Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.10.2020, Az.: 10 A 12396/17

Antragstellung; maßgeblicher Zeitpunkt; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.10.2020
Aktenzeichen
10 A 12396/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71412
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob ein Asylbewerber seinen (Zweit)antrag im Sinne von § 71 a Abs.1 AsylG "nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat" gestellt hat, ist der Zeitpunkt der Antragstellung in Deutschland.

  2. 2.

    Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob das Asylverfahren in dem Drittstaat "erfolglos abgeschlossen" worden ist, ist die Bestandskraft der Entscheidung bzw. die Rechtskraft nachgehender Rechtsmittelentscheidungen.

In der Verwaltungsrechtssache
Herr A.
,
C., A
-StadtStaatsangehörigkeit: ivorisch,
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte B.,
B-Straße, A-Stadt - -
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Oldenburg -,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg - -
- Beklagte -
wegen Asyl (Zweitantrag)
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 10. Kammer - am 14. Oktober 2020 ohne mündliche Verhandlung durch die Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts Reccius, den Richter am Verwaltungsgericht Matthies, die Richterin Dr. Eslami, die ehrenamtliche Richterin Voigt und den ehrenamtlichen Richter Scharninghausen für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2017 wird aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässigen Zweitantrag und die Androhung seiner Abschiebung nach Côte d'Ivoire und begehrt die Prüfung seines Asylbegehrens durch die Beklagte im nationalen Verfahren.

Er ist nach eigenen Angaben ivorischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben am 5. August 2015 in das Bundesgebiet eingereist. Am 26. August 2016 stellte der Kläger einen förmlichen Asylantrag.

Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Klägers im EURODAC-System ergab, dass er am 9. Juli 2012 im Zusammenhang mit einem Asylantrag in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt worden war. Unter dem 30. August 2016 fragte die Beklagte bei den griechischen Behörden den Ausgang des Asylverfahrens ab und erinnerte am 30. November 2016 an das bis dahin unbeantwortete Informationsersuchen.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 2016 teilten die griechischen Behörden mit, dass der Kläger ein Schutzgesuch geäußert habe, das am 1. März 2013 abgelehnt worden sei. Der Kläger habe gegen die Ablehnung Klage erhoben, die am 30. August 2016 abgewiesen worden sei. Die Beklagte prüfte das Schutzgesuch des Klägers daraufhin als Zweitantrag.

Mit Bescheid vom 29. November 2017 lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab, verneinte Abschiebungshindernisse und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung nach Côte d'Ivoire zur Ausreise auf. Das Asylverfahren des Klägers in Griechenland sei erfolglos abgeschlossen. Sein in Deutschland gestellter Antrag sei daher als Zweitantrag zu prüfen. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien nicht gegeben. Der Bescheid wurde dem Kläger am 4. Dezember 2017 an einen empfangsbevollmächtigten Mitarbeiter seiner Unterkunft ersatzweise zugestellt.

Am 11. Dezember 2017 hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung seiner Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz macht er geltend, dass die Beklagte seinen Asylantrag zu Unrecht als unzulässigen Zweitantrag abgelehnt habe. Der Ausgang und der Prüfungsumfang des in Griechenland geführten Asylverfahrens seien nicht konkret in Erfahrung gebracht worden. Das Asylverfahren sei außerdem nicht rechtskräftig abgeschlossen gewesen, als er seinen Asylantrag in der Bundesrepublik gestellt habe.

Dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 2. Februar 2018 - 10 B 12398/17 - entsprochen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm internationalen subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Der Sachverhalt sei hinreichend ermittelt, der Kläger habe selbst angegeben, dass er einen erfolglosen Asylantrag in Griechenland gestellt habe.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).

I. Die Klage ist (nur) mit dem Anfechtungsbegehren zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Folge- und Zweitanträgen, die nach aktueller Rechtslage als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist. Dagegen ist die Klage unstatthaft, soweit der Kläger darüber hinaus im Wege des "Durchentscheidens" begehrt, die Beklagte zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 16 f.).

II. Soweit sie zulässig ist, ist die Klage begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beklagte stützt die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens auf § 71a Abs. 1 AsylG. Danach wird, wenn der Ausländer seinen Asylantrag nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchgeführt, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.

Der danach erforderliche "erfolglose Abschluss des Asylverfahrens" in dem Drittstaat im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG ist hier nicht gegeben. Zwar ist Griechenland formell ein sicherer Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG. Ein erfolgloser Abschluss des Verfahrens im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG ist aber nur dann anzunehmen, wenn über den Antrag in der Sache entschieden worden und die Entscheidung rechtskräftig ist (vgl. VG Schwerin, Urteil vom 8.7.2016 - 15 A 190/15 As -, juris Rn. 18). Andere Arten der Beendigung des Asylverfahrens im Drittstaat wie die dauernde Einstellung des Verfahrens oder die Einstellung aufgrund einer fingierten Rücknahme bei Nichtbetreiben des Asylverfahrens, sind vom Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 AsylG dagegen schon aufgrund vorrangigen Europäischen Rechts ausgenommen. Denn nach Art. 18 Abs. 2 UA 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) - Dublin III VO - hat der zuständige Mitgliedstaat in den Fällen (Absatz 1 lit. c), in denen über den Erstantrag im ersten Mitgliedstaat in erster Instanz keine sachliche Entscheidung getroffen worden war, sicherzustellen, dass die Betroffenen einen neuen Antrag stellen können, der nicht als Folgeantrag gewertet werden darf. Diese formale und materielle Rechtsstellung des Klägers geht auch dann nicht verloren, wenn im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III VO die Zuständigkeit für die Prüfung des neuerlichen Schutzgesuchs auf den nunmehr ersuchten Mitgliedsstaat übergeht (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 29.4.2015 - A 11 S 121/15 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 3.9.2016 - 10 A 3550/15 -, juris).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob der Antrag im Sinne von § 71a AsylG "nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat" gestellt worden ist, ist nach dem klaren Wortlaut der Norm der Zeitpunkt der Antragstellung im Bundesgebiet (vgl. VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 13.7.2017 - 6 L 665/17.A -, Rn. 5, juris; Bruns, in: Hofmann, NK Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rn. 5 zu § 71a; Dickten, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition 1.7.2020, Rn. 4 zu § 71a; ausdrücklich offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - a. a. O. -, Rn. 40). Zu diesem Zeitpunkt war nach der Mitteilung der griechischen Behörden vom 15. September 2016 das Rechtsmittelverfahren in Griechenland noch anhängig.

Die Regelung des § 71a AsylG und ihre Auslegung nach dem Wortlaut werden auch durch § 77 Abs. 1 AsylG nicht verdrängt. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist zwar für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgeblich. Diese Vorschrift modifiziert jedoch nicht das materielle Recht. Kommt es danach darauf an, ob der Antrag "nach" Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat gestellt worden ist, ist dies eine materielle Rechtsfrage, die nach dem Sach- und Rechtsstand im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, also unter Berücksichtigung auch während des gerichtlichen Verfahrens gewonnener Erkenntnisse und nach Ergehen der angefochtenen Entscheidung eingetretener Rechtsänderungen zu beantworten ist, aber inhaltlich unverändert bleibt.

Die Entscheidung kann auch nicht auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten bleiben. Der Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet aus, weil seine tatsächlichen Voraussetzungen ebenso ungeklärt sind wie die des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Der sodann allein noch in Betracht kommende Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG greift schon deshalb nicht ein, weil die Beklagte für die Durchführung des hier in Rede stehenden Asylverfahrens zuständig geworden ist, nachdem sie nicht innerhalb der Fristen des Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO Griechenland um die Wiederaufnahme des Klägers ersucht hat. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als für den Ausländer sicherer Drittstaat gemäß § 26 a AsylG betrachtet wird. Gemäß § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG schließt die Einreise aus einem sicheren Drittstaat die Berufung auf Art. 16a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes jedoch nicht aus, wenn die Bundesrepublik Deutschland - wie hier - aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies gilt nicht nur bei einer originären Zuständigkeit Deutschlands, sondern auch bei einem nachträglichen Zuständigkeitswechsel; entsprechendes gilt für § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 - a. a. O. -).

2. Die Aufhebung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 3 des angefochtenen Bescheides) folgt aus § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG; zugleich entfällt auch die Grundlage des unter Nr. 4 des angefochtenen Bescheides ausgesprochenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 4 VwGO. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die außergerichtlichen Kosten des Klägers in gleicher Höhe auch angefallen wären, wenn der Kläger seine Klage auf das Anfechtungsbegehren beschränkt hätte. Gerichtskosten werden aufgrund von § 83 b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Reccius
Matthies
Dr. Eslami