Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 23.06.2011, Az.: 11 B 1310/11

Aufenthaltserlaubnis; humanitäre Gründe; faktischer Inländer; Integration; Schutz des Privatlebens; Verwurzelung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
23.06.2011
Aktenzeichen
11 B 1310/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 45232
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG verdienen Mutterschaft und Kinderbetreuung in allen Bereichen des Rechts - und somit auch im Ausländerrecht - Respekt und Anerkennung.
2. Daher spricht es nicht zwingend gegen eine Verwurzelung in Deutschland im Sinne des Art. 8 EMRK, wenn eine Ausländerin schon sehr jung Mutter wurde, ihre (Schul-)Ausbildung mutterschaftsbedingt abgebrochen hat und sie derzeit als alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder ihren Lebensunterhalt nicht selbständig sichern kann.

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin, gem. § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (11 A 591/11) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. April 2011 anzuordnen, mit dem die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihr die Abschiebung nach Syrien angedroht wurde, ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist statthaft, weil der am 29. Oktober 2010 rechtzeitig vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis gestellte Verlängerungsantrag zunächst die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auslöste, diese Wirkung dann mit Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides entfiel und die Klage gegen diesen Bescheid nicht bereits Kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG für die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse und § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.Vm. § 64 Abs. 4 Nds. SOG für die Abschiebungsandrohung).

Für den Antrag fehlt nicht deshalb das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil Abschiebungen nach Syrien wegen der aktuellen politischen Situation in diesem Land vorübergehend nicht durchgeführt werden. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO fehlt, wenn die Behörde die Vollziehung bereits gem. § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt hat, dies zusichert oder ohne förmliche Entscheidung von der Vollziehung absehen will; dasselbe gilt, wenn die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes aus anderen Gründen ohnehin ausgeschlossen ist (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 80 Rn. 136). Keine dieser Fallgruppen ist hier einschlägig. Der Antragsgegner hat die förmliche Aussetzung der Vollziehung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens gem. § 80 Abs. 4 VwGO weder angeordnet noch zugesichert. Er hat auch nicht in sonstiger Weise verlässlich zugesagt, dass er vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen treffen wird. Er hat im angefochtenen Bescheid lediglich zugesichert, die Antragstellerin zu dulden, solange eine zwangsweise Rückführung nach Syrien aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Diese tatsächlichen Gründe - gemeint sind wohl vor allem die derzeitigen politischen Unruhen - können aber jederzeit wieder entfallen, so dass eine Sicherheit, nicht vor Abschluss des Klageverfahrens abgeschoben zu werden, für die Antragstellerin erst mit einer Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO entsteht.

Der Antrag ist auch begründet, weil das private Interesse der Antragstellerin, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens in Deutschland verbleiben dürfen, das öffentliche Interesse daran, dass sie das Bundesgebiet noch vor einer Entscheidung über ihre Klage verlässt, überwiegt.

Die Erfolgsaussichten der Klage sind offen. Es kann bei der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage weder festgestellt werden, dass der Antragstellerin offensichtlich ein Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zusteht, noch, dass ihr ein solcher Anspruch offensichtlich nicht zusteht.

Ein solcher Anspruch könnte sich aus § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK unter dem Aspekt des Schutzes des Privatlebens ergeben. Für ein sich aus Art. 8 EMRK unter dem Aspekt des Privatlebens ergebendes Ausreisehindernis ist maßgeblich, inwieweit eine Integration des Ausländers in Deutschland gelungen ist; zum anderen ist die Möglichkeit seiner Reintegration in das Heimatland in den Blick zu nehmen. Gesichtspunkte sind dabei die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, die deutschen Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts, einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Die Frage einer möglichen Reintegration im Heimatland bemisst sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland. Grundlage eines Vertrauens auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland kann dabei in aller Regel nur ein rechtmäßiger Aufenthalt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - NVwZ 2009, 979 <981>; Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 <335>; Nds. OVG, Beschluss vom 20. April 2009 - 8 LA 54/09 -; Beschluss vom 17. Juli 2008 - 8 ME 42/08 - <juris>; Beschluss vom 1. November 2007 - 10 PA 96/07 -; Beschluss vom 17. November 2006 - 10 ME 222/06 -; Beschluss vom 1. September 2006 - 8 LA 101/06 -; Beschluss vom 11. Mai 2006 - 12 ME 138/06; Beschluss vom 11. April 2006 - 10 ME 58/06 -; Beschluss vom 18. April 2006 - 1 PA 64/06; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juni 2009 - 11 S 933/09 - InfAuslR 2009, 386). Die Fähigkeit, den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zu sichern, ist dabei ein wichtiger Gesichtspunkt. Sie darf aber nicht einseitig in den Vordergrund gerückt werden, so dass andere Umstände (insbesondere Aufenthaltsdauer, Straflosigkeit, soziale und familiäre Bindungen) unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235 (237) Rn. 21).

Nach derzeitiger Aktenlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Antragstellerin an diesen Umständen gemessen ausreichend in Deutschland verwurzelt ist. Dies bedarf weiterer Sachverhaltsaufklärung.

Der Ablehnungsbescheid selbst nennt erhebliche Anhaltspunkte, die für eine Verwurzelung sprechen. Die Antragstellerin ist im relativ jungen Alter von neun Jahren nach Deutschland gekommen, hat den größten Teil ihres Lebens hier verbracht, einen Hauptschulabschluss erworben und mit dem Besuch der Berufsschule begonnen. Ihr insgesamt zehnjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet war während der letzten knapp fünf Jahre rechtmäßig. Laut den Ausführungen des Antragsgegners im ablehnenden Bescheid spricht sie außerdem fließend deutsch und ist nicht straffällig geworden.

Die Umstände, aus denen der Antragsgegner ableiten will, dass die Antragstellerin dennoch nicht ausreichend integriert ist, tragen teilweise nicht bzw. haben objektiv nicht das Gewicht, das ihnen im angefochtenen Bescheid beigemessen wird. Dies gilt vor allem für die Tatsache, dass die erst zwanzigjährige Antragstellerin bereits zweifache Mutter ist und deswegen den Schulbesuch abgebrochen hat.

Der Antragsgegner ist im angefochtenen Bescheid des Auffassung, gegen einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet und gegen eine Verwurzelung in der deutschen Kultur spreche u.a., dass die Antragstellerin bereits im Alter von 16 Jahren das erste Kind und im Alter von 18 Jahren das zweite Kind geboren hat (vgl. S. 4, zweiter Absatz des Bescheides). Diese Ansicht ist unzutreffend und verkennt die grundgesetzliche Wertordnung. Sofern man aus der Tatsache, dass die Antragstellerin schon früh Mutter wurde, überhaupt etwas in Bezug auf ihre Integration ableiten will, spricht es eher für ein Handeln in Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen des deutschen Grundgesetzes, wenn die Antragstellerin sich trotz ihres jungen Alters für die Kinder und gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat. (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90 u.a., BVerfGE 88, 203 ff.)

Es verdient danach in allen Bereichen des öffentlichen Rechts - und somit auch in der ausländerrechtlichen Betrachtung durch den Antragsgegner - Respekt und Anerkennung dass die Antragstellerin zwei Kinder geboren hat und betreut, obwohl sie noch sehr jung ist, Nachteile für ihre Ausbildung entstanden sind und sie wegen der Wohnsitzauflage des Kindsvaters faktisch alleinerziehend ist.

Vor diesem Hintergrund hätte der Antragsgegner auch den Umstand, dass eine wirtschaftliche Integration der Antragstellerin noch nicht gelungen ist und sie sich derzeit nicht in einer Ausbildung befindet, nicht so stark negativ gewichten dürfen, wie er dies im angefochtenen Bescheid getan hat. Die Antragstellerin hat 2009 einen Hauptschulabschluss erworben, obwohl dies für sie als alleinerziehende Mutter eines an Entwicklungsverzögerungen leidenden Kleinkindes sicherlich nicht leicht war. Den anschließenden Besuch der Berufsschule hat sie dann wegen der zweiten Schwangerschaft abgebrochen. Unter diesen Umständen spricht es nicht gegen eine Integration in Deutschland, dass sie sich derzeit nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet. Denn die deutsche Gesellschaft erwartet von einer alleinerziehenden Mutter zweier Kleinkinder, von denen eines behindert ist, nicht, dass sie neben ihrer Aufgabe als Mutter auch noch eine Ausbildung absolviert. Da die Antragstellerin zu Zeiten, als sie bereits Mutter war, noch die Hauptschule erfolgreich absolviert hat, spricht einiges dafür, dass sie mittelfristig ihre Ausbildung fortsetzen wird, wenn ihre älteste Tochter ab August 2011 einen der Behinderung angemessenen heilpädagogischen Kindergarten besucht.

Wie zu gewichten sein wird, dass die Antragstellerin nur einen äußerst schwachen Hauptschulabschluss erworben hat und über dies im Schuljahr 2008/2009 37 unentschuldigte Fehltag hatte, muss ebenso wie die Berücksichtigung ihrer Verbindung zu einem ausreisepflichtigen syrischen Staatsangehörigen, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Die angesichts der offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache gebotene Interessenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus. Ihr Interesse, nicht abgeschoben zu werden, bevor endgültig geklärt ist, ob ihr ein Aufenthaltsrecht zusteht, überwiegt das öffentliche Interesse daran, ihren nun schon seit mehr als zehn Jahren währenden Aufenthalt in Deutschland noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu beenden. Das Gericht weist insofern darauf hin, dass die Antragstellerin in Deutschland nicht straffällig geworden ist, so dass ein gesteigertes öffentliches Interesse an einer schnellen Aufenthaltsbeendigung nicht besteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235 (237) Rn. 21).

Der Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Ausstellung einer Verfahrensfiktionsbescheinigung nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu verpflichten, ist unzulässig. Aus dem grundgesetzlichen Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) folgt, dass ein Gericht erst tätig werden soll, wenn die Behörde zunächst die Möglichkeit hatte, über ein Begehren eines Bürgers zu entscheiden. (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Mai 1995 - 5 C 11.94 - BVerwGE 99, 158 <160>). Der Antragsgegner ist zwar verpflichtet, der Antragstellerin analog § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eine Bescheinigung über die auf Zwecke der Erwerbstätigkeit beschränkte Fortgeltungsfiktion nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auszustellen (Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 84 Rn. 63; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2010 - 1 B 17.09 -, InfAuslR 2010, 150). Die Antragstellerin hat aber dem Antragsgegner noch gar keine Gelegenheit gegeben, diese Bescheinigung freiwillig zu erteilen. Solange es keine Anhaltspunkte gibt, dass der Antragsgegner sich weigern wird, eine solche Bescheinigung auszustellen, besteht kein Bedürfnis, ihm gegenüber eine entsprechende einstweilige Anordnung zu erlassen. Insofern konnte mangels hinreichender Erfolgsaussichten auch keine Prozesskostenhilfe bewilligt werden (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO).