Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 04.07.2011, Az.: 11 A 623/11

Arbeitnehmerfreizügigkeit; Arbeitsgenehmigung-EU; Aussetzung der Strafvollstreckung; Ausweisung; Freizügigkeitsberechtigung; Rumänien; Verlustfeststellung; Wiederholungsgefahr

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
04.07.2011
Aktenzeichen
11 A 623/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 45234
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU) setzt voraus, dass die Erwerbstätigkeit nicht in der Begehung von Straftaten besteht.

Rumänische Staatsangehörige erlangen die Arbeitnehmerfreizügigkeit erst mit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU (§ 13 FreizügG/EU).

Ein Unionsbürger darf, auch wenn er nicht freizügigkeitsberechtigt ist, nicht nach den Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG ausgewiesen werden. Es ist lediglich eine Verlustfeststellung unter den strengeren Voraussetzungen des § 6 FreizügG/EU möglich.

Bei der Frage, ob der Unionsbürger noch eine gegenwärtige Gefährdung für die öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU), sind Entscheidungen und Stellungnahmen aus einem Verfahren zur vorzeitigen Haftentlassung zu berücksichtigen, haben jedoch keine Bindungs- oder Vermutungswirkung (im Anschluss an BVerwG NVwZ 2010, 389 [BVerwG 02.09.2009 - BVerwG 1 C 2.09]).

Tatbestand:

Die am … 1991 geborene Klägerin ist rumänische Staatsangehörige.

Ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist erstmals im September 2002 aktenkundig geworden.

Am 8. März 2004 ist sie in Berlin festgenommen worden und kam anschließend in Untersuchungshaft. Mit Bescheid vom 7. Mai 2004 hat das Landeseinwohneramt Berlin ihre Abschiebung nach Rumänien angedroht. Am 17. Juni 2004 ist sie in ihr Heimatland abgeschoben worden.

Ende 2004 ist sie erneut in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Am 4. Juli 2005 ist sie in Bremen festgenommen worden und nach einer Abschiebungsankündigung des Landesamtes für Bürger und Ordnungsangelegenheiten Berlin vom 17. Mai 2006 am 13. Juni 2006 wieder nach Rumänien abgeschoben worden.

Wohl im September 2009 ist sie erneut nach Deutschland gekommen. Sie wurde am 15. Dezember 2009 in Delmenhorst festgenommen. Sie befindet sich derzeit zur Strafverbüßung in der Justizvollzugsanstalt V..

Die Klägerin ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:

Am 9. Juni 2004/11. Januar 2006 wurde sie vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten/Landgericht Berlin wegen gewerbsmäßigen Diebstahls in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt. In den Gründen des Landgerichts Berlin ist u.a. ausgeführt, dass die Klägerin mit ihrer Mutter und möglicherweise ihren Schwestern nach Deutschland gekommen sei, um durch die Begehung von Diebstählen für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Sie habe auf Anweisung der Mutter vorgespielt Bettlerin zu sein und so zahlreiche Diebstähle begangen. Nach einem Altersbestimmungsgutachten sei sie Anfang März 2004 mindestens 14 Jahre gewesen. In dieser Zeit habe sie verschiedene Personen bei Geldabhebungen aus Automaten abgelenkt und so insgesamt 4.400,00 € erbeutet.

Am 22. Februar 2006 ist sie vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen Diebstahls in sechs Fällen, davon einmal versucht und versuchten räuberischen Diebstahls sowie Computerbetrugs in vier Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt worden, welche zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Von April bis Juli 2005 habe die Klägerin wieder Kunden abgelenkt, die an Geldautomaten Barbeträge abheben wollten. So habe sie in Berlin, Braunschweig, Bremerhaven, Hamburg, Salzgitter, Hildesheim und Bremen insgesamt knapp 10.000,00 € erbeutet, wobei sie in einem Fall gegen das Opfer, das versucht habe sie festzuhalten, Widerstand geleistet habe.

Am 6. Juli/25. November 2010 ist die Klägerin vom Amtsgericht Delmenhorst/Landgericht Oldenburg wegen gewerbsmäßigen Computerbetruges in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Diebstahl unter Einbeziehung der Verurteilung vom 22. Februar 2006 zu einer Jugendstrafe von insgesamt drei Jahren verurteilt worden. Die Klägerin habe wiederum durch Ablenkung einer Person an einem Geldautomaten in Bremen 1.000,00 € erlangt. Sie sei in Begleitung von zwei Männern gewesen, mit denen sie arbeitsteilig zusammengearbeitet habe. Die Beute werde sofort an die Mittäter weitergegeben. Die Klägerin sei seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter zur Verübung von Diebstählen angehalten worden. Sie habe sich bis heute weder dem Einfluss der Mutter noch dem des Familienverbandes entzogen. Deshalb sei von der Einbeziehung der früheren Jugendstrafe nicht abgesehen worden, zumal sie trotz vorheriger elfmonatiger Inhaftierung weitere Straftaten begangen habe.

Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 17. März 2011 fest, dass die Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Außerdem wies er sie für fünf Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Sinngemäß hilfsweise stellte er fest, dass die Klägerin ihr Freizügigkeitsrecht für die Dauer von fünf Jahren verloren habe. Der Klägerin wurde zudem die Abschiebung nach Rumänien angedroht. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden: Die Klägerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt, da nicht ersichtlich sei, dass sie jemals beabsichtigt habe, eine legale Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Es seien auch sonst keine Gründe für eine Freizügigkeitsberechtigung vorgetragen worden. Daher fänden gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die Regelungen des AufenthG Anwendung. Wegen der Verurteilung der Klägerin zu einer dreijährigen Jugendstrafe sei die Ausweisung daher gemäß § 53 Nr. 1 AufenthG zwingend zu verfügen. Wenn man vom Bestehen eines Freizügigkeitsrechts ausginge, lägen jedenfalls die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU vor. Die Klägerin sei mehrfach und ausschließlich zur Begehung von Straftaten in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie habe bundesweit agiert. Trotz Verurteilungen, Inhaftierungen und einer zweimaligen Abschiebung sei sie wieder straffällig geworden. Sie sei auch erst seit September 2009 wieder in Deutschland und habe einen erheblichen Teil der hier verbrachten Zeit in Haft gelebt. Bei der zu treffenden Ermessensentscheidung sei zu berücksichtigen, dass sie eigens zur Begehung von Straftaten einreise und, wie vor der Festnahme im Dezember 2009 von der Polizei beobachtet, in einem familiären bzw. bandenmäßig organisierten Netzwerk eingebunden sei, welches arbeitsteilig vorgehe. Sie habe keinen legalen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Sie sei an vielen Orten im Bundesgebiet straffällig geworden. Sie habe sich auf alte und gebrechliche Menschen spezialisiert, was in besonderer Weise verwerflich sei. Es seien weder Integrationsleistungen noch ein Integrationswille erkennbar. In Deutschland sei sie nicht zur Schule gegangen. Sie habe auch in Rumänien weder die Schule besucht noch eine Berufsausbildung absolviert. In der Haft habe sie lediglich mündliche Kenntnisse der deutschen Sprache erlangt. Eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse sei insbesondere in beruflicher Hinsicht daher nicht zu erwarten. Vielmehr sei wegen der fortdauernden Einbindung in das familiäre Netzwerk weiter mit Straftaten zu rechnen. Sie habe weder einen festen Wohnsitz noch einen Arbeitsplatz. Ihre Tätigkeit als Näherin in der Justizvollzugsanstalt sei zwar anerkennenswert dürfe aber nicht überbewertet werden. Die vor den Gerichten und Anstaltspsychologen geäußerte Reue und Tateinsicht seien nicht glaubhaft. Die Klägerin wolle sich wieder in ihre Familie begeben. Sie sei volljährig, ledig und kinderlos. Die Sperrfrist von fünf Jahren sei so bemessen, dass sie sich innerhalb dieses Zeitraums in Rumänien eine Existenzgrundlage schaffen könne, so dass sie keine weiteren Straftaten in Deutschland begehen müsse.

Am 21. März 2011 hat die Klägerin Klage erhoben.

Sie trägt im Wesentlichen vor: Sie habe beim Amtsgericht Vechta einen Antrag auf Entlassung zur Bewährung nach § 88 JGG gestellt, über den voraussichtlich positiv entschieden werde. Nach den in diesem Rahmen eingeholten Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt sei davon auszugehen, dass ihre Resozialisierung in positiver Hinsicht abgeschlossen sei. Sie habe ihre Straftaten nicht mit Unterstützung ihrer Familie begangen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 17. März 2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen; sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet. Die Ausweisung der Klägerin im Bescheid des Beklagten vom 17. März 2011 ist rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); darüber hinaus ist die genannte Verfügung rechtmäßig.

1. Die zunächst in entsprechender Anwendung des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. dazu OVG Bremen, Beschluss vom 21. Januar 2011 - 1 B 242/10 - juris, Rn. 6) getroffene Feststellung, dass die Klägerin als Unionsbürgerin nicht über ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 FreizügG/EU verfüge, lässt Rechtsfehler nicht erkennen.

Die Klägerin hat hierzu gegenüber dem Beklagten nichts vorgetragen. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist erforderlich, dass sie sich hier als Arbeitnehmerin, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten will. Die Klägerin hat in Deutschland jedoch den Lebensunterhalt vor ihrer Inhaftierung ausschließlich durch die Begehung von Straftaten, nämlich der Ablenkung von Kunden an Bankautomaten, um an die ausgezahlten Gelder zu gelangen, bestritten. Nach allgemeiner Rechtsanschauung zweifelsfrei rechtswidrige Tätigkeiten sind jedoch von dem Freizügigkeitsrecht nicht gedeckt (vgl. Epe in: GK-AufenthG, Rn. 45 zu § 2 FreizügG/EU). Abgesehen davon gilt für Staatsangehörige aus Rumänien gem. § 13 FreizügG/EU nach Maßgabe des Beitrittsvertrages noch keine volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland nimmt insoweit in einer sog. 2. Phase Übergangsregelungen in Anspruch, die diese zumindest noch bis zum 31. Dezember 2011 beschränkt (vgl. Bundesanzeiger 2008, 4807 f.). Diese Freizügigkeit würde deshalb erst eintreten, wenn der Klägerin eine Arbeitsgenehmigung-EU gem. § 284 SGB III erteilt würde.

Die Klägerin hat bisher auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie - wie sie erstmalig in der mündlichen Verhandlung angesprochen hat - im Hinblick auf ihre Mutter Familienangehörige eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist, zumal sie nach ihren Angaben beabsichtigt, nach einer Haftentlassung zu einem in Duisburg lebenden Bruder zu ziehen.

2. Die auf § 53 Nr. 1 AufenthG gestützte Ausweisung der Klägerin ist rechtswidrig und daher als ein gesonderter Verwaltungsakt durch das Gericht aufzuheben.

Das AufenthG ist nämlich nicht anwendbar. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU gilt das AufenthG zwar auch für Unionsbürger, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechtes nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat. Eine Ausnahme ist aber nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU zu machen, wenn dieses Gesetz besondere Regelungen enthält. Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 6 FreizügG/EU entspricht in seinen Wirkungen weitgehend einer Ausweisung. Beide Maßnahmen führen nämlich gleichermaßen zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Zu berücksichtigen ist auch, dass nach Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG (sog. Unionsbürgerrichtlinie) die strengen Voraussetzungen für die längerfristige Beschränkung des Freizügigkeitrechts ausnahmslos für alle Unionsbürger gelten (vgl. ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 27. März 2008 - 5 K 1015/06 - NVwZ-RR 2008, 730 <731>; Epe a.a.O. Rn. 37 zu § 11 FreizügG/EU; Dienelt in: Renner, AuslR, 9. Auflage 2011, Rn. 59 ff. zu § 13 FreizügG/EU).

3. Der Beklagte hat allerdings hilfsweise, für den Fall der gerichtlichen Aufhebung der Ausweisung, den Verlust des Freizügigkeitsrechtes der Klägerin festgestellt. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Tenor des Bescheides vom 17. März 2011, aber bei verständiger Würdigung (§ 133 BGB entsprechend) aus den ausführlichen Erwägungen auf den S. 3 ff. der Verfügung, die in einem gesonderten Abschnitt dargestellt worden sind („III. Hilfsweise Erwägungen“).

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erfolgen. Nach Abs. 2 der Bestimmung genügt eine strafrechtliche Verurteilung für sich allein nicht. Vielmehr müssen die dieser zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vorliegen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 10. Juli 2008 - C 33/07 - InfAuslR 2008, 337 <338 f.>; BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - InfAuslR 2005, 18 <21 f.>). Diese Voraussetzungen können auch bei schwer wiegende Straftaten gegen Eigentum und Vermögen erfüllt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. September 2009 -1 C 2.09 - NVwZ 2010, 389 <390> zu von dem ARB 1/80 erfassten türkischen Arbeitnehmern). Maßgeblich ist die Sach - und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 a.a.O, S. 23)

Die Klägerin ist zwischen 2004 und 2010 wegen zahlreicher im Tatbestand im Einzelnen dargestellter Straftaten, die sie im Zusammenhang mit Abhebungen von Bargeld aus Automaten begangen hat, verurteilt worden. Sie hat zuletzt auf Grund des Urteils des Landgerichts Oldenburg vom 25. November 2010 eine nicht unerhebliche Jugendstrafe von drei Jahren erhalten, die für Ausländer, die keine Unionsbürger sind, nach § 53 Nr. 1 AufenthG zur zwingenden Ausweisung führt.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass im Falle einer Entlassung aus der Haftanstalt eine erhebliche Gefahr der Wiederholung dieser Straftaten besteht. Die Erkenntnisse aus dem parallelen Verfahren beim Amtsgericht Vechta, in dem die Klägerin die Aussetzung der Strafvollstreckung nach § 88 JGG begehrt, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht sind an Entscheidungen und Einschätzungen aus einem solchen Verfahren nicht gebunden. Sie sind zwar ein wesentliches Indiz, begründen aber keine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass im Strafvollstreckungsverfahren ein anderer zeitlicher Prognosehorizont besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. September 2009, a.a.O.) und das Verfahren nach § 88 JGG in aller Regel auch wegen des erzieherischen Ansatzes des Jugendstrafrechts noch günstiger ist als die in § 57 StGB vorgesehene vorzeitige Haftentlassung für erwachsene Straftäter (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. November 2010 - 5 Ws 200/10 - juris, Rn. 8).

Die Klägerin ist trotz einschlägiger Verurteilungen erneut wieder in gleichartiger Weise straffällig geworden. Sie war vor ihrer letzten Verurteilung sogar einige Monate in Haft und behauptete von dieser beeindruckt zu sein (vgl. Urteil des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 22. Februar 2006). Auch eine Bewährungsstrafe vermochte sie nicht abzuschrecken. Sie ist zweimal in ihr Heimatland abgeschoben worden. Dennoch ist sie offenbar ausschließlich zur Begehung weiterer Straftaten wieder nach Deutschland gekommen. Ihre Vorgehensweise war dabei ausweislich der maßgeblichen Strafurteile durch eine gewerbsmäßige und arbeitsteilige bandenmäßige Begehung gekennzeichnet. Die an zahlreichen verschiedenen Orten begangenen Straftaten waren besonders gegen hilfsbedürftige Personen gerichtet, wobei die Klägerin auch vor Gewalttätigkeiten und sonstigen körperlichen Übergriffen nicht zurückgeschreckt ist.

Nach den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt V. vom 16. März und 27. April 2011, sowie den Ausführungen der Anstaltspsychologin in der Anhörung beim Amtsgericht Vechta am 28. Juni 2011 hat die Klägerin ihre Deutschkenntnisse allerdings während der etwa 1 ½ -jährigen Inhaftierung verbessert. Sie hat dort auch qualifizierte Näharbeiten verrichtet. Sie reflektiere ihre Situation inzwischen und sei erheblich reifer geworden und habe ein Unrechtsbewusstsein entwickelt. Sie äußere Reue darüber, dass insbesondere ältere Menschen geschädigt worden seien und erfasse auch die psychischen Auswirkungen ihrer Straftaten und gebe die von ihr nun übernommenen Werte an andere Jugendliche weiter. Mehrere begleitete Ausgänge seien problemlos verlaufen.

Hieraus vermag das erkennende Gericht jedoch eine positive Sozialprognose nicht abzuleiten. Neben den oben bereits dargestellten Aspekten, die in den Stellungnahmen kaum gewichtet werden, ist vor allem darauf hinzuweisen, dass die Klägerin sich wieder in ihre bisherigen familiären und sozialen Zusammenhänge begeben würde. So ist in dem Bericht der Justivollzugsanstalt V. vom 27. April 2011 ausgeführt, dass sie in ihr soziales und familiäres Umfeld zurückkehren werde und eine Loslösung aus dem Verband nach ihrem soziokulturellen Hintergrund illusorisch sei. Die Klägerin erstrebt dementsprechend eine Haftentlassung zu einem in Duisburg lebenden Bruder.

Entgegen der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung ist das Gericht davon überzeugt, dass gerade dieses Umfeld sie zur Begehung der Straftaten angeleitet und hierbei unterstützt hat. Nach einem polizeilichen Bericht vom 21. Juli 2005 (Bl. 299 ff. der VV) ist der Lebensunterhalt der Familie ausschließlich durch die Straftaten der Klägerin und anderer Verwandter gedeckt worden. Es handele sich bei der Klägerin um eine durch ihre Familie gesteuerte banden- und gewerbsmäßig vorgehende äußerst polizeierfahrene Jugendliche Das Landgericht Oldenburg hat in seinem Urteil vom 25. November 2010 festgestellt, dass die Klägerin seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter zur Verübung von Diebstählen angehalten worden ist. Sie habe sich bis heute weder dem Einfluss der Mutter noch derjenigen des Familienverbandes entzogen. In den Gründen des Urteils des Landgerichts Berlin vom 11. Januar 2006 ist ebenfalls ausgeführt, dass die Klägerin mit ihrer Mutter und möglicherweise ihren Schwestern nach Deutschland gekommen sei, um durch die Begehung von Diebstählen für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Sie habe auf Anweisung der Mutter vorgespielt Bettlerin zu sein und so zahlreiche Diebstähle begangen. Dass sie den familiären Zusammenhang weiterhin leugnet, zeigt nach Ansicht des Einzelrichters deutlich, dass die Klägerin ihre Straftaten nicht ehrlich bereut, sondern lediglich situationsgerecht agiert, um ihre vorzeitige Haftentlassung zu erreichen.

Hinzu kommt, dass die Klägerin nach den genannten Berichten der Justizvollzugsanstalt aufgrund ihres Bildungsstandes in nächster Zeit weder einen Schulabschluss oder eine berufliche Qualifikation erlangen wird. Sie ist noch Analphabetin und beherrscht die deutsche Sprache nur mündlich. Sie hat daher in der Bundesrepublik Deutschland nur geringe wirtschaftliche Perspektiven. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit erneut straffällig zu werden nochmals erheblich. Auch nach der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 25. Mai 2011 ist dementsprechend zu befürchten, dass sie weiterhin Eigentumsdelikte begehen wird.

Der Beklagte hat das ihm zustehende Ermessen erkannt und die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Gesichtspunkte rechtsfehlerfrei berücksichtigt. Er hat insbesondere zutreffend auf die hohe Gefahr weiterer Straftaten hingewiesen, sowie die geringe Verwurzelung der Klägerin in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland, die sie vor ihrer Inhaftierung lediglich zur Begehung von Straftaten aufgesucht hat. Er hat zudem richtig gewichtet, dass die Klägerin volljährig ist und deshalb keine besonders schutzbedürftigen familiären Beziehungen in Deutschland bestehen.

4. Die Befristung der Verlustfeststellung findet ihre rechtliche Grundlage in § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, die Androhung der Abschiebung beruht auf § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.