Staatsgerichtshof Niedersachsen
Beschl. v. 15.04.2010, Az.: StGH 2/09
5%-Sperrklausel; Chancengleichheit; Fünfprozentklausel; Sperrklausel; Wahlprüfungsbeschwerde; Wahlprüfungsverfahren; Wahlrechtsgleichheit
Bibliographie
- Gericht
- StGH Niedersachsen
- Datum
- 15.04.2010
- Aktenzeichen
- StGH 2/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 48077
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 8 Abs 3 Verf ND
- § 33 Abs 3 WahlG ND
- Art 28 Abs 1 S 2 GG
- Art 21 Abs 1 GG
- Art 11 Abs 4 Verf ND
- § 8 Nr 1 StGHG ND
Wahlprüfungsbeschwerde der Partei "Die Friesen"; Gültigkeit der Wahl zum Niedersächsischen Landtag; Vereinbarkeit von Art. 8 Abs. 3 NV mit höherrangigem Recht; 5%-Sperrklausel, nationale Minderheiten; wirksame Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten nach EMRK
Tenor:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Niedersächsischen Landtags vom 19. Februar 2009 wird verworfen.
Gründe
A.
I.
Die Beschwerdeführerin ist eine politische Partei, die an der Wahl zum Niedersächsischen Landtag vom 27. Januar 2008 erfolglos teilgenommen hat.
II.
Die Beschwerdeführerin hat mit Schreiben vom 6. März 2008, beim Niedersächsischen Landtag eingegangen am selben Tag, Einspruch gegen die Wahl zum Niedersächsischen Landtag vom 27. Januar 2008 erhoben. Sie hat zur Begründung vorgetragen, sie repräsentiere eine nationale Minderheit, nämlich die Friesen. Aufgrund ihres Status als Minderheitenpartei habe die Partei „Die Friesen“ von der in Art. 8 Abs. 3 der Niedersächsischen Verfassung (NV) und in § 33 Abs. 3 des Niedersächsischen Landeswahlgesetzes (NLWG) verankerten 5%-Sperrklausel für die Landtagswahl befreit werden müssen. Dass dies nicht geschehen sei, verstoße gegen geltendes Verfassungsrecht, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten.
Im Einvernehmen mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres, Sport und Integration hat der niedersächsische Landeswahlleiter am 9. Mai 2008 zum Wahleinspruch Stellung genommen. In der Stellungnahme wird betont, dass schon die Einstufung der Friesen als nationale Minderheit zweifelhaft sei. Die Erklärung der Bundesregierung in Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten bezeichne die Friesen gerade nicht als nationale Minderheit, sondern als Volksgruppe, auf die das Abkommen (auch) angewendet werde. Jedenfalls aber gebe es für nationale Minderheiten keinen Anspruch auf eine Ausnahme von der 5%-Sperrklausel. Die Stellungnahme ist der Beschwerdeführerin mit Schreiben der Landtagsverwaltung vom 1. September 2008 zur Kenntnis gebracht worden.
Der Wahlprüfungsausschuss des Niedersächsischen Landtags hat die Beschwerdeführerin zu seiner öffentlichen Sitzung am 2. Februar 2009 geladen und über den Wahleinspruch verhandelt. Wie aus Anlage 10 der Beschlussempfehlung in der Drucksache 16/914 zu ersehen ist, hat der Wahlprüfungsausschuss empfohlen, den Wahleinspruch als zulässig, aber unbegründet zurückzuweisen. Dieser Beschlussempfehlung ist der Niedersächsische Landtag in seiner 31. Sitzung vom 19. Februar 2009 einstimmig gefolgt.
Gegen die Entscheidung des Landtags hat die Beschwerdeführerin mit Datum vom 6. April 2009, am selben Tag eingegangen beim Niedersächsischen Staatsgerichtshof, Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt. Sie beantragt,
1. unter Aufhebung des Beschlusses des Niedersächsischen Landtags vom 19. Februar 2009 die Wahl zum Niedersächsischen Landtag vom 27. Januar 2008 für ungültig zu erklären;
2. hilfsweise für den Fall, dass der Niedersächsische Staatsgerichtshof zu der Auffassung gelangen sollte, dass eine Erklärung der Ungültigkeit der Wahl zum Niedersächsischen Landtag vom 27. Januar 2008 aus Gründen des parlamentarischen Bestandsschutzes nicht in Betracht komme, die Unvereinbarkeit von § 33 Abs. 3 NLWG mit geltendem Verfassungsrecht festzustellen;
3. höchst hilfsweise, die Unvereinbarkeit von § 33 Abs. 3 NLWG mit geltendem Verfassungsrecht insoweit festzustellen, als die Vorschrift auch auf Parteien nationaler Minderheiten Anwendung findet.
Die Beschwerdeführerin hat ergänzend dargelegt, dass die Partei „Die Friesen“ bei der Wahl vom 27. Januar 2008 10.069 Zweitstimmen (= 0,3% der gültigen Zweitstimmen) auf sich vereinigen konnte. Aufgrund der 5%-Sperrklausel seien „Die Friesen“ bei der Sitzverteilung unberücksichtigt geblieben. Zwar seien für einen Sitz im Landtag ohne Anwendung der 5%-Sperrklausel 25.374 Zweitstimmen erforderlich gewesen (Anzahl der gültigen Zweitstimmen [3.425.426] geteilt durch die Sitze im Parlament ohne Überhang- und Ausgleichsmandate [135]). Diese Stimmenzahl hätten „Die Friesen“ jedoch erreicht, wenn die Wähler nicht in der Furcht, ihre Stimme sei wegen der 5%-Sperrklausel ohnehin „für den Papierkorb“, von der Wahl dieser Partei Abstand genommen hätten.
Mit Datum vom 23. Juni 2009 hat die Niedersächsische Landesregierung zu der Beschwerde Stellung genommen. Nach Auffassung der Landesregierung ist die Volksgruppe der Friesen keine nationale Minderheit, weil es an der sprachlichen Abgrenzbarkeit fehle. Die Beschwerdeführerin könne ferner aus tatsächlichen Gründen nicht für sich in Anspruch nehmen, die Gruppe der Friesen insgesamt zu repräsentieren. Selbst wenn dies der Fall wäre, könne sie hieraus keinen Anspruch auf Privilegierung bei der Wahl zum Landtag ableiten. Die 5%-Sperrklausel gemäß Art. 8 Abs. 3 NV gelte einschränkungslos. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern gebe es in Niedersachsen damit keinen rechtlichen Anknüpfungspunkt für eine wahlrechtliche Privilegierung nationaler Minderheiten. Die 5%-Sperrklausel sei überdies mit höherrangigem Recht vereinbar. Eine Ausnahme von dieser Regelung ließe sich im Übrigen nicht isoliert zugunsten der Partei „Die Friesen“ realisieren, weil es insoweit an einem verfassungsrechtlich legitimen Differenzierungskriterium gegenüber anderen Parteien fehle.
Mit Schriftsatz vom 2. Juli 2009 beantragt der Präsident des Niedersächsischen Landtags,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er legt dar, dass sich weder aus dem Landesverfassungsrecht noch aus dem Bundes- und dem Völkerrecht eine Verpflichtung des Landesgesetzgebers ergebe, die von der Partei „Die Friesen“ begehrte Regelung zu treffen, das heißt eine Ausnahme von der 5%-Sperrklausel vorzusehen. Der Landtag habe dies auf den Wahleinspruch hin zu Recht abgelehnt. Der sich aus der Beschwerdeschrift ergebende Vortrag führe zu keiner anderen Beurteilung der Rechtslage.
B.
I.
Die Beschwerde ist zulässig.
Die Partei „Die Friesen“, vertreten durch ihren Vorstand, ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Prüfung der Wahl zum Niedersächsischen Landtag (Wahlprüfungsgesetz) im Wahlprüfungsverfahren einspruchsberechtigt; sie ist demgemäß im Wahlprüfungsverfahren beschwerdeberechtigt (§ 22 Abs. 1 NStGHG).
Da die Beschwerdeführerin Einspruch nach § 2 des Wahlprüfungsgesetzes eingelegt hat und dieser Antrag abgewiesen worden ist, ist sie auch beschwerdebefugt.
Die Beschwerde ist innerhalb der in § 22 Abs. 1 NStGHG bestimmten Frist erhoben worden.
II.
Die Beschwerde ist jedoch offensichtlich unbegründet.
Der Niedersächsische Landtag hat den Einspruch der Beschwerdeführerin gegen die am 27. Januar 2008 durchgeführte Landtagswahl zu Recht als unbegründet zurückgewiesen.
Art. 8 Abs. 3 der Niedersächsischen Verfassung hat folgenden Wortlaut:
„Wahlvorschläge, für die weniger als fünf vom Hundert der Stimmen abgegeben werden, enthalten keine Mandate.“
Entsprechend heißt es in § 33 Abs. 3 NLWG:
„Bei der Verteilung der Sitze auf die Landeswahlvorschläge gemäß den Absätzen 4 bis 7 werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben.“
Beide Vorschriften lassen ihrem Wortlaut nach Ausnahmen für nationale Minderheiten nicht zu. Ein Verstoß des Art. 8 Abs. 3 NV gegen höherrangiges Recht ist ebenfalls nicht gegeben.
1. Die Verankerung der 5%-Sperrklausel in Art. 8 Abs. 3 NV ist zulässig. Die Sperrklausel bewirkt zwar einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit, weil Wählerstimmen für Parteien, welche die 5%-Hürde nicht nehmen, unberücksichtigt bleiben. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG schreibt vor, dass die Länder Volksvertretungen haben müssen, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind. Dieser Vorgabe trägt Art. 8 Abs. 1 NV Rechnung, nach dem die Mitglieder des Landtags in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Allerdings ist die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen nicht schrankenlos garantiert; zur Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele sind vielmehr Beschränkungen dieses Grundsatzes möglich. Zu den Grundlagen des Wahlrechts gehört die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Die Arbeit der Parlamente in der Demokratie erfordert, dass sie entscheidungsfähig sind und nicht durch die Beteiligung von Splitterparteien in ihrer Willensbildungs- und Integrationsfähigkeit beeinträchtigt werden. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments durch eine Sperrklausel von 5% ist deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte geeignet, eine Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen (BVerfGE 1, 208 [247 ff.]; st. Rspr. zuletzt BVerfG DVBl. 2009, S. 307 [310]; BayVerfGH, Entscheidung vom 18. Juli 2006, Az.: Vf.9-VII-04, Rn. 24 f., juris; BremStGH, Urt. v. 29. August 2000, Az.: St. 4/99, Rn. 54 ff., juris;, BerlVerfGH, Beschl. vom 17. März 1997, Az.: 82/95, Rn. 10 f., juris).
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die 5%-Sperrklausel bei Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 120, 82). Wahlen zu kommunalen Vertretungskörperschaften sind jedoch mit Landtagswahlen nicht zu vergleichen. Gemeindevertretungen und Kreistage sind keine Parlamente im staatsrechtlichen Sinne. Bei Kommunalwahlen sind Sperrklauseln deshalb anders zu beurteilen als bei Landtags- oder Bundestagswahlen (so BVerfGE 120, 82 [BVerfG 13.02.2008 - 2 BvK 1/07] [111]).
Anderes folgt auch nicht aus Art. 21 GG, der die Chancengleichheit der Parteien garantiert.
2. Verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, Ausnahmen von der 5%-Sperrklausel für Parteien nationaler Minderheiten vorzusehen.
Zwar sind nach den in der Bundesrepublik geltenden Wahlgesetzen Parteien nationaler Minderheiten teilweise von der 5%-Sperrklausel befreit. So findet nach § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG die in Satz 1 vorgeschriebene Sperrklausel auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung. Im schleswig-holsteinischen Wahlgesetz wird gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 die Partei der dänischen Minderheit von der 5%-Sperrklausel befreit. Im Wahlgesetz von Brandenburg gibt es eine entsprechende Bestimmung für die Partei der sorbischen Minderheit (§ 3 Abs. 1 Satz 2). In beiden Bundesländern finden sich jedoch besondere Rechte für nationale Minderheiten und Volksgruppen in der Landesverfassung (Art. 25 BrandVerf; Art. 5 VerfSchl.-Holst.). Die Niedersächsische Verfassung enthält keine derartigen Regelungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG für verfassungsgemäß erklärt, obwohl das Grundgesetz eine den genannten Landesverfassungen entsprechende Vorschrift über nationale Minderheiten nicht enthält. Das Gericht hat jedoch betont, dass dem Gesetzgeber insoweit ein Gestaltungsspielraum zustehe. Eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, zugunsten nationaler Minderheiten Ausnahmeregelungen in Wahlgesetzen vorzusehen, hat das Bundesverfassungsgericht dagegen verneint (BVerfGE 1, 208, 240; 4, 31 [40]; 5, 77 [83]; 6, 84 [97]).
3. Schließlich begründen die Konventionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten keinen Anspruch von Parteien nationaler Minderheiten auf eine Befreiung von der 5%-Sperrklausel.
Die EMRK gilt in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes. Sie enthält aber keinerlei Sonderrechte für nationale Minderheiten. Auch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 (BGBl. 1997 II, S. 1408), das in Deutschland seit dem 01.02.1998 als Bundesgesetz gilt (BGBl. 1998 II, S. 57), begründet keinen derartigen Anspruch. Das Rahmenübereinkommen befasst sich mit nationalen Minderheiten und strebt deren Gleichstellung sowie den Schutz ihrer besonderen Identität an. Art. 15 des Rahmenübereinkommens enthält unter der Überschrift „Teilnahme am öffentlichen Leben“ die folgende Bestimmung:
„Die Vertragsparteien schaffen die notwendigen Voraussetzungen für die wirksame Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben und an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie betreffen.“
Diese Bestimmung begründet keine Pflicht des nationalen Gesetzgebers, Ausnahmen von Sperrklauseln zugunsten nationaler Minderheiten vorzusehen, sondern lässt offen, wie eine Teilnahme der Angehörigen nationaler Minderheiten an der politischen Willensbildung „wirksam“ auszugestalten ist. Den Vertragsstaaten verbleibt deshalb ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Verwirklichung der Ziele des Rahmenübereinkommens. Zutreffend weist die Bundesregierung in der Art. 15 des Rahmenübereinkommens beigefügten Denkschrift darauf hin, dass die allgemein gehaltenen Formulierungen dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum vermitteln und fügt hinzu, dass die Partizipation nationaler Minderheiten am öffentlichen Leben in der Bundesrepublik bereits durch das freiheitlich-rechtsstaatliche Verfassungssystem gewährleistet sei (BT-Drucks. 13/6912, S. 35).
4. Der Niedersächsische Verfassunggeber hat die 5%-Sperrklausel ohne Ausnahmeregelung in die Landesverfassung aufgenommen. Damit hat er zu erkennen gegeben, dass die Funktionsfähigkeit des Landtags Vorrang vor einer möglichen Privilegierung nationaler Minderheiten genießt.
Es kann deshalb dahinstehen, ob die Friesen überhaupt eine nationale Minderheit darstellen und ob die Partei „Die Friesen“ eine Partei dieser nationalen Minderheit ist.
III.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet ist. Sie konnte deshalb nach § 12 StGHG i. V. m. § 24 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss des Staatsgerichtshofs verworfen werden.
C.
Das Verfahren ist nach § 21 Abs. 1 StGHG kostenfrei; Auslagen der Beteiligten werden gemäß § 21 Abs. 2 Satz 2 StGHG nicht erstattet.