbehrlich, weil kein atypischer Fall vorliegt und der betroffene Ausländer einen Pass erlangen könnte,
2. Die Ermessensausübung muss insbesondere die familiäre Situation des Ausländers, den Zweck, den die Vorlage eines Reisepasses im konkreten Fall erfüllen soll, den Aufwand und die Zeitdauer, die zur Erfüllung der Passpflicht erforderlich sind, sowie die mit der Beantragung eines Passes verbundenen Nachteile und Gefahren einbeziehen.
3. Die Beschaffung eines Passes ist für syrische Staatsbürger nicht erst an dem Tag unzumutbar geworden, an dem das Nds. Innenministerium die Ausländerbehörden entsprechend instruiert hat (8. Februar 2012). Das entsprechende Schreiben des MI referiert nur eine Entwicklung, die sich im Laufe des Jahres 2011 ereignet hat. Im Zweifel dürfte die Beantragung eines Reisepasses mit dem Beginn der politischen Unruhen in Syrien unzumutbar geworden sein.

Tatbestand:

Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige. Sie wurde am 13. November 2007 in ………. ………. geboren. Ihr Mutter, Frau ……………, besaß zu diesem Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Ihr Vater, Herr …………………….., wurde damals nach einem erfolglosen Asylverfahren in Deutschland geduldet. Am 13. Dezember 2007 wurde für die Klägerin ein Asylantrag gestellt, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 29. Januar 2008 nach § 30 Abs. 1 AsylVfG als offensichtlich unbegründet ablehnte. Der Bescheid ist seit dem 7. Februar 2008 bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 20. Mai 2008 wandte sich ein Herr ………………….. im Namen der Klägerin an den Beklagten und bat darum, ein "Personaldokument" auszustellen, "aus dem ihr Aufenthaltsstatus hervorgeht."

Der Beklagte bescheinigte der Klägerin unter dem 23. Mai 2008 zur Vorlage bei der syrischen Botschaft Folgendes: "Die Vorlage eines syrischen Reisepasses ist erforderlich, damit dem Kind eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann." Unter demselben Datum teilte er Herrn ………….. schriftlich mit: "Um für das Kind eine Aufenthaltserlaubnis erteilen zu können, benötigen wir einen syrischen Reisepass.."

Am 29. Mai 2008 wurde für die Klägerin - offenbar vertreten durch die Mutter - auf einem entsprechenden Formular des Beklagten "die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 (5)/ 33 AufenthG" beantragt.

Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 forderte der Beklagte die Klägerin auf, umgehend einen Pass vorzulegen oder die Hinderungsgründe mitzuteilen.

Mit Schriftsatz vom 23. Juli 2009 - beim Beklagten eingegangen am 27. Juli 2009 -, beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach jeder in Betracht kommenden Rechtsgrundlage. In einem weiteren Schreiben vom 26. November 2009 begründete er die Nichtvorlage des Passes damit, dass hierfür eine Fahrt zur syrischen Botschaft nach Berlin nötig sei, deren Kosten die Mutter der Klägerin nicht aufbringen könne. Der Beklagte antwortete mit Schreiben vom 20. April 2010, "dass die Vorlage eines syrischen Passes erforderlich ist, um über den weiteren Aufenthalt der Tochter entscheiden zu können." In einem Vermerk des Beklagten vom 12. Oktober 2010 (Bl. 36 d. VV) heißt es: "Es ist zwingend erforderlich, dass die Geburt des Kindes durch die Eltern registriert wird und dass ein syrischer Pass augestellt wird."

Am 31. Oktober 2010 lief der reguläre Geltungszeitraum der Aufenthaltserlaubnis der Mutter der Klägerin ab. Ihr rechtzeitig gestellter Verlängerungsantrag wurde vom Beklagten mit Bescheid vom 18. April 2011 abgelehnt. Die Mutter der Klägerin erhob hiergegen eine Klage (11 A 591/11), deren aufschiebende Wirkung die erkennende Kammer mit Beschluss vom 23. Juni 2011 - 11 B 1310/11 - anordnete. Die Kammer hielt es für denkbar, dass der Mutter der Klägerin wegen ihrer Verwurzelung in Deutschland ein Recht auf weiteren Aufenthalt aus Art. 8 EMRK zustehen könnte. Im Verlauf des Klageverfahrens hob der Beklagte den Ablehnungsbescheid auf und sicherte zu, der Mutter - für die das Bundesamt inzwischen ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 2 AufenthG festgestellt hatte - eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen.

Am 24. Februar 2011 beantragte die Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Der Antrag wurde vom Bundesamt mit Bescheid vom 24. März 2011 abgelehnt. Mit Schreiben vom 14. März 2011 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Am 3. Mai 2011 sprach die Mutter der Klägerin beim Beklagten vor und erklärte, dass sie keinen Pass mehr für ihre Tochter beantragen wolle, da mit Hilfe des Passes der Aufenthalt beendet werden könnte.

Die Klägerin hat am 5. Juli 2011 Untätigkeitsklage erhoben. Zur Begründung verwies sie zunächst auf die Entscheidung des Gerichts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend ihre Mutter. Später wies sie darauf hin, dass ihrem Vater und ihrer Mutter inzwischen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 AufenthG zuerkannt worden seien.

In Anbetracht der neueren Entwicklungen bezüglich des Vaters und der Mutter der Klägerin erklärte sich der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. Februar 2012 bereit, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG zu erteilen. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Vertreterin des Beklagten, der Aufenthaltstitel sei bereits bei der Bundesdruckerei in Auftrag gegeben worden und werde in circa drei Wochen erteilt werden können. Daraufhin erklärten beide Beteiligte den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend für erledigt.

Die Klägerin hat ursprünglich beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Sie beantragt nunmehr,

den Beklagten zu verpflichten, die Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zum 13. November 2007 zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er darauf, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Vergangenheit lediglich am fehlenden Reisepass gescheitert sei. Die Vorlage eines Passes sei damals erforderlich gewesen. Die Eltern der Klägerin besäßen ebenfalls einen Reisepass. Die Mutter habe vom Sozialamt sogar einen Vorschuss für die Fahrtkosten zur Botschaft nach Berlin erhalten, habe es sich dann aber aus Angst vor einer Abschiebung anders überlegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Ausländerakten der Klägerin, ihrer Mutter und ihres Vaters verwiesen.

Entscheidungsgründe

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Soweit die Klägerin darüber hinaus die Verpflichtung des Beklagten zur rückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt, ist die Klage zulässig. Ein Ausländer hat ein schutzwürdiges Interesse an einer Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung, wenn für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an er den Aufenthaltstitel besitzt (st. Rspr. des BVerwG, vgl. z. B. Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7/08 -, InfAuslR 2009, 378 ff. - zit. nach juris Rn. 13; Urteil vom 15. Juli 1997 - 1 C 15/96 -, InfAuslR 1998, 10 ff. - zit. nach juris Rn. 12). Vorliegend kann die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Klägerin die Aufenthaltserlaubnis erteilt und ihr bisher rechtswidriger Aufenthalt damit legalisiert wird, für die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (vgl. §§ 26 Abs. 4, 35 AufenthG) bzw. eine spätere Einbürgerung (vgl. § 10 StAG) von Bedeutung sein. Denn diese Vorschriften knüpfen jeweils an den Vorbesitz eines bestimmten Aufenthaltstitels bzw. einen rechtmäßigen Voraufenthalt von einer bestimmten Dauer an. Außerdem kann es bei einem Wegfall der Ausreisehindernisse ihrer Mutter und ihres Vaters für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Klägerin aus § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK bedeutsam sein, seit wann sie sich rechtmäßig in Deutschland aufhält.

Die Klage ist insoweit in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet. Die Klägerin hat (nur) einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zum 29. Mai 2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidet.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG ist für die Vergangenheit ausgeschlossen, weil die Mutter der Klägerin im fraglichen Zeitraum "nur" über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verfügte. In solchen Fällen ist Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG nicht anwendbar (vgl. § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Ihr Vater kommt als "Ankerperson" einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen ebenfalls nicht in Betracht, weil er im streitigen Zeitraum überhaupt keinen Aufenthaltstitel besaß (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG kommt frühestens ab dem 29. Mai 2008 in Betracht. Gemäß § 81 Abs. 1 AufenthG wird ein Aufenthaltstitel einem Ausländer nur auf seinen Antrag erteilt, soweit nichts anderes bestimmt ist. Anders als § 33 AufenthG, bestimmt § 25 Abs. 5 AufenthG nicht, dass die Aufenthaltserlaubnis auch von Amts wegen erteilt werden kann. Damit bleibt es beim Antragserfordernis. Dies schließt es zugleich aus, den Aufenthaltstitel für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum zu erteilen (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 2. September 2010 - 1 B 18/10 -, zit. nach juris Rn. 9; Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7/08 -, InfAuslR 2009, 378 ff. - zit. nach juris Rn. 13,: möglich ist die "Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung" <Hervorhebung nicht im Original>).

Eine Aufenthaltserlaubnis ist vorliegend für die Klägerin erstmals am 29. Mai 2008 durch ihre Mutter beantragt worden (vgl. Bl. 27 des Verwaltungsvorgangs). Das Schreiben des Herrn ………….. an den Beklagten vom 20. Mai 2008 war dagegen kein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Dies gilt unabhängig davon, ob Herr ………….. überhaupt ordnungsgemäß bevollmächtigt war. Denn Herr ………….. beantragte keinen Verwaltungsakt, der die aufenthaltsrechtliche Stellung der Klägerin verändert und ihren Aufenthalt in Deutschland erstmals legalisiert. Er verlangte lediglich ein "Personaldokument […], aus dem ihr Aufenthaltsstatus hervorgeht", d.h. nur eine feststellende Bescheinigung über den ausländerrechtlichen Status quo.

Der durch die Mutter gestellte Antrag vom 29. Mai 2008 hat sich nicht durch eine bestandskräftige negative Entscheidung erledigt. Zwar wurde zwischen den Beteiligten ein umfangreicher Schriftverkehr über die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geführt, der Beklagte erließ aber nie einen Ablehnungsbescheid. Vor diesem Hintergrund können die neuerlichen Anträge des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 23. Juli 2009 und 14. März 2011 nur als Wiederholung des vorherigen Antrags und Erinnerung an dessen Erledigung verstanden werden.

Die Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG lagen zwischen dem 29. Mai 2008 und dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung durchgängig vor. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Als "absehbar" gilt in Anlehnung an § 26 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AufenthG ein Zeitraum von circa 6 Monaten.

Der Ausreise der Klägerin, die zum fraglichen Zeitraum noch ein Klein- bzw. Vorschulkind war, standen rechtliche Ausreisehindernisse aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK entgegen. Denn ein Zusammenleben mit ihrer Mutter war in dieser Zeit nur in Deutschland möglich. Die Mutter besaß während der gesamten hier relevanten Zeit ihrerseits eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Diese war ihr erstmals am 31. Mai 2006 erteilt und dann immer wieder nahtlos verlängert worden, zuletzt bis zum 31. Oktober 2010. Danach galt der Aufenthaltstitel aufgrund des am 29. Oktober 2010 rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrags gem. § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend. Der Ablehnungsbescheid vom 18. April 2011, der diese Fiktionswirkung zunächst beendet hatte, wurde vom Beklagten wieder aufgehoben, nachdem die Kammer Bedenken gegen seine Rechtsmäßigkeit geäußert hatte (vgl. Beschluss vom 23. Juni 2011 - 11 B 1310/11 -). Damit lebte die Fiktionswirkung wieder auf. Die Angelegenheit der Mutter der Klägerin erledigte sich dann dadurch, dass ihr nach einer Änderung des Sachverhalts eine Aufenthaltserlaubnis auf anderer Rechtsgrundlage (§ 25 Abs. 3 AufenthG) erteilt wurde. Der Umstand, dass die Mutter der Klägerin während des gesamten streitigen Zeitraums eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG besaß bzw. als Inhaberin einer solchen Aufenthaltserlaubnis galt, impliziert notwendigerweise, dass ihr eine Ausreise rechtlich oder tatsächlich unmöglich war. Denn dies ist Tatbestandsvoraussetzung des § 25 Abs. 5 AufenthG. Wenn aber der Mutter die Ausreise unmöglich war, hätte die isolierte Ausreise der Klägerin zwingend zu einer Trennung von Mutter und Kind geführt, die angesichts des Alters der Klägerin nicht einmal vorübergehend verfassungs- und menschenrechtlich hinnehmbar gewesen wäre. Ausschlussgründe nach § 25 Abs. 5 Sätze 3 und 4 AufenthG liegen nicht vor. Die Beziehung zu ihrer Mutter, aus der sich das Ausreisehindernis ergibt, wurde von der Klägerin nicht "verschuldet". Auch die Mutter hatte ihr eigenes Ausreisehindernis offenbar nicht verschuldet (was der Klägerin gegebenenfalls analog § 278 Satz 1 BGB zuzurechnen wäre), denn ansonsten hätte der Beklagte ihr keine Aufenthaltserlaubnis erteilen dürfen.

Damit stand die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis während des im Tenor genannten Zeitraums im Ermessen des Beklagten (vgl. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG "kann"). In den Genuss der "Soll-Vorschrift" des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG kam die Klägerin schon deswegen nicht, weil nicht alle Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufentG vorlagen.

Nicht erfüllt war zum einen die Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Insofern lag hier aber ein atypischer Fall vor, in dem die Erfüllung dieser Voraussetzung schon von Rechts wegen nicht verlangt werden durfte. Ein solcher Ausnahmefall ist in Bezug auf die Lebensunterhaltssicherung nämlich anzunehmen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft - wie hier (s.o.) - nur in Deutschland gelebt werden kann (BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32/07 -, InfAuslR 2009, 8 ff. - zit. nach juris Rn. 27).

In Bezug auf die ebenfalls nicht erfüllte Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (Passpflicht) lag dagegen kein Ausnahmefall vor. Es ist von der Klägerin insbesondere weder vorgetragen noch für das Gericht ersichtlich, dass die Erlangung eines syrischen Reisepasses für sie im fraglichen Zeitraum schlichtweg unmöglich gewesen wäre.

Allerdings hätte der Beklagte gem. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach Ermessen von der Erfüllung der Passpflicht absehen können. Dieses Ermessen war nicht schon deshalb zulasten der Klägerin auf "Null" reduziert, weil in Bezug auf die Passpflicht kein "atypischer Fall" im oben genannten Sinne vorlag. Die in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Möglichkeit zum Absehen von Regelerteilungsvoraussetzungen nach Ermessen wäre sinnlos und überflüssig, wenn das Ermessen nur in jenen (Ausnahme-)Fällen eröffnet wäre, in denen die betreffende Regelerteilungsvoraussetzung schon von Rechts wegen nicht erfüllt werden muss.

Den Stellungnahmen des Beklagten ist zu entnehmen, dass er sein Ermessen nicht erkannt hat. Er ging vielmehr irrig davon aus, die Vorlage eines Passes sei unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. So führte er im Schreiben vom 23. Mai 2008 an Herrn ………….. aus, "[u]m für das Kind eine Aufenthaltserlaubnis erteilen zu können, benötigen wir einen syrischen Reisepass." In der am selben Tag ausgestellten "Bescheinigung" für die syrische Botschaft heißt es, "[d]ie Vorlage eines syrischen Reisepasses ist erforderlich, damit dem Kind eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann." Auch im Schreiben vom 20. April 2010 an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin vertrat der Beklagte die Auffassung, "dass die Vorlage eines syrischen Passes erforderlich ist, um über den weiteren Aufenthalt der Tochter entscheiden zu können." Die Möglichkeit des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG wird nirgendwo erwähnt, geschweige denn das dort eröffnete Ermessen ausgeübt. Besonders deutlich wird der Ermessensausfall in einem Vermerk des Beklagten vom 12. Oktober 2010 (Bl. 36 d. VV). Dort heißt es: "Es ist zwingend erforderlich, dass die Geburt des Kindes durch die Eltern registriert wird und dass ein syrischer Pass augestellt wird."

Der Einzelrichter weist darauf hin, dass die gebotene Ermessensentscheidung nicht für den gesamten streitigen Zeitraum einheitlich ausfallen muss. Die jüngere Entwicklung in Syrien führt dazu, dass für die Jahre 2008 bis 2010 andere Ermessenserwägungen anzustellen sind als für das Jahr 2011 und den Beginn des Jahres 2012.

Durchgängig berücksichtigen muss der Beklagte dass durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützte familiäre Interesse der Klägerin. Dieses wiegt schwer, denn die familiäre Lebensgemeinschaft mit der Mutter konnte im fraglichen Zeitraum - wie oben ausgeführt - nur im Bundesgebiet gelebt werden; überdies war die Klägerin damals ein Klein- bzw. Vorschulkind, dem nicht einmal kurzfristig eine Trennung von der Mutter zugemutet werden kann. Damit war klar, dass der Aufenthalt der Klägerin aus verfassungs- und menschenrechtlichen Gründen in absehbarer Zeit nicht beendet werden darf. Der vom Gesetzgeber mit § 25 Abs. 5 AufenthG verfolgte Zweck, Kettenduldungen bei längerfristigen unverschuldeten Ausreisehindernissen zu vermeiden, sprach daher für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

Für ein Absehen spricht ferner, dass das mit der Passpflicht eng zusammenhängende Regelerteilungserfordernis der Klärung von Staatsangehörigkeit und Identität (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) erfüllt ist. Die Klägerin wurde unstreitig und unzweifelhaft am 13. November 2007 in ……………… als ……………., Tochter von …….. und ……………………, geboren. Die Staatsangehörigkeit und Identität ihrer Eltern steht aufgrund des gültigen syrischen Reisepasses ihrer Mutter und aufgrund des 2004 abgelaufenen syrischen Reisepasses ihres Vaters fest. Wenn aber Geburtsdatum, Geburtsort, Vor- und Nachname einer Person sowie Staatsangehörigkeit und Identität der Eltern feststehen, steht auch die Identität und Staatsangehörigkeit der Person selbst fest. Daher diente die Vorlage eines Reisepasses hier nicht dazu, Staatsangehörigkeit und Identität zu klären, sondern sollte nur die Rückkehrberechtigung in den Heimatstaat dokumentieren. Dieser Zweck ist generell zwar immer noch sehr bedeutsam, sein Gewicht wird aber im vorliegenden Fall dadurch gemindert, dass aus den bereits dargelegten verfassungs- und menschenrechtlichen Gründen eine erzwungene Rückkehr der Klägerin nach Syrien während des fraglichen Zeitraums ohnehin nicht in Betracht kam.

Außerdem wird der Beklagte zu prüfen haben, inwiefern der Umstand, dass die Klägerin in Deutschland geboren wurde, ihr Vater bis zum Jahr 2010 nicht in der deutschen Geburtsurkunde eingetragen war (vgl. Bl. 2, 7 f., 11 der Ausländerakte der Klägerin und Bl. 231 der Ausländerakte des Vaters) und sein syrischer Reisepass im Jahr 2004 abgelaufen ist, in einer Rechtsordnung die - wie die syrische - für den Staatsangehörigkeitserwerb auf die väterliche Abstammung abstellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BAMF vom 13. August 2008 - 508-516.80/45853 -, erhältlich in juris) zu Verzögerungen bei der Ausstellung eines Reisepasses führen kann. Je nach dem Ergebnis dieser Prüfung hätte es möglicherweise nahe gelegen, die Aufenthaltserlaubnis für die erste Zeit ohne Erfüllung der Passpflicht auszustellen, unter dem Vorbehalt, dass für die Verlängerung ein Pass vorgelegt werden muss. Dabei wird man der Klägerin ein Verschulden ihres Vaters erst ab dem 20. Mai 2010 zurechnen können. Erst an diesem Tag gaben die nach deutschem Recht nicht wirksam miteinander verheirateten Eltern der Klägerin eine gemeinsame Sorgerechtserklärung ab (vgl. Bl. 211 der Ausländerakte des Vaters), mit der Folge, dass der Vater zum gesetzlichen Vertreter der Klägerin wurde (§ 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB), dessen Verschulden sie sich zurechnen lassen muss (vgl. § 278 Satz 1 BGB analog). Für den davor liegenden Zeitraum ist dagegen keine einschlägige Zurechnungsnorm erkennbar.

Andererseits kann zur Lasten der Klägerin berücksichtigt werden, dass ihre Mutter - die von Anfang an gesetzliche Vertreterin war - noch nicht einmal den Versuch unternommen hat, einen Pass für die Klägerin zu beantragen. Die für eine Fahrt zur syrischen Botschaft nach Berlin erforderlichen finanziellen Mittel waren ihr vom Sozialamt zur Verfügung gestellt worden; dennoch führte sie diese Reise nie durch. Nach dem Vermerk des Beklagten vom 3. Mai 2011 begründete die Mutter ihr Versäumnis mit der Angst, dass die Familie bei Vorlage eines Passes abgeschoben werden würde. Diese menschlich verständliche Sorge kann ihr Verhalten rechtlich jedoch nicht entschuldigen. In einem Rechtsstaat entscheiden Behörden und Gerichte darüber, ob eine Person abgeschoben werden darf oder nicht. Sie beachten dabei die Grund- und Menschenrechte des Betroffenen und prüfen eingehend, ob ihm im Heimatland Verfolgung droht. Dass der Betroffene für sich und seine Familie selbstherrlich ein faktisches Abschiebungshindernis schafft, indem er sich weigert, einen Reisepass zu beantragen, ist in einem Rechtsstaat kein akzeptables Verhalten. Der Einzelrichter ist auch nicht davon überzeugt, dass die Beantragung eines syrischen Reisepasses schon seit dem 29. Mai 2008 unzumutbar war, weil sie die Klägerin oder ihre Familie der Gefahr von Übergriffen des syrischen Geheimdienstes ausgesetzt hätte. Der Mutter der Klägerin wurde am 29. März 2006 ein syrischer Reisepass ausgestellt, als sie sich bereits in Deutschland aufhielt und erfolglos einen Asylantrag gestellt hatte. Sie hat nicht vorgetragen, dass dies damals zu Repressionen oder Nachteilen für sie oder ihre Familie geführt hat. Allerdings hat sich die Sachlage insofern im Laufe des Jahres 2011 verändert. Wie allgemein bekannt ist, verschlechterte sich in diesem Zeitraum die Menschenrechtslage in Syrien dramatisch. Dies hat das Auswärtige Amt zu der Einschätzung veranlasst, dass mit der Übermittlung persönlicher Daten an die syrische Botschaft in Berlin sowohl in Deutschland lebende Syrer als auch ihre Familienangehörigen in der Heimat gefährdet werden könnten (vgl. Erlass des Nds. Innenministeriums vom 8. Februar 2012 - 42.12/ 12231.3-6 SYR - an die Ausländerbehörden). Entgegen der vom Beklagten offenbar vertretenen Ansicht bedeutet der Erlass des Innenministeriums nicht, dass die Beantragung von Reisepässen für in Deutschland lebende Syrer genau am 8. Februar 2012 unzumutbar geworden ist. Für das Absehen von der Passpflicht ist nicht die formelle Erlasslage bedeutsam, sondern die materielle (Un-)Zumutbarkeit der Passbeschaffung. Das Schreiben des Innenministeriums referiert insofern nur eine Entwicklung, die sich in den vorangegangenen Monaten zugetragen hatte. Der Beklagte wird anhand der Erkenntnismittel prüfen müssen, ab wann sich die Situation in Syrien so verschlechtert hat, dass Syrer sich und ihre Angehörige in Gefahr bringen, wenn sie bei der Botschaft in Berlin einen Pass beantragen. Im Zweifel dürfte dieser Zeitpunkt mit dem Beginn der politischen Unruhen in Syrien zusammenfallen. Es dürfte viel dafür sprechen, der Klägerin jedenfalls ab diesem Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

§ 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, denn der Asylantrag der Klägerin wurde nicht unter Berufung auf § 30 Abs. 3 AsylVfG, sondern "nur" gemäß § 30 Abs. 1 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die Sperrwirkung des § 10 Abs. 1 AufenthG betrifft den im Tenor genannten Zeitraum nicht. Das Asylverfahren der Klägerin ist seit dem 7. Februar 2008 bestandskräftig abgeschlossen. Der spätere Antrag an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 24. Februar 2011 betraf nur die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Er war daher kein "Asylantrag" im Sinne von § 10 Abs. 1 AufenthG (vgl. Wenger, in: Storr/ Wenger/ Eberle/ Albrecht/ Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 10 AufenthG Rn. 4).

Das Ermessen des Beklagten, bezüglich welcher Zeiträume er von der Passpflicht absehen will, ist nicht zugunsten der Klägerin dahingehend auf Null reduziert, dass für den gesamten streitigen Zeitraum eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. Ihr Prozessbevollmächtigter irrt wenn er meint, dass allein der Umstand, dass sie in Deutschland geboren wurde und ihre Mutter in diesem Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis besaß, schon automatisch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebietet. Das Aufenthaltsgesetz geht davon aus dass, auch in diesen Fällen grundsätzlich die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen zu erfüllen sind, wenn nicht die Ausländerbehörde im Einzelfall eine andere Ermessensentscheidung trifft (vgl. § 5 Abs. 1, 3 Satz 2 AufenthG). Auch aus Art. 6 Abs. 4 lit. e) des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997 (BGBl. 2004 II 578 ff.) ergibt sich keine Ermessensreduzierung zu Gunsten der Klägerin. Die Klägerin argumentiert, aus dem dort normierten Gebot, ihre Einbürgerung zu erleichtern, ergebe sich auch eine Pflicht, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, denn der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei Grundvoraussetzung für die Einbürgerung (vgl. §§ 8 bis 10 StAG). Dabei handelt es sich aber um einen Zirkelschluss: Art. 6 Abs. 4 lit. e) des Übereinkommens betrifft nur jene Personen, die im Hoheitsgebiet des betroffenen Staates geboren sind und dort rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (im verbindlichen franz. Text: "personnes nées sur son territoire et y résidant légalement et habituellement"; Hervorhebung nicht im Original). Die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes ist also nicht die aus Art. 6 Abs. 4 lit. e) des Übereinkommens abzuleitende Rechtsfolge, sondern im Gegenteil Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendbarkeit der Norm. Daher muss die Frage, ob sich das Übereinkommen seinem Inhalt nach überhaupt unmittelbar an innerstaatliche Behörden und Gerichte richtet, nicht weiter vertieft werden (vgl. dazu verneinend das Urteil der Kammer vom 13. Dezember 2010 - 11 A 249/10 - juris). Auch aus der Neufassung der sogenannten "Qualifikationsrichtlinie" (Richtlinie 2011/95/EU) ergibt sich keine Ermessensreduzierung auf Null. Dabei kann offen bleiben, ob diese Richtlinie den von der Klägerin behaupteten Rechtsatz enthält, dass subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familienangehörigen in allen aufenthaltsrechtlichen Aspekten den anerkannten Flüchtlingen gleichzustellen sind. Denn während des hier streitigen Zeitraums war die Klägerin nicht Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten. Die Zuerkennung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 AufenthG an ihre Eltern erfolgte erst im Jahr 2012 und veranlasste den Beklagten umgehend zu der Zusicherung, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG für die Zukunft zu erteilen.