Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 06.12.2000, Az.: 9 U 237/98
Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht bei Badeaufsicht für Leib und Leben von Badegästen; Verkehrssicherungspflicht der die Badeanstalt betreibenden Gemeinde ; Feststellung einer Untertauchzeit; Feststellung der Mindestuntertauchzeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 06.12.2000
- Aktenzeichen
- 9 U 237/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 19844
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2000:1206.9U237.98.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Verden 7 O 319/97
Rechtsgrundlagen
- § 823 BGB
- § 839 BGB
Fundstellen
- KGReport Berlin 2001, 48
- MDR 2001, 691 (Volltext mit red. LS)
- OLGR Düsseldorf 2001, 48
- OLGR Frankfurt 2001, 48
- OLGR Hamm 2001, 48
- OLGR Köln 2001, 48
- OLGReport Gerichtsort 2001, 92-93
- OLGReport Gerichtsort 2001, 48
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Auch unter Berücksichtigung der großen Bedeutung einer sorgfältigen Badeaufsicht für Leib und Leben der Badegäste dürfen die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht der die Badeanstalt betreibenden Gemeinde nicht überspannt werden. Zu berücksichtigen ist - wenn auch wegen der überragenden Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter nur in eingeschränktem Umfang - dasjenige, was der Gemeinde in einem derartigen Fall zumutbar ist.
- 2.
Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Gemeinde ist erst dann festzustellen, wenn die Aufsicht so organisiert wird, dass eine im Nichtschwimmerbecken bewusstlos liegende Person erst nach Ablauf von mindestens vier Minuten durch das Aufsichtspersonal entdeckt wird.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 23. Juni 1998 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Verden wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Wert der Beschwer für die Klägerin: 58.872,20 DM .
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Gründe
Die Berufung ist unbegründet.
Das Begehren der Klägerin muss letztlich deshalb erfolglos bleiben, weil diese den ihr obliegenden Beweis dafür, dass der geschädigte ####### mindestens vier Minuten im Wasser untergetaucht gewesen ist, nicht geführt hat.
Nur wenn eine Untertauchzeit von mindestens dieser Dauer hätte mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden können, wäre eine Haftung der Beklagten zu bejahen gewesen. Der Senat hat hierzu in seinem Urteil vom 17. März 1999 ausgeführt, dass es eine der Gemeinde als Verkehrssicherungspflichtsverletzung an-zulastende Pflichtwidrigkeit darstelle, wenn 'sie die Aufsicht in dem Freibad so organisiert hat, dass der Geschädigte über einen Zeitraum von mehreren Minuten bewusstlos im Wasser des Nichtschwimmerbeckens gelegen hat, ohne dass er von der zur Aufsicht verpflichteten Person entdeckt worden wäre. '
Dieser haftungsrechtliche Ansatz ist vom Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren nicht beanstandet worden (BGH VI ZR 158/99 - Urteil vom 21. März 2000, dort Ziff. II 1. ). Der Bundesgerichtshof hat hierzu ausgeführt:
Sollte das Kind vier Minuten oder länger im Wasser des Nichtschwimmerbeckens untergetaucht gewesen sein, weil der zur Aufsicht bestellte Schwimmmeister (ohne zusätzliche Maßnahmen) von dem ihm zugewiesenen Standort das Becken nicht hatte einsehen können, und sollte dadurch die Schädigung des Kindes entstanden sein, würde die Haftung des Beklagten aus Rechtsgründen keinen Bedenken begegnen. '
Nach der vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme lässt sich jedoch eine Untertauchzeit von mindestens vier Minuten nicht feststellen. Der insoweit als Sachverständige beauftragte Direktor des Institutes für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule #######, #######, hat in seinem Gutachten vom 9. Oktober 2000, welches er unter Berücksichtigung der mit Schriftsatz der Klägerin vom 8. November 2000 vorgelegten Privatgutachten ergänzt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 22. November 2000 erläutert hat, ausgeführt, dass die Mindestuntertauchzeit drei Minuten betragen habe. Der Sachverständige hat dabei nachvollziehbar dargelegt, wie er zur Annahme dieser Mindestzeit gelangt ist. Er hat nicht nur die unmittelbar nach dem Unfall gefertigten Arztberichte und Untersuchungsbefunde, sondern auch die im Juli/Oktober 2000 erstellten Gutachten über den Gesundheitszustand ####### berücksichtigt. Aus den festgestellten Beeinträchtigungen im kognitiven Bereich (vor allem der Gedächtnislei-stung) hat er gefolgert, dass es zwar zu einer Hypoxie (relativer Sauerstoffmangel), nicht aber zu einer schweren Hypoxie oder gar zu einer Anoxie (absoluter Sauerstoffmangel) gekommen ist. Denn bei ####### sind lediglich diskrete Hirnschädigungen feststellbar, hingegen keine Störungen der höheren kognitiven Funktionen und keinerlei morphologische Schäden. Dies lässt nach den Feststellungen des Sachverständigen den sicheren Schluss zu, dass allenfalls die Hirnrinde, nicht aber der Hirnstamm geschädigt worden ist. Derartige Schädigungen der Hirnrinde sind aber bereits nach einer Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff für eine Dauer von nur 30 Sekunden möglich, jedenfalls nicht vollständig auszuschließen.
Der Sachverständige hat bei der Feststellung der Mindestuntertauchzeit auch be-rücksichtigt, dass aufgrund der Sauerstoffreserve des Körpers eine Hypoxie im günstigsten Fall (etwa wenn es nicht sofort zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand kommt und der Untergetauchte keinerlei Panik- oder Krampfreaktionen mit vermehrtem Sauerstoffbedarf zeigt) erst nach 30 bis 60 Sekunden beginnt. Gleichwohl rechtfertigt dies nach der Überzeugung des Sachverständigen nicht die Annahme einer längeren Mindestuntertauchzeit.
Der Senat hat keinen Anlass, diese vom Sachverständigen getroffene Feststellung, die sich im Einklang mit der von ihm herangezogenen medizinischen Fachliteratur befindet, anzuzweifeln. Zwar hält der von der Klägerin eingeschaltete Privatgutachter ####### eine längere Mindestuntertauchzeit für wahrscheinlich; mit Tatsachen, die sich auf den konkreten Fall beziehen oder mit neuen wissen-schaftlichen Erkenntnissen konnte er diese Annahme aber nicht erhärten. Soweit ####### auf neuere medizinische Literatur verweist, ist mit den dort geschilderten Fällen lediglich belegt, dass mit längeren Untertauchzeiten u. U. keine oder nur geringere Hirnschäden verbunden waren. Die Richtigkeit der dort für den jeweiligen Einzelfall getroffenen Feststellungen bezweifelt der Senat nicht. Auch der Sachverständige ####### hat Fälle mitgeteilt, in denen derartige Feststellungen getroffen worden sind. Demgemäß hat er auch festgestellt, dass im Streitfall eine längere Untertauchzeit mit dem Befundbild durchaus vereinbar wäre. Darauf kommt es indes für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht an. Denn maßgeblich ist allein, was als Mindestzeitraum sicher feststellbar ist. Für diese Feststellung ist es aber ebenso unerheblich, ob im Einzelfall bei einer längeren Untertauchzeit vergleichbare oder geringere Schädigungen des Gehirns aufgetreten sind, wie es ohne Belang ist, dass es - worüber zwischen dem gerichtlich bestellten und dem Privatgutacher Einigkeit bestand - bei kürzeren Untertauchzeiten gravierendere Schädigungen und selbst Todesfälle gegeben hat. Gerade wegen der unterschiedlichen Toleranz, die der menschliche Organismus derartigen Vorfällen gegenüber entwickelt, verbieten sich Vergleiche in die eine ebenso wie in die andere Rich-tung. Unsicherheiten und Zweifel gehen zu Lasten der Klägerin, die die Voraussetzungen einer Pflichtverletzung der Beklagten beweisen muss.
Da auch der Privatgutachter ####### einräumen musste, dass es gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen in einem Fall der vorliegenden Art die Mindestuntertauchzeit mehr als drei Minuten betragen haben muss, nicht gibt, hat der Senat - da im übrigen keine Bedenken gegen die Richtigkeit der sachverständigerseits getroffenen Feststellungen bestehen - bei der rechtlichen Beurteilung des Falles diese Mindestuntertauchzeit von drei Minuten zugrunde zu legen.
Bei dieser Zeitspanne vermag der Senat eine Pflichtwidrigkeit der beklagten Gemeinde noch nicht zu bejahen. Auch unter Berücksichtigung der großen Bedeu-tung einer sorgfältigen Badeaufsicht für Leib und Leben der Badegäste dürfen die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht nicht überspannt werden. Zu be-rücksichtigen ist - wenn auch wegen der überragenden Bedeutung der gefähr-deten Rechtsgüter nur in eingeschränktem Umfang - dasjenige, was der Gemein-de in einem derartigen Fall zumutbar ist. Die Organisation des Badebetriebes, insbesondere der Badeaufsicht, kann aber auch bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt nicht so ausgestaltet werden, dass jedwedes Risiko ausgeschlossen wird. Gerade im Bereich einer öffentlichen Badeanstalt sind kurzfristige Ablenkungen des Aufsichtspersonals in vielfältiger Hinsicht denkbar. Eine lückenlose Überwa-chung des Badebetriebes, insbesondere eine ununterbrochene Beobachtung der Schwimmbecken, haben weder der Senat in seinem Urteil vom 19. März 1999 noch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. März 2000 gefordert. Eine solche wäre auch tatsächlich - jedenfalls mit zumutbaren Mitteln nicht zu gewährleisten.
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1; 708 Nr. 10, 713; 546 Abs. 2 ZPO.