Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.06.2014, Az.: 12 B 1238/14

systemische Mängel; Überstellung; Ungarn

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
18.06.2014
Aktenzeichen
12 B 1238/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42633
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nach der aktuellen Erkenntnismittellage ist die Beantwortung der Frage, ob das Asyl und Aufnahmeverfahren in Ungarn (noch) mit systemischen Mängeln behaftet ist, als offen anzusehen.

2. Vor diesem Hintergrund ist nach der vorzunehmenden Interessenabwägung von einer Überstellung nach Ungarn abzusehen.

Gründe

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der von dem Antragsteller erhobenen Klage (12 A 1238/14) gegen die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 12. März 2014 ist gem. § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zulässig. Er ist insbesondere fristgerecht gestellt worden.

Der Antrag ist auch begründet.

Für eine nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung ist maßgebend, ob das private Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsaktes überwiegt. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorrangig zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 - 4 VR 1005/04 -, BVerwGE 123, 241 und juris). Hat der Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg, weil der angegriffene Verwaltungsakt offenbar fehlerhaft ist, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist dagegen in aller Regel unbegründet, wenn der Antragsteller im Verfahren zur Hauptsache keinen Erfolg haben wird, insbesondere, wenn die angegriffene Verfügung offensichtlich rechtmäßig ist. Bei offenem Ausgang der Hauptsache sind die Folgen, die einträten, wenn die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet würde, die Klage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfG in ständiger Rechtsprechung, u.a. Beschluss vom 12. Januar 2014 - 1 BvR 3606/13 -, NVwZ 2014, S. 329 und juris). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob nicht rückgängig zu machende Beeinträchtigungen zu befürchten sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, S. 318 und juris). Im vorliegenden Fall der Überstellung eines Asylsuchenden in einen anderen Mitgliedstaat stehen sich dabei das öffentliche Interesse an der wirksamen und effektiven Durchsetzung der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, insbesondere der Dublin-Verordnungen, und die mögliche Verletzung der grundrechtlich geschützten Positionen des Asylsuchenden, wie sie insbesondere in Art. 3 EMRK und Art. 4 Grundrechtscharta niedergelegt sind, gegenüber.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach der sich dem Gericht derzeit darbietenden Sach- und Rechtslage sind die Erfolgsaussichten der Klage als offen zu beurteilen, so dass das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers wie dargelegt abzuwägen ist.

Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34 a Abs. 1 AsylVfG. Danach ordnet das Bundesamt dann, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§26 a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§27 a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gem. § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Anordnung der Abschiebung als Zwangsmittel beruht vorliegend auf der vollziehbaren Grundverfügung im Bescheid des Bundesamtes, dass der Asylantrag des Antragstellers gem. § 27a AsylVfG unzulässig ist, weil Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Grundverfügung ist vollziehbar, weil die Klage des Antragstellers gegen diese Entscheidung gem. § 75 Abs. 1 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung hat.

Ungarn ist für die Durchführung des Asylverfahrens zwar nach den einschlägigen Vorschriften grundsätzlich zuständig.

Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31) - Dublin III-VO, die für ab dem 1. Januar 2014 gestellte Asylanträge gilt. Hier hat der Antragsteller am 9. Januar 2014 in der Bundesrepublik einen Asylantrag gestellt. Aufgrund der Vorschrift des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO, nach der bei der Bestimmung des nach den Kriterien der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedsstaats von der Situation ausgegangen wird, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, ist Ungarn zuständig, da der Antragsteller ausweislich des Wiederaufnahmegesuchs der Antragsgegnerin vom 26. Februar 2014 am 16. April 2013 in Ungarn seinen ersten Asylantrag gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO).

Die Zuständigkeit Ungarns ist auch nicht nach den Vorschriften über die Wiederaufnahme ausnahmsweise auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Die zuständige ungarische Behörde hat dem Gesuch zugestimmt, so dass die Zuständigkeit nach Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO gegeben wäre.

Es liegen jedoch Umstände vor, die die Zuständigkeit Ungarns in Durchbrechung des Systems der Bestimmungen der Dublin-Verordnungen entfallen lassen könnten.

Dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, zu dem insbesondere die Dublin-Verordnungen gehören, liegt die Vermutung zugrunde, dass jeder Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat gemäß den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 83/389 vom 30. März 2010), des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559) sowie der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198)) behandelt wird. Es gilt daher die Vermutung, dass Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - zukommt.

Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u. C-493/10 -, NVwZ 2012, S. 417 [EuGH 21.12.2011 - Rs. C-411/10; C-493/10] u. juris; ders.: Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, S. 129 u. juris) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u. 2315/93 -, BVerfGE 94, S. 49 = NJW 1996, S. 1665 u. juris) zugrunde liegende Vermutung ist jedoch dann als widerlegt zu betrachten, wenn den Mitgliedstaaten „nicht unbekannt sein kann“, also ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem zuständigen Mitgliedstaat derart grundlegende, systemische Mängel anhaften, dass für dorthin überstellte Asylbewerber die Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013, a.a.O.). In einem solchen Fall ist die Prüfung anhand der Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnungen fortzuführen, um festzustellen, ob anhand der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt werden kann; ist zu befürchten, dass durch ein unangemessen langes Verfahren eine Situation, in der Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, verschlimmert wird, muss der angegangene Mitgliedstaat den Asylantrag selbst prüfen (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013, a.a.O.).

Als systemische Mängel sind solche Störungen anzusehen, die entweder im System eines nationalen Asylverfahrens angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von ihnen nicht vereinzelt oder zufällig, sondern in einer Vielzahl von Fällen objektiv vorhersehbar treffen oder die dieses System aufgrund einer empirisch feststellbaren Umsetzung in der Praxis in Teilen funktionslos werden lassen (vgl. Bank/Hruschka, Die EuGH-Entscheidung zu Überstellungen nach Griechenland und ihre Folgen für Dublin-Verfahren (nicht nur) in Deutschland, ZAR 2012, S. 182; OVG Rheinland-Platz, Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13 -, juris).

Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 4 GR-Charta ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta einschließlich der Erläuterungen hierzu (ABL. C 303/17 vom 14. Dezember 207) i. V.m. Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV vom 7. Februar 1992 (ABl. C 191, S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Vertrages von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (ABl. C 306, S. 1, ber. ABl. 2008 C 111 S. 56 u. ABl. 2009 C 290 S. 1) an Art. 3 EMRK auszurichten. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243) ist eine Behandlung dann unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Art. 3 EMRK kann allerdings nicht in dem Sinn ausgelegt werden, dass er die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, a.a.O.; ders.: Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 - Mohammed Hussein u.a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, S. 336 u. juris).

Gleichwohl sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Aufnahmerichtlinie (ABl. L 180 S. 96) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Asylsuchende werden in einem Mitgliedsstaat unmenschlich oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, hieranzuziehen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, unter Hinweis auf die Entscheidungen des EGMR vom 21. Januar 2011 und des EuGH vom 27. Februar 2014).

Prognosemaßstab für das Vorliegen derart relevanter Mängel ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die Annahme systemischer Mängel setzt somit voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedsstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylsuchenden im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss ihnen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014, a.a.O.; OVG Sachsen Anhalt, Beschluss vom 14. November 2013 - 4 L 44/13 -, juris; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23/12 -, BVerwGE 146, S. 67 und juris; OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O., juris).

Der Mitgliedsstaat, der die Überstellung des Asylsuchenden vornehmen muss, ist im Fall der Widerlegung der Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat im Einklang mit den Erfordernissen der GFK und der EMRK steht, verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedsstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

Gemessen an diesen Maßgaben spricht bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und möglichen summarischen Prüfung einiges dafür, dass die Abschiebungsanordnung bezüglich Ungarns rechtswidrig ist, weil erhebliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in Ungarn nach wie vor (noch) systemische Mängel im Asyl- und Aufnahmeverfahren vorliegen. Die Beantwortung dieser Frage ist daher derzeit als offen anzusehen.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass solche Mängel bis Ende 2012 vorlagen.

Dem Bericht des UNHCR vom April 2012 (Ungarn als Asylland: Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn) war zu entnehmen, dass Ungarn - seit 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und fast alle übrigen einschlägigen Menschenrechtsübereinkommen ratifizierend - bisher noch keine offizielle Migrationspolitik entwickelt hatte. In dem Bericht ist weiter ausgeführt, die seit 2010 im Amt befindliche Regierung habe Angelegenheiten vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung „illegaler“ Migranten und des wahrgenommenen Missbrauchs des Asylsystems betrachtet. Änderungen des Asyl- und Ausländerrechts und der entsprechenden Durchführungsmaßnahmen seien weniger auf die Menschenrechte und die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden und Flüchtlingen als auf Sicherheits- und Strafverfolgungsziele ausgerichtet gewesen. So seien etwa weniger Mittel für offene Aufnahmeeinrichtungen oder Alternativen zur Haft bereitgestellt worden, als in die Neuausstattung und Ausweitung des Abschiebehaftsystems geflossen. Die Möglichkeiten für Inhaftierungen und die entsprechende Praxis sei ausgeweitet, der Zugang zum Asylverfahren aber gleichzeitig eingeschränkt worden. Ungarn habe auch vermehrt Personen in Länder zurückgeschickt, die es als sichere Asylländer betrachtet habe, wodurch das Risiko von indirektem Refoulement und Kettenabschiebung entstanden sei.

Der UNHCR, dessen Beurteilung - wie aufgeführt - eine besondere Bedeutung zukommt, hat in dem genannten Bericht eine Vielzahl von Empfehlungen für Bereiche ausgesprochen, in denen er eine Abweichung des ungarischen Rechts und der Rechtspraxis von der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt hatte. Diese betreffen insbesondere folgende Punkte:

- die Gewährleistung des Zugangs zum Hoheitsgebiet des Landes für Asylsuchende unter voller Achtung des Non-Refoulement-Grundsatzes gemäß internationalem Flüchtlingsrecht und internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen vor dem Hintergrund, dass Rückführungen in z.B. die Ukraine oder nach Serbien bei illegaler Einreise ohne vorherige Anhörung und ohne die Möglichkeit Asyl zu beantragen, erfolgt seien

- die Gewährleistung des uneingeschränkten Zugangs zum Asylverfahren, wie in den anwendbaren internationalen Standards vorgesehen, vor dem Hintergrund, dass der Zugang zu Asylverfahren für Inhaftierte (so auch für Dublin-Rückkehrer) problematisch sei

- die Bereitstellung der erforderlichen Mittel, um zu gewährleisten, dass die neu zuständigen Gerichte über das nötige Wissen und Referenzmaterial verfügen und entsprechend informiert urteilen können, vor dem Hintergrund, dass Richter und Richterinnen meist keine Experten für Asylangelegenheiten und nicht besonders geschult seien

- bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Aufnahmebedingungen zu schaffen, vor dem Hintergrund, dass seit 2010 eine verstärkte Praxis der Inhaftierung oft für sehr lange Zeit erfolge, die vorhandenen Aufnahmebedingungen und Dienstleistungen - wie hygienische Zustände und die medizinische Versorgung - nicht den internationalen Standards entsprächen

- die Entwicklung einer neuen Vorgehensweise bei Haftanordnung und Haftstandards, die den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entsprächen, eine wirksame gerichtliche Überprüfung sowie die Prüfung von Alternativen beinhalteten und menschenwürdige Haftbedingungen gewährleisten, vor dem Hintergrund, dass immer häufiger Verwaltungshaft allein wegen irregulärer Einreise zum Tragen komme und insbesondere in der Haft von gewalttätigen Übergriffen des Wachpersonals und dem systematischen Einsatz von Beruhigungsmitteln berichtet werde.

Weitere Empfehlungen ergingen zum Schutz von Kindern und zur Unterstützung von Personen nach Zuerkennung eines Schutzstatus.

Insbesondere die ungarische Praxis der Inhaftierung wurde in Urteilen des EGMR (vom 11. Januar 2011, Darvas ./. Ungarn, Nr. 19547/07 und vom 20. September 2011 Lopko und Toure ./. Ungarn, Nr. 10816/10) ausdrücklich für konventionswidrig erklärt.

Von weitreichenden Mängeln in den genannten Bereichen berichteten auch weitere NGO`s insbesondere Pro-Asyl (bordermonitoring ev., Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012, vom März 2012) und Hungary-Helsinki-Committee (HHC), Bericht über die Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn, vom Dezember 2011).

Auf Druck der genannten Kritik verabschiedete Ungarn Ende 2012 eine umfassende Gesetzesänderung, um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen (vgl. insbesondere die Darstellung der Gesetzeslage im Einzelnen: AIDA (Asylum Information Database) National Country-Report Hungary, vom 13. Dezember 2013). Ab dem 1. Januar 2013 soll danach insbesondere keine Inhaftierung von Schutzsuchenden mehr erfolgen, wenn diese unverzüglich nach ihrem Aufgriff einen Asylantrag stellen. Grundsätzlich sollen auch Dublin-Rückkehrer nicht mehr inhaftiert werden; ihnen wird eine Vollprüfung ihres Asyl (folge-) Antrages garantiert. Zum 1. Juli 2013 erfolgte eine weitere Gesetzesänderung im Bereich Asylhaft im Unterschied zur Abschiebehaft, die die Haftgründe im Einzelnen benennt (vgl. AIDA a.a.O. und Pro-Asyl: Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012, vom Oktober 2013). Ungarn ist um die Umsetzung der gesetzlichen Garantien bemüht; insbesondere wurde die Kapazität offener Unterbringungsmöglichkeiten erhöht (vgl. Pro-Asyl, a.a.O., Bericht vom Oktober 2013; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an VG München vom 30. Dezember 2013; Europäisches Parlament, Stellungnahme vom 31. Oktober 2013).

Infolge dieser Veränderungen geht eine Vielzahl von Verwaltungsgerichten in ihren aktuellen Entscheidungen (vgl. nur OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. Mai 2013 - 4 L 169/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. August 2013 - 12 S 675/13 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 7. November 2013 - 2 A 4696/12 -, juris; Österreichischer Asylgerichtshof, Entscheidung vom 9. Juli 2013 - S 21 436096-1/2013 -, RIS) davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn nunmehr keine systemischen Mängel mehr aufwiesen. Auch der EGMR geht in seiner Entscheidung vom 6. Juni 2013 (Mohammed ./. Österreich, Nr. 2283/12 -, HUDOC) unter Bezugnahme auf die Gesetzesänderungen in seiner individuellen Prüfung nicht mehr von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verletzung von Artikel 3 EMRK bei einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Ungarn aus. Er führt hierzu u.a. aus, er beziehe sich auf die Angaben des UNHCR zur Änderung der ungarischen Rechtsvorschriften und der Rechtspraxis und stelle fest, dass es scheine, dass die Überstellten jetzt ausreichend Zugang zum Asylverfahren in Ungarn hätten und den Ausgang ihrer Verfahren in Ungarn abwarten könnten, vorausgesetzt, sie stellten sofort nach ihrer Rückkehr einen Asylantrag.

Diesen überwiegend prognostischen Einschätzungen vermag sich das Gericht derzeit nicht anzuschließen, denn nach dem ihm vorliegenden aktuellsten Erkenntnismitteln liegen deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die Umsetzung der Gesetzesänderungen (noch) nicht in einem solchen Maße erfolgt ist, dass die bisherige Feststellung des Vorliegens systemischer Mängel nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unzutreffend ist.

Bereits in seinem Bericht vom Oktober 2013 äußerte Pro-Asyl (a.a.O.) Bedenken hinsichtlich einer Verschärfung der Inhaftierungspraxis aufgrund der Gesetzesänderung vom 1. Juli 2013 und wies auf Defizite bei der relativ kurzen Dauer von Unterbringung und Unterstützungsleistungen, bzgl. des Zugangs zur Gesundheitsversorgung und zu Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber hin.

Im aktuellsten Bericht des Hungary-Helsinki-Committees vom Mai 2014 (Information Note on Asylum-Seekers in Detention and in Dublin Procedures in Hungary) finden sich diese Befürchtungen teilweise bestätigt. Mitarbeiter des HHC hatten im Februar 2014 die drei Asylhaftzentren in Ungarn besucht, Interviews mit der Leitung der Zentren, Sozialarbeitern, medizinischem Personal und 150 Häftlingen geführt und 107 Haftprüfungsentscheidungen analysiert. In dem Bericht ist u.a. ausgeführt, dass die Anordnung und Aufrechterhaltung von Asylhaft in Anwendung des neuen Gesetzes häufig und schematisch erfolge und nicht die Ausnahme darstelle; Anfang April 2014 seien 28 % aller Asylsuchenden mit anhängigen Verfahren und 42 % der männlichen Erstantragsteller mit laufenden Verfahren inhaftiert gewesen. In der Zeit vom 1. Juli 2013 bis 17. April 2014 seien insgesamt 2372 Personen inhaftiert gewesen. Weiterhin erfolge wegen eines Mangels an staatlich finanzierten Altersbestimmungsverfahren diesbezüglich nur ein sehr vereinfachtes Verfahren. Beobachtungen hätten ergeben, dass etliche Inhaftierte sehr jung ausgesehen hätten, d.h. trotz gesetzlichen Verbots auch mutmaßlich Minderjährige inhaftiert seien. Auch Frauen und Familien befänden sich trotz gesetzlichen Verbotes in Haft.

Die Analyse der Haftprüfungsentscheidungen habe ergeben, dass die Haftprüfungen - alle 60 Tage - uneffektiv seien, weil sie in der Regel keine individuelle Entscheidung darstellten, d.h. es fehle an der Berücksichtigung der individuellen Umstände im Einzelfall und an einer Begründung zur Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Auch fehlten Erwägungen zu Haftalternativen. Viele Entscheidungen seien fehlerhaft, weil die zuständigen Richter und Richterinnen nicht ausreichend qualifiziert seien. Hinzu komme, dass die gesetzlich bestellten Rechtsanwälte in den Haftprüfungsverfahren nur eine passive Rolle spielten. Sie kommunizierten nicht mit ihren Mandanten, hätten daher keinen Zugang zu deren individuellen Gründen und würden entsprechend im Verfahren auch keine Argumente zur Haftentlassung oder zur persönlichen Anhörung vorbringen. Diese Umstände habe auch der oberste Gerichtshof Ungarns (Curia) in seinen Entscheidungen vom 30. Mai und 23. September 2013 kritisiert. Derzeit arbeite eine Arbeitsgruppe der Curia an einer Studie über die praktische gerichtliche Haftprüfung, die eine öffentliche Analyse und nichtbindende Empfehlungen für Richter enthalten werde.

Darüber hinaus seien die Haftzentren nach wie vor zur Unterbringung besonders verletzlicher Personen schlecht ausgerüstet. Die Stimmung in den Zentren sei angespannt und bedrückend, da Möglichkeiten zu Aktivitäten zum Teil sehr begrenzt oder überhaupt nicht vorhanden seien.

Dublin-Rückkehrer, denen nunmehr vom Gesetz eine Vollprüfung ihres Asylantrages garantiert werde, hätten als Folgeantragsteller einschränkte Rechte bzgl. der Aufnahme und Arbeitsbedingungen. Sie würden grundsätzlich im Aufnahmezentren Ballassagyarmat untergebracht. Die Unterbringung sei jedoch auf 2 Monate begrenzt. Seit November 2013 hätten mehr und mehr Asylsuchende diese Frist ausgeschöpft und sähen sich dem Risiko von Obdachlosigkeit und Verarmung ausgesetzt. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist nahezu aussichtslos, da in Ungarn wegen der Erhöhung des Renteneintrittsalters und mangels Abwanderung von Bürgern - wie in Rumänien oder Bulgarien - kaum bis keine Arbeitsplätze für Migranten zur Verfügung stehen (vgl. Pro-Asyl, Bericht vom März 2012, a.a.O.). Das HHC sei beunruhigt über die Situation, dass Asylsuchende den Ausgang ihres Verfahrens auf der Straße im Zustand der Verarmung abwarten müssten, obwohl sie möglicherweise anzuerkennen seien und demnach Anspruch auf alle damit verbundenen Leistungen hätten. Zudem bestünden auch hier Zweifel an einem effektiven Rechtsschutz gegenüber Überstellungsentscheidungen. Die Rechtsmittelfrist von 3 Tagen sei extrem kurz, es sei keine Anhörung vorgesehen, der Rechtsbehelf habe keine aufschiebende Wirkung und es bestünden auch hier Defizite bei der Fachkenntnis der zuständigen Richter.

Vor diesem Hintergrund überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Bliebe diesem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage versagt, wäre er der möglichen Gefahr ausgesetzt, über einen längeren Zeitraum lediglich infolge seines Status als Asylsuchender inhaftiert zu werden oder unterhalb seines Existenzminimums ohne ausreichend gesicherten Zugang zu Nahrung und Unterkunft leben zu müssen. Die damit verbundenen nicht auszuschließenden physischen und psychischen Beeinträchtigungen, auf die der Antragsteller hingewiesen hat und die grundrechtliche Positionen betreffen, wären im Falle einer erfolgreichen Klage und dem damit verbundenen Recht auf Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland auch nicht rückgängig zu machen. Diese Beeinträchtigungen des Antragstellers wiegen schwerer als - im Falle der Stattgabe des Antrages und späterer Klageabweisung - der Aufschub oder auch der Ausfall der Durchsetzung einer Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat. Die grundsätzliche Wirksamkeit und Effektivität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wird durch eine sich im Nachhinein als falsch herausstellende Unterbindung einer Überstellung im Einzelfall nicht in Frage gestellt, zumal die Dublin-Verordnungen ein Recht zum jederzeitigen Selbsteintritt der Mitgliedstaaten vorsehen und eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Überstellung nicht besteht (vgl. zu Letzteren: BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 2009, a.a.O.).

Aus den genannten Gründen war auch dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen hinreichender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung gem. §§ 166 VwGO i.V.m. 114ff ZPO stattzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.

Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.