Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 30.01.2019, Az.: 2 A 731/17

Dublin; Eheschließung; Selbsteintrittspflicht; Selbsteintrittsrecht; Versteinerungsklausel

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
30.01.2019
Aktenzeichen
2 A 731/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 70053
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine nach der Asylerstantragstellung in einem Mitgliedstaat wirksam geschlossene Ehe mit einem aufgrund Flüchtlingsanerkennung aufenthaltsberechtigten Ehegatten führt dazu, dass der Mitgliedstaat, in dem der aufenthaltsberechtigte Ehegatte lebt (hier: Deutschland), verpflichtet ist, von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen .

Tatbestand:

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger, yezidischer Religions- und kurdischer Volkszugehörigkeit. Er heiratete aufgrund eines nach yezidischem Brauch geschlossenen Vertrages vom 26. Dezember 2013 in Dohuk Frau H.. Frau H. reiste am 8. Februar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 25. August 2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid der Beklagten vom 24. September 2016 wurde ihr die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Sie ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG.

Anfang 2016 reiste auch der Kläger aus seinem Heimatland aus und begab sich zunächst nach Griechenland. Hier hielt er sich 1 ½ Jahre auf und hat dort auch einen Asylantrag gestellt. Im Rahmen des Relocation-Verfahrens wurde der Kläger nach Portugal überstellt. Hier wurde sein Asylantrag unter dem Aktenzeichen PT 123562016 erfasst. In Portugal hielt sich der Kläger nur wenige Tage auf und reiste am 7. Juli 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 17. Juli 2017 stellte er hier einen Asylantrag. Zur Begründung seiner Reise nach Deutschland gab er an, zu seiner Ehefrau (Lebensgemeinschaft) reisen zu wollen. An anderer Stelle bezeichnete er Frau H. als seine Verlobte.

Unter dem 1. August 2017 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen an Portugal. Die portugiesischen Behörden erklärten unter dem 8. August 2017 ihre Übernahmebereitschaft.

Mit Bescheid vom 29. August 2017 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des AufenthG nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Portugal an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte die Beklagte an, Portugal sei nach der Dublin III-VO der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedsstaat. Eine Eheschließung mit Frau H. habe der Kläger nicht nachgewiesen.

Am 6. September 2017 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben und gleichzeitig um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung macht er geltend, er wolle bei seiner Frau leben, die er im März 2013 nach yezidischem Brauch geheiratet habe. Er sei damit Familienangehöriger im Sinne von Artikel 2 g Dublin III-VO geworden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 29. August 2017 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegentretend,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 21. September 2017 hat das Gericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zunächst abgelehnt. Zur Begründung führte es aus, eine schutzwürdige Ehe sei nicht nachgewiesen.

Mit Antrag vom 29. Januar 2017 hat der Kläger die Abänderung dieses Antrages nach § 80 Abs. 7 VwGO beantragt. Mit diesem Antrag legte er eine auf den 10. Januar 2018 datierende Heiratsurkunde zwischen ihm und Frau H. vor. Ausweislich dieser zwischen zwei für den Kläger und seine Frau tätigen Stellvertretern geschlossenen Eheurkunde, wurde die Ehe am 10. Januar 2018 im Personenstandsregister von Dohuk eingetragen und am 15. Januar 2018 beglaubigt. In der Urkunde wird Bezug genommen auf einen alten Ehevertrag vom 26. Dezember 2013. Daraufhin ordnete das Gericht mit weiterem Beschluss vom 7. März 2018 die aufschiebende Wirkung der Klage vom 6. September 2017 wegen der Schutzwirkungen des Artikel 8 EMRK und des Artikel 6 Abs. 1 GG an.

Die Beklagte reagierte auf diesen Beschluss nicht mehr.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen und der Region Hannover Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet (§ 113 Abs. 1 Satz 1VwGO).

Der Antrag des Klägers ist nicht unzulässig. Die allein in Betracht kommenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 b AsylG liegen nicht vor. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO, ABl. L180 vom 29. Juni 2013, Seite 31). Nach Artikel 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin III-VO wird der Antrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Nach den Vorschriften der Artikel 13 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Artikel 3 Abs. 2 Unterabsatz 1 Dublin III-VO ist für die Prüfung der Mitgliedstaat zuständig, dessen Grenze der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal überschritten hat bzw. – wenn sich dieser Mitgliedstaat nicht feststellen lässt – der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalem Schutz gestellt wurde. Der zuständige Mitgliedstaat wäre hier Portugal, obwohl der Kläger das Schengengebiet zunächst in Griechenland überschritten hat. Denn die Vorschriften der Dublin III-VO sind auch in Fällen, wie hier, der Relocation anwendbar (st. Rspr. der Kammer, vgl. zuletzt den den Beteiligten aus diesem Verfahren bekannten Beschluss vom 21.09.2017 – 2 B 732/17 -).

Der Ausspruch der Unzulässigkeit des Asylantrags ist nicht allein deshalb rechtswidrig, weil sich der Kläger auf Artikel 9 der Dublin III-VO berufen könnte. Danach ist dann, wenn der Antragsteller einen Familienangehörigen hat – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat -, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, dieser Mitgliedsstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun, was hier der Fall ist. Gemäß Artikel 7 Abs. 2 Dublin III-VO wird bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedsstaat stellt. Dies ist, ohne das genaue Datum feststellen zu können, ein Zeitpunkt im Jahre 2016 in Griechenland. Zu diesem Zeitpunkt war Frau H. noch keine Familienangehörige des Klägers. Gemäß Artikel 2 g Dublin III-VO ist Familienangehöriger im Sinne der Regelungen der Dublin III-VO der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare. Nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland handelte es sich bei der zwischen dem Kläger und Frau H. im Dezember 2013 nach yezidischem Ritus geschlossenen Ehe nicht um eine Beziehung in diesem Sinne. Zur Begründung wird auch insoweit auf den den Beteiligten bekannten Beschluss der Kammer vom 21. September 2017 Bezug genommen.

Indes hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass die Beklagte gemäß Artikel 17 Abs. 2 Dublin-III-VO von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht. Dieses, aus humanitären Gründen gegebene Selbsteintrittsrecht, das sich nach Satz 1 der Bestimmung insbesondere aus familiärem Kontext ergeben kann, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Artikeln 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist, verdichtet sich hier aus verfassungsrechtlichen Gründen zu einer Eintrittspflicht der Beklagten. Die Durchsetzung einer Zuständigkeit, die nach der Dublin-III-VO feststeht, kann im Einzelfall zu einer Verletzung der EMRK führen. In diesem Fall wird das Zuständigkeitssystem der Dublin III-VO ausgesetzt. In von der Verordnung nicht von vornherein vorhersehbaren besonderen Fällen, garantiert Artikel 17 Abs. 1 Dublin III-VO die EMRK-Konformität. In diesem Fällen ist das Selbsteintrittsrecht zwingend wahrzunehmen. Es handelt sich um ein subjektives Recht des Drittstaatsangehörigen auf Durchsetzung der Ausübung. Insbesondere bei dem realen Risiko einer Verletzung des Artikel 3 EMRK oder, wie hier, bei dem realen Risiko der Verletzung des Artikel 8 EMRK, ist das Recht des Drittstaatsangehörigen auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts jedenfalls dann erfüllt, wenn es sich um ein langfristiges Abschiebungsverbot handelt (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand: 01.02.2014, Artikel 17 Anm. K2 – K6; Marx, AsylG, 9. Auflage, § 29 Rn. 61 – 63; Urteil der erkennenden Kammer vom 24.04.2017 - 2 A 5/17 -). Das Gericht setzt sich mit dieser Entscheidung nicht in Widerspruch zum Urteil der 5. Kammer des EuGH vom 16.02.2017 (– C – 578/16 -), mit dem entschieden worden ist, dass Artikel 17 Abs. 1 der Dublin-III-VO im Lichte von Artikel 4 der Konvention der Grundrechte der Europäischen Union nicht dahin ausgelegt werden könne, dass er den betreffenden Mitgliedstaat unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zur Anwendung der genannten Klausel verpflichtet (Rn. 88 der Entscheidung). Denn die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens waren solche, die nur eine vorübergehende Reiseunfähigkeit infolge einer Schwangerschaft betrafen. Mit dieser Ausgangslage ist der Fall einer rechtsgültigen Eheschließung nicht zu vergleichen. In diesem Fall gebieten es vielmehr Artikel 8 EMRK und Artikel 6 Abs. 1 GG, vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Zweifel an der Echtheit der vom Kläger mit Schriftsatz vom 29. Januar 2018 vorgelegten Urkunden hat das Gericht nicht. Auch die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen hegt derartige Zweifel ausweislich der Ausländerakten der Region Hannover für den Kläger offenbar nicht (vgl. Blatt 217 R der Akten). Die Beklagte hat, obwohl hierzu prozessual Anlass bestanden hätte, hierzu auch nichts vorgetragen. Vielmehr geht die Beklagte, wie sich aus den Ausländerakten des Klägers (vgl. Bl. 127, 133 und 146) ergibt, davon aus, dass eine in der Vergangenheit beabsichtigte Überstellung des Klägers nach Portugal nicht durchgeführt werden konnte, da familiäre Bindungen zu Frau Asya H. bestehen. Echtheitsbedenken wurden somit auch von der Beklagten zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens geäußert.

Ist damit der Asylantrag des Klägers nicht unzulässig, wird auf die Feststellung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides, das Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, gegenstandslos und ist ebenso aufzuheben wie die Anordnung der Abschiebung des Klägers nach Portugal und die Festsetzung einer sechsmonatigen Wiedereinreisesperre.

In Anbetracht dessen kann offenbleiben, ob die Klage auch deshalb Erfolg hätte, weil die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO abgelaufen ist. Die Übernahmeerklärung der portugiesischen Behörden datiert auf den 08. August 2017. Die sechsmonatige Überstellungsfrist wäre damit am 7. Februar 2018 abgelaufen; erst mit Beschluss vom 07. März 2018 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Unklar ist jedoch, ob die mehrmals versuchte Abschiebung des Klägers deshalb gescheitert ist, weil er flüchtig gewesen ist, wofür spricht, dass er bei einem – sicherlich nach Vorlage der Heiratsurkunde aber rechtswidrigen – Abschiebeversuch nicht hat angetroffen werden können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.