Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 29.11.2019, Az.: S 44 AS 262/19

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
29.11.2019
Aktenzeichen
S 44 AS 262/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69564
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid vom 20.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.2.2019 wird insoweit aufgehoben, als nicht die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung übernommen werden,

und der Beklage verpflichtet, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu bewilligen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklage.

Tatbestand:

Die Klägerinnen begehren von dem Beklagten die Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung, mithin monatlich weitere Kosten in Höhe von 180,40 €.

Die 1964 geborene Klägerin zu 1) und ihre 2004 geborene Tochter, die Klägerin zu 2), wohnen zusammen und bilden eine Bedarfsgemeinschaft. Sie bewohnen eine 119 m² barrierefreie große Wohnung in der Innenstadt, für die monatliche Kosten in Höhe von 599 € für die Kaltmiete, 213 € für die Nebenkostenvorauszahlungen und 105 € für die Heizkostenvorauszahlungen anfallen.

Die Klägerin zu 2) ist teilweise auf einen Rollstuhl sowie auf die Wahrnehmung verschiedener Therapieangebote, nämlich Logopädie, Ergotherapie, Psychotherapie und Krankengymnastik angewiesen. Ihr ist ein Pflegegrad der Stufe 3 zugeordnet, sie benötigt ein Pflegebett und trägt an den Beinen eine Tag- bzw. Nachtorthese. Die Pflege wird von der Mutter wahrgenommen. Bis auf die Psychotherapie kann die Klägerin zu 2) sämtliche Therapieangebote in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnung wahrnehmen.

Die Klägerin zu 1) ist in fachärztlicher psychiatrischer Behandlung.

Mit Schreiben vom 16.5.2018 forderte der Beklagte die Klägerinnen zur Kostensenkung bei den Wohnungskosten auf und teilte mit, dass ab dem 1.12.2018 nur die für angemessen erachteten Kosten übernommen werden könnten.

Bis zum 31.12.2018 übernahm der Beklagte dann die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für die von den Klägerinnen bewohnte Wohnung in der Bahnhofstraße 3 in Q..

Mit Bescheid vom 20.12.2018 bewilligte der Beklagte Kosten der Unterkunft und Heizung für das Jahr 2019 in Höhe der Kosten, die für eine von ihr als angemessen erachteten 60 m² große Wohnung nach der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitszuschlags in Höhe von 10 % anfielen.

Die Klägerinnen legten hiergegen Widerspruch ein und begründeten diesen mit dem besonderen Wohnraumbedarf der Klägerin zu 2) und legten darüber hinaus eine Bescheinigung vom 4.2.2019 des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie H. dahingehend vor, dass die Klägerin zu 1) psychisch in erheblichem Maße traumatisiert und belastet sei und daher aus gesundheitlichen Gründen nicht kurzfristig die Wohnung wechseln könne.

Mit dem am 25.2.2019 beim Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen eingegangenem Widerspruchsbescheid vom 25.02.2019 half der Beklagte dem Widerspruch teilweise dadurch ab, dass sie wegen der Notwendigkeit eines Rollstuhls der Prüfung der Angemessenheit einen 75 m² großen Wohnraum zugrunde legte. Sie bewilligte damit für das Jahr 2019 Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 666,60 €, mithin 180,40 € weniger als die tatsächlich geschuldete Miete nebst Nebenkosten- und Heizkostenvorauszahlungen. Im Übrigen lehnte er die Gewährung weiterer Kosten der Unterkunft und Heizung ab. Die persönlichen Verhältnisse der Widerspruchsführerin und ihrer Tochter seien ausreichend berücksichtigt worden, da die Kostensenkung nicht bereits zum 1.12.2018, sondern erst zum 1.1.2019 erfolge. Dass die Klägerin zu 1) psychisch in erheblichem Maße traumatisiert und belastet sei und ausweislich der fachärztlichen Stellungnahme vom 4.2.2019 aus gesundheitlichen Gründen nicht kurzfristig die Wohnung wechseln könne, führe zu keiner anderen Entscheidung. Denn den Klägerinnen sei bereits seit Mai 2018 bekannt, dass sie ihre Kosten senken müssten. Von einem kurzfristigen Wohnungswechsel könne keine Rede sein.

Mit der am 24.3.2019 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgen die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie legen hierzu eine schriftliche Bestätigung des Betreuers der Klägerin zu 1), Herrn I., vom 8.3.2019 vor, in der dieser mitteilt, dass er regelmäßig mit den Klägerinnen nach behindertengerechten Wohnungen suche. Auch das Jugendamt sowie „Leben leben“ könnten seiner Mitteilung nach keinen entsprechenden Wohnraum von der GWK zur Verfügung stellen.

Darüber hinaus reichen die Klägerinnen ein Schreiben vom 27.2.2019 Frau J. im Auftrag des Jugendamtes des Landkreises Q., zu den Akten, die darin nachdrücklich fordert, dass die gegebenen Strukturen der schwerbehinderten Jugendlichen und ihrer Mutter erhalten bleiben müssten, um eine positive Entwicklung zu ermöglichen.

Des weiteren bescheinigt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Facharzt für Allgemeinmedizin, EMDR-Therapeut und Sozialmedizin Dr. K. unter dem 10.9.2019, dass sich die Klägerin zu 1) in seiner fachärztlichen psychiatrischen Behandlung befände und es ihr aufgrund verschiedener diagnostizierter psychischer Erkrankungen aktuell nicht zuzumuten sei, umzuziehen.

In der mündlichen Verhandlung vom 29.11.2019 hat die Klägerin zu 1) darüber hinaus mitgeteilt, dass die übrigen Wohnungen des Hauses von einem Frauenhaus angemietet seien. Regelmäßig besuchten Sozialarbeiter die dortigen Bewohner. Auch die Klägerin zu 1) spreche die Sozialarbeiter bei etwaigem Hilfebedarf an. Umgekehrt meldeten sich die Sozialarbeiter bei der Klägerin zu 1), wenn die Klägerin zu 2) aus Wut schreie und dadurch in den anderen Wohnungen gehört werde.

Sie beantragen,

wie erkannt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 20.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.2.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten.

Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Übernahme ihrer tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung der von ihnen bewohnten Wohnung in der P.  in Q.. Dies ergibt sich aus § 22 Absatz ein Satz 1 SGB II. Danach werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.

Die „Angemessenheit“ ist ein vom Gesetzgeber verwendeter unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die Verwaltung ausgefüllt werden muss. Die Entscheidung der Verwaltung ist gerichtlich voll überprüfbar.

Die Angemessenheit orientiert sich dabei immer am Einzelfall. Weder hat der Gesetzgeber konkrete Werte als Angemessenheitsgrenzen normiert, noch hat er auf die Anwendung der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitszuschlags in Höhe von 10 % als absolute Angemessenheitsgrenze verwiesen.

Die von dem Beklagten getroffene Entscheidung leidet insoweit bereits an einer fehlenden Auseinandersetzung mit dem unbestimmten Rechtsbegriff „Angemessenheit“ in diesem konkreten Einzelfall. Der konkrete Einzelfall weist vorliegend einige Besonderheiten auf, die von den üblichen Fällen, die von der Verwaltung im Rahmen der Massenverwaltung bei Anwendung des SGB II zu bewältigen sind, abweichen. So liegen sowohl im Gesundheitszustand der Klägerin zu 1) als der Klägerin zu 2) Gründe, die eine Sonderbetrachtung notwendig machen. Die Klägerin zu 2) ist sowohl auf ein Pflegebett als auch einen Rollstuhl angewiesen. Darüber hinaus muss sie aus medizinischen Gründen derzeit vier verschiedene Therapien wahrnehmen, die zu den üblichen Arztterminen hinzukommen. Angesichts der eingeschränkten Mobilität der Klägerin zu 2) liegt es auf der Hand, dass eine weitere Belastung der Klägerinnen nur dadurch vermieden kann, dass diese Therapien wohnortnah zur Verfügung stehen und auf diese Weise von der Klägerin zu 2) selbstständig aufgesucht werden können. Die psychische Belastung würde andernfalls offensichtlich in erheblichem Maße steigen, was den Gesundheitszustand beider Klägerinnen weiter gefährden oder sogar verschlechtern könnte.

Dies ergibt sich nicht nur aus den fachärztlichen Bescheinigungen, die die Fachärzte H. und Dr. K. hinsichtlich der Klägerin zu 1) abgegeben haben. Es ergibt sich darüber hinaus auch aus der schriftlichen Stellungnahme des Jugendamtes des Landkreises Q. vom 27.2.2019, gefertigt von Frau J., die nachdrücklich fordert, dass die gegebenen Strukturen der schwerbehinderten Jugendlichen und ihrer Mutter erhalten bleiben müssen, um eine positive Entwicklung zu ermöglichen.

Auch das persönliche Verhalten der Klägerin zu 2), die durch lautes Schreien in den Nachbarwohnungen hörbar wird, erschwert offensichtlich einen Wohnungswechsel. Die tatsächlichen Gegebenheiten in dem von den Klägerinnen bewohnten Haus, in dem im Übrigen vom Frauenhaus Wohnungen angemietet sind und Besuche von Sozialarbeitern stattfinden, erleichtern demgegenüber den derzeitigen Alltag der Klägerinnen. Denn diese Sozialarbeiter sind auch für die Klägerinnen jederzeit ansprechbar, was auch genutzt wird.

Dass andere barrierefreie Wohnungen, die von dem Beklagten als angemessen betrachtet würden, für die Klägerinnen zur Verfügung stehen, hat der Beklagte trotz ausdrücklicher Aufforderung des Gerichts mit Verfügung vom 22.10.2019 weder dargelegt noch nachgewiesen. Demgegenüber haben die Klägerinnen auch durch schriftliche Bestätigung des für die Klägerin zu 1) bestellten Betreuers dargelegt, dass sie regelmäßig nach behindertengerechten Wohnungen suchten, jedoch hierbei bislang nicht fündig geworden seien.

Nach alledem ist es nicht nachvollziehbar, mit welcher Passivität der Beklagte in seiner ablehnenden Haltung verharrt und die schriftlichen Bestätigungen der verschiedenen Stellen noch nicht einmal kommentiert. Einer sorgfältigen Prüfung des unbestimmten Rechtsbegriffes „Angemessenheit“ wird die Verwaltung mit ihrem Handeln in diesem Fall nicht gerecht.

Die Entscheidung zu den Kosten ergibt sich aus § 193 SGG.