Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.06.2015, Az.: L 1/4 KR 437/12
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.06.2015
- Aktenzeichen
- L 1/4 KR 437/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 24348
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0625.L1.4KR437.12.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BSG - 08.03.2016 - AZ: B 1 KR 27/15 R
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. Juni 2012 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 652,32 EUR zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens aus beiden Rechtszügen. Der Streitwert wird auf 652,32 EUR festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Am 4. August 2009 beantragte der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte G. (Versicherte) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Die Beklagte wartete vor einer Entscheidung den Eingang einer Verordnung zur medizinischen Rehabilitation des behandelnden Arztes des Versicherten am 24. August 2009 ab und leitete den Antrag dann an die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund weiter, wo er am 26. August 2009 einging. Diese wiederum stellte nach Prüfung ihrer Zuständigkeit fest, dass das Versichertenkonto bei der Klägerin, der DRV Braunschweig-Hannover, geführt wurde und leitete den Antrag erneut weiter. Bei der DRV Braunschweig-Hannover ging der Antrag am 3. September 2009 ein.
Die Klägerin bewilligte dem Versicherten mit Bescheid vom 9. September 2009 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die in der Zeit vom 3. bis 24. November 2009 erbracht wurden.
Mit Schreiben vom 23. Februar 2010 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und bat um Erstattung der entstandenen Aufwendungen für die Rehabilitation von insgesamt 2.786,21 EUR. In diesem Betrag waren Pflegekosten von 1.843,17 EUR, Fahrtkosten von 284,09 EUR, Übergangsgeld von 488,29 EUR sowie Beiträge zur Rentenversicherung von 29,90 EUR, zur gesetzlichen Krankenversicherung von 104,21 EUR, zur Pflegeversicherung von 29,92 EUR sowie zur Unfallversicherung von 6,63 EUR enthalten.
Mit Schreiben vom 18. März 2010 erkannte die Beklagte ihr Leistungspflicht hinsichtlich der Pflege- und Fahrtkosten an und erstattete der Klägerin insgesamt 2.127,26 EUR. Die geltend gemachten Beiträge zur Unfallversicherung seien allein schon deswegen nicht erstattungspflichtig, weil die Erhebung durch die Verwaltungsberufsgenossenschaft im sogenannten Umlageverfahren erst zwei Jahre nach Entstehung rückwirkend erfolge. Das Übergangsgeld sei nicht erstattungsfähig, weil der Versicherte als Bezieher von Arbeitslosengeld II keinen Anspruch auf Krankengeld habe.
Mit Schreiben vom 13. April 2010 machte die Klägerin erneut einen Anspruch auf Erstattung sämtlicher Kosten nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) geltend. Nachdem die Beklagte keine weiteren Zahlungen leistete, hat die Klägerin am 26. August 2010 Klage vor dem Sozialgericht Hannover erhoben, wobei sie auf die Geltendmachung von 6,63 EUR für die Unfallversicherung verzichtete und ihren Erstattungsanspruch auf 652,32 EUR beschränkte. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Beklagte sei zur Erstattung der geltend gemachten Kosten verpflichtet, denn diese hätte die Leistung eigentlich selbst erbringen müssen. Sie, die Klägerin, habe im vorliegenden Fall als unzuständiger drittangegangener Träger nur deswegen geleistet, um dem Anspruch des Versicherten aus § 14 SGB IX auf eine möglichst schnelle Entscheidung über seinen Antrag Rechnung zu tragen. Aus diesem Grund sei auch eine erneute "Zurückverweisung" an den zweitangegangenen Träger, die Deutsche Rentenversicherung Bund, aus ihrer Sicht nicht in Betracht gekommen. Die Beklagte sei zur Zahlung verpflichtet, auch wenn sie das Übergangsgeld und die Beiträge zur Sozialversicherung nicht hätte zahlen müssen, wenn sie selbst als zuständiger Träger geleistet hätte. Denn § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX verpflichte die Beklagte zur Erstattung sämtlicher, dem eigentlich unzuständigen Träger entstandenen Aufwendungen.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Klägerin habe eigentlich überhaupt keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten nach § 14 Abs. 4 SGB IX, denn darin sei nur der Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Trägers geregelt, nicht jedoch der eines drittangegangenen Trägers. Der Anspruch der Klägerin bestimme sich daher nach § 105 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Diesen Anspruch habe die Beklagte erfüllt.
Mit Urteil vom 25. Juni 2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Dabei hat es sich den Standpunkt der Beklagten zu eigen gemacht und die Auffassung vertreten, die Klägerin habe keinen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. Die Konstellation mit einem drittangegangenen Träger sei von § 14 SGB IX nicht vorgesehen und nach Konzeption und Wortlaut nicht erfasst. Die Klägerin habe lediglich einen Anspruch nach § 105 Abs. 2 SGB X. Dieser richtet sich in seinem Umfang nach den für den zuständigen Leistungsträger (hier die Beklagte) geltenden Rechtsvorschriften. Daher richte sich der Erstattungsanspruch nach den Vorschriften des Fünftes Buches Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach diesen sei jedoch für den Fall, dass der Versicherte Leistungen nach dem SGB II beziehe, weder die Zahlung von Übergangsgeld (oder Krankengeld) noch von Sozialversicherungsbeiträgen vorgesehen.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung hat das SG die Berufung zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 21. August 2012 zugestellte Urteil am 7. September 2012 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 SGB IX zu haben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. Juni 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag von 652,32 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest und stützt sich ergänzend auf die Entscheidung des SG.
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Klägerin und der Beklagten, die in der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, weil das SG sie zugelassen hat. Sie ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des SG hat die Klägerin einen Anspruch auf vollständige Erstattung ihrer Auslagen durch die Beklagte.
Nach den in den Akten befindlichen Unterlagen lagen die versicherungsrechtlichen und medizinischen Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten gegen die Beklagte auf Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation nach § 40 Abs. 2 SGB V vor. Das ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Die Beklagte hat daher auch die Kosten, die ihr selbst nach dem SGB V entstanden wären, also diejenigen für den stationären Aufenthalt und die Fahrtkosten, erstattet.
Die Klägerin hat darüber hinaus jedoch auch Anspruch auf Erstattung der übrigen von ihr verauslagten Kosten nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. Dieser lautet:
Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach Abs. 1 Satz 2 bis 4 festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften.
Im vorliegenden Fall war die Beklagte der eigentlich zuständige Rehabilitationsträger und hätte bei korrekter Würdigung des Sachverhalts und Beachtung der Fristen des § 14 Abs. 1 SGB IX die Rehabilitationsleistung gegenüber dem Versicherten selbst erbringen müssen. Die Klägerin ist daher ein unzuständiger Rehabilitationsträger i.S. des § 14 Abs. 4 SGB IX, der die Leistung gleichwohl bewilligt und erbracht hat. Nach dem reinen Wortlaut des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX hat die Klägerin daher Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen nach den für sie geltenden Rechtsvorschriften, d.h. in dem hier von ihr geltend gemachten Umfang.
Der Anspruch der Klägerin scheitert entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG auch nicht daran, dass es die doppelte Weiterleitung eines Antrags und damit einen drittangegangenen Träger gar nicht geben dürfte.
Zwar ist die Auffassung der Beklagten insoweit zutreffend, als die DRV Bund das Verfahren tatsächlich nicht an die Klägerin hätte weiterleiten dürfen. Ziel des § 14 SGB IX ist nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nämlich, dass möglichst schnell über einen Rehabilitationsantrag eines Versicherten entschieden wird, ohne dass es - wie in der vor Inkrafttreten des § 14 SGB IX liegenden Zeit - zu einem Streit der Versicherungsträger unter einander über die Zuständigkeit kommt und aus diesem Grund die Leistung an den Versicherten gar nicht oder erst mit Verzögerung erbracht wird (allgemeine Auffassung; vgl. z.B. Knittel, SGB IX, 8. Aufl. 2014, § 14 Rdnr. 16 mit ausdrücklichem Hinweis auf die Gesetzesbegründung). § 14 SGB IX sieht daher nur eine einmalige Weiterleitung eines Rehabilitationsantrages vor. Der Träger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, ist in jedem Fall zur Leistung verpflichtet und nicht berechtigt, den Antrag seinerseits weiterzuleiten. Wie sich aus § 14 Abs. 2 Satz 5 SGB IX ergibt, gilt dies selbst dann, wenn der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung gar kein Träger nach § 6 Abs. 1 SGB IX ist und daher die Leistung daher selbst gar nicht erbringen kann.
§ 14 SGB IX sieht in Abs. 1 Satz 1 allerdings auch vor, dass eine Weiterleitung lediglich innerhalb zweier Wochen nach Antragstellung des Versicherten beim erstangegangenen Träger erfolgen darf. Auch diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall nicht beachtet worden. Ausweislich der Akte der Beklagten ist der Antrag des Versicherten auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation am 4. August 2009 bei ihr eingegangen. Sie hätte diesen Antrag daher innerhalb von 14 Tage, d.h. bis spätestens zum 18. August 2009 an den nach ihrer Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten müssen. Tatsächlich weitergeleitet hat sie den Antrag des Versicherten an die DRV Bund jedoch erst mit Schreiben vom 24. August 2009, das am 26. August 2009 bei der DRV Bund eingegangen ist. Die Frist von zwei Wochen des § 14 Abs. 1 SGB IX ist daher nicht gewahrt und die Beklagte hätte die Leistungen für den Versicherten selbst erbringen müssen.
Weder für den Fall einer - rechtswidrigen - Weiterleitung nach Ablauf der Frist von 14 Tagen, noch für den Fall einer - rechtswidrigen - nochmaligen Weiterleitung durch den zweitangegangenen Träger enthält die Vorschrift des § 14 SGB IX eine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Erstattungsansprüche desjenigen, der die Leistung gegenüber dem Versicherten letztendlich erbracht hat.
Es ist daher an den Sinn und Zweck des § 14 SGB IX anzuknüpfen, eine Verzögerung der Rehabilitationsmaßnahme durch einen Zuständigkeitsstreit unter den in Betracht kommenden Leistungsträgern zu vermeiden. Sinn und Zweck sprechen unzweifelhaft dafür, dass der nicht fristgerecht zweitangegangene Träger in einem solchen Fall den Antrag nicht an den erstangegangenen Träger zurückverweist, sondern im Interesse des Versicherten den - nicht fristgerecht - weitergeleiteten Antrag bearbeitet und den Rehabilitationsbedarf unverzüglich nach § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX feststellt. Eine Zurückverweisung des Antrages an den sich für unzuständig haltenden erstangegangenen Träger würde zu einer weiteren Verzögerung des Verfahrens führen, was der von § 14 SGB IX bezweckten raschen Klärung der Zuständigkeit im Außenverhältnis zum Betroffenen entgegenstünde (vgl. für eine ähnliche Konstellation im Bereich des Sozialhilferechts die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg vom 21. Januar 2014 - F 4 LC 57/11, Rdnr. 56; zitiert nach ). Wie das OVG Lüneburg ist der erkennende Senat der Auffassung, dass bei der Auslegung des § 14 SGB IX stets der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, den Versicherten bzw. den behinderten Menschen so schnell wie möglich die notwendige Hilfe zu Teil werden zu lassen und zu vermeiden, dass eine Entscheidung durch einen Zuständigkeitsstreit unter den Trägern verzögert wird.
Eine solche Verzögerung würde jedoch eintreten, wenn man verlangen wollte, dass der aus seiner Sicht unzuständige Sozialleistungsträger den Antrag im Zweifel lieber an den erstangegangenen Träger zurückverweist, als selbst über den Anspruch des Versicherten zu entscheiden, weil er befürchten muss, ansonsten seine Aufwendungen entgegen der Regelung des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX nicht in vollem Umfang erstattet zu bekommen. Ein solches Verhalten würde den Sinn und Zweck des § 14 SGB IX geradezu konterkarieren. Darüber hinaus gilt auch im öffentlich Recht der Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. zum Krankenversicherungsrecht etwa die Urteile des BSG vom 22.11.2012 - B3 KR 1/12 R - und 16.05.2012 - B 3 KR 14/11 R -; zitiert nach ). Ein solcher Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben läge insbesondere dann vor, wenn ein sich selbst rechtswidrig verhaltender Träger die Erstattung von Aufwendungen verweigern könnte, die überhaupt nur deswegen entstanden sind, gerade weil er sich rechtswidrig verhalten hat.
Hätte im vorliegenden Fall also nicht die Klägerin, sondern die DRV Bund die Leistung gegenüber dem Versicherten erbracht, hätte die Beklagte nicht die vollständige Erstattung der Aufwendungen mit der Begründung verweigern können, die DRV Bund sei gar nicht zuständig im Sinne des § 14 SGB IX gewesen, weil sie, die Beklagte, den Antrag erst nach Ablauf der Frist von 14 Tagen weitergeleitet habe und die DRV Bund daher diesen hätte an sie zurückverweisen müssen.
Diese Grundsätze treffen unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 14 SGB IX nicht nur für das Verhältnis zwischen erst- und zweitangegangenem Träger zu, sondern auch für das Verhältnis zwischen erst- und drittangegangenem Träger. Die Klägerin als drittangegangener Träger ist der einzige der am Verfahren beteiligten Trägern, der dem Sinn der Regelung des § 14 SGB IX und damit dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers und dem Anspruch des Versicherten auf eine schnelle Durchführung der notwendigen Rehabilitationsmaßnahme Rechnung getragen hat. Die Klägerin hat daher einen Anspruch auf Erstattung aller Aufwendungen nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX, so als wäre sie der zweitangegangene Träger gewesen.
Der Beklagten entstehen durch dieses Ergebnis des Rechtsstreits im Übrigen auch keine höheren Aufwendungen, als wenn sie den Antrag rechtzeitig an die DRV Bund weitergeleitet und diese die Leistung gegenüber dem Versicherten erbracht hätte.
Unter Berücksichtigung all dessen konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben und war aufzuheben. Gemäß § 197 a SGG i.V.m. § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hat die Beklagte als Unterlegene die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3, 47 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
Der Senat hat die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.