Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 09.01.2004, Az.: 3 B 80/03
Abschiebung; Depression; Duldung; Schutz von Ehe und Familie; Selbstmordgefährdung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 09.01.2004
- Aktenzeichen
- 3 B 80/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 50467
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 55 AuslG
- Art 6 Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Können Depressionen eines abgelehnten Asylbewerbers bei einer Abschiebung zu einem Suizid führen, so ist der Betroffene davor durch Erteilung einer Duldung zu bewahren. Allerdings kann sich der Ausländer nicht darauf einrichten, wegen der Erkrankung auf Dauer in Deutschland bleiben zu können. Er muss mit einer Aufenthaltsbeendigung rechnen, sobald sich der gesundheitliche Zustand stabilisiert hat. Eine Behandlung der Krankheit in Deutschland - stationär, teilstationär oder medikamentös - kann und muss auch das Ziel haben, den Ausländer zu der Einsicht zu bringen, dass seine Ausreise nicht auf Dauer hinausgeschoben werden kann.
Gründe
Die Antragsteller sind abgelehnte Asylbewerber aus der Türkei. Der 1967 geborene Familienvater B. ist depressiv erkrankt, so dass die Familie begehrt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen sie zu unterlassen.
Der Antrag ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass ohne sie Rechte vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnten. Einstweilige Anordnung sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden.
Die Anwendung dieser Vorschrift setzt neben einem Anordnungsgrund, - d. h. eine besondere Eilbedürftigkeit - sowie einen Anordnungsanspruch voraus, d. h. die überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des geltend gemachten Rechtes.
Daraus folgt:
Eine besondere Eilbedürftigkeit ist gegeben. Die Sache ist dringlich, da der Antragsgegner die Abschiebung der Familie angedroht hat.
Die Familie hat auch einen Anspruch darauf, dass der Antragsgegner ihr eine Duldung für sechs Monate erteilt. Für eine darüber hinausgehende Zeit ist demgegenüber ein Anspruch nicht gegeben, insoweit ist der Antrag ohne Erfolg.
a) Der Antragsgegner ist für die Erteilung einer Duldung zuständig.
Allgemein ist das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig für die Prüfung und Feststellung von sogenannten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen, die bei einem zur Ausreise verpflichteten früheren Asylbewerber zu Tage treten. Die Ausländerbehörde demgegenüber ist zuständig für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Abschiebungshindernisse, etwa wegen krankheitsbedingter Reiseunfähigkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.9.1999 - 9 C 12.99 -, InfAuslR 2000 Seite 93).
Da es im vorliegenden Fall um die Frage einer Reiseunfähigkeit wegen schwerer Depression und Suizidgefahr geht, ist es - jedenfalls auch - Sache der für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Antragsgegnerin, diesen geltend gemachten erheblichen Gesundheitsgefährdungen angemessen zu begegnen, etwa durch die hier erstrebte Duldung.
b) Zunächst einmal hat der Familienvater B. einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Da in seinem Asylverfahren bereits entschieden worden ist, dass seine Abschiebung zulässig ist, kann gem. § 55 Abs. 4 AuslG eine Duldung nur erteilt werden, wenn die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist.
So ist es hier. Die Unmöglichkeit seiner Abschiebung folgt aus seinen Depressionen und der damit einhergehenden Suizidgefahr.
Über den psychischen Zustand des Familienvaters liegen mehrere Gutachten vor. Der Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie Dr. H. hat bereits am 25. April 2002 bescheinigt, dass beim Familienvater eine psychogene Erkrankung vorliegt. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. I. hat am 5. August 2002 bescheinigt, dass der Familienvater an einer schweren reaktiven Depression leidet und suizidal ist. In einer ausführlichen Stellungnahme vom 2. Oktober 2003 hat er ausgeführt, dass der Familienvater durchgehend depressiv ist und bei zwangsweiser Ausweisung ein erweiterter Suizidversuch droht. Das Gesundheitsamt des Antragsgegners hat aufgrund seines Gesundheitszeugnisses vom 15. Oktober 2003 an einer ausgeprägten psychischen Störung von Krankheitswert keinen Zweifel: Die Krankheit sei behandlungsbedürftig, eine zwangsweise Abschiebung lasse eine Traumatisierung erwarten, selbstbeschädigende Handlungen im Sinne einer Selbstmordgefährdung seien nicht auszuschließen. Das Zeugnis enthält den Satz: „Der Arzt im Amtsarzt sagt klar: Nicht Abschieben bei schwerer psychischer Störung, erneuter Traumatisierung durch das Abschieberitual und unsicherer Prognose im Zielland“. Der Nervenarzt und Arzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. J. hat am 27. Oktober 2003 einen fachärztlichen Krankheitsbericht erfasst. Er bescheinigt eine beständig gesenkte Stimmungslage des Familienvaters, einen tiefernsten und leblos wirkenden Blick. Der schwere depressive Zustand gehe einher mit Angst, Verzweiflung und Ausweglosigkeit, mit Wutaffekten, mit Schlaf- und anderen Störungen. Die Möglichkeit eines erweiterten Suizids müsse in Rechnung gestellt werden, es bestehe eine Angstsymptomatik. Aus ärztlicher und therapeutischer Sicht sei eine Abschiebung nicht zu verantworten wegen der hoch einzuschätzenden Gefahr von selbst- oder fremdgefährdenden Handlungen. Die Erkrankung sei behandlungsbedürftig, aktuell stehe eine stationäre oder teilstationäre psychiatrische Behandlung zur Diskussion.
Die von mehreren Ärzten bescheinigten Erkrankungen rechtfertigen ein vorläufiges Abschiebungsverbot und damit einhergehend den Anspruch auf Erteilung einer befristeten Duldung ohne weiteres. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht, aus der Verfassungsnorm folgt auch eine Schutzpflicht der Ausländerbehörde, die bei einer möglichen Abschiebung zu beachten ist. Können Depressionen bei einer Abschiebung zu einem Suizid führen - wie es hier hinsichtlich des Familienvaters von mehreren Ärzten befürchtet wird -, so ist der Betroffene davor zu bewahren. Allerdings kann sich der Familienvater B. nicht darauf einrichten, wegen der Erkrankung auf Dauer in Deutschland bleiben zu können. Er muss mit einer Aufenthaltsbeendigung rechnen, sobald sich der gesundheitliche Zustand stabilisiert hat. Eine Behandlung der Krankheit in Deutschland - stationär, teilstationär oder medikamentös - kann und muss auch das Ziel haben, den Kläger zu der Einsicht zu bringen, dass seine Ausreise nicht auf Dauer hinausgeschoben werden kann.
c) Der Anspruch der Ehefrau und der minderjährigen Kinder auf Erteilung einer Duldung ergibt sich im vorliegenden speziellen Fall aus Art. 6 Abs. 1 GG. Im vorliegenden speziellen Einzelfall ist zu berücksichtigen, dass die gesamte Familie eine Beistandsgemeinschaft bildet und die Mitglieder sich gegenseitig stützen. Die Gefahr selbstgefährdender Handlungen durch den Familienvater werden durch die Anwesenheit der übrigen Familienmitglieder erheblich gemindert.
d) Angesichts der Schwere der Erkrankung ist eine Verpflichtung des Antragsgegners zu einer nur kurzfristigen Duldung nicht sinnvoll. Eine Duldung für sechs Monate erscheint angemessen und interessengerecht. Gegebenenfalls ist der Familienvater bis zum Ablauf dieser Frist erneut im Hinblick auf seine Krankheit zu begutachten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.