Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.08.2006, Az.: 6 K 278/06

Abziehbarkeit von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung bei Berechnung des Kindergeldjahresgrenzbetrages; Gleichstellung von Beiträgen an die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder mit Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
24.08.2006
Aktenzeichen
6 K 278/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 26388
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2006:0824.6K278.06.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 25.11.2008 - AZ: III R 78/06

Fundstellen

  • DB 2007, 198
  • EFG 2006, 1768-1769 (Volltext mit amtl. LS)
  • NWB direkt 2007, 6
  • WISO-SteuerBrief 2007, 1
  • ZFE 2007, 143 (Kurzinformation)
  • Jurion-Abstract 2006, 228633 (Zusammenfassung)

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung bei Ermittlung des Jahresgrenzbetrages abzuziehen.

  2. 2.

    Die vom Arbeitgeber des Kindes abgeführten Beiträge an die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder sind den Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbar und daher ebenfalls bei Ermittlung des Jahresgrenzbetrages zu berücksichtigen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge der Tochter des Klägers auch deren Beiträge zur Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) zu berücksichtigen sind.

2

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 13. Juni 2005 bei der für ihn zuständigen beklagten Familienkasse Kindergeld für seine am 8. Februar 1982 geborene Tochter T für das Jahr 2003. T absolvierte im gesamten Jahr 2003 eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Ihre Einkünfte und Bezüge betrugen im Jahr 2003 - unstreitig - 9.625 EUR. Hiervon behielt der Arbeitgeber Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Pflegeversicherung i.H.v. insgesamt 2.378 EUR ein. Darüber hinaus behielt der Arbeitgeber weitere 149,99 EUR ein, die er als Arbeitnehmeranteil an die VBL weiterleitete.

3

Die beklagte Familienkasse lehnte die Kindergeldfestsetzung für T für das Jahr 2003 mit Bescheid vom 22. August 2005 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Einkünfte und Bezüge der Tochter des Klägers auch unter Einbeziehung des Arbeitnehmeranteils zur gesetzlichen Sozialversicherung mit 7.247 EUR (9.625 EUR abzüglich 2.378 EUR) über dem maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 EUR lägen. Die Aufwendungen für die Beiträge zur VBL könnten bei der Berechnung nicht berücksichtigt werden, da es sich nicht um eine gesetzliche Versicherung handele.

4

Gegen die Versagung des Kindergeldes wendet sich der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der vorliegenden Klage. Er ist der Ansicht, dass die Beiträge seiner Tochter zur VBL bei der Berechnung der Einkünfte und Bezüge zu berücksichtigen seien. Insoweit handele es sich bei der VBL um eine Pflichtversicherung, die für den Arbeitnehmer immer dann verpflichtend sei, wenn der Arbeitgeber durch eine Beteiligungsvereinbarung der VBL beigetreten sei. Dieses sei bei dem Arbeitgeber von T der Fall. Wegen dieses Pflichtcharakters der Versicherungsbeiträge sei kein Unterschied zur gesetzlichen Sozialversicherung gegeben.

5

Der Kläger beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom 2. August 2005 sowie den Einspruchsbescheid vom 23. Mai 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld ab Januar 2003 bis einschließlich Dezember 2003 zu gewähren.

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Sie hält an ihrer in der Einspruchsentscheidung geäußerten Rechtsauffassung fest, dass eine Berücksichtigung der Beiträge zur VBL nicht möglich sei, da es sich insoweit um steuerliche Sonderausgaben handele.

Gründe

8

I.

Die Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 22. August 2005 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 2006 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für seine Tochter T für das Jahr 2003 zu gewähren.

9

1.

Der Kläger hat nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a Einkommensteuergesetz (EStG) für das gesamte Jahr 2003 einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld für seine Tochter T, da diese als leibliches Kind des Klägers das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und für einen Beruf ausgebildet wurde. Von dieser grundsätzlichen Berechtigung gehen auch beide Beteiligten zu Recht aus.

10

2.

Die maßgeblichen Einkünfte und Bezüge der Tochter des Klägers stehen der Berücksichtigung im Streitjahr nicht entgegen, da sie unter dem gesetzlichen Grenzbetrag liegen.

11

a)

Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG der im Streitjahr 2003 geltenden Fassung wird ein Kind nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.188 EUR im Kalenderjahr hat. Die Tochter des Klägers hatte im Streitjahr maßgebliche Einkünfte und Bezüge i.H.v. 7.098 EUR. Bei der Berechnung gehen die Beteiligten übereinstimmend von Einkünften und Bezügen vor Abzug der Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 9.625 EUR aus. Aus den Akten ergeben sich keine Anhaltspunkte, die Anlass zu Zweifeln an dieser Berechnung geben. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 (2 BVR 167/02, BVerfG 112, 164) ist § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass Relativsatz "die zur Bestreitung des Unterhalts...bestimmt oder geeignet sind" nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes zu beziehen ist. Dementsprechend ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) von T i.H.v. 2.378 EUR bei der Ermittlung abzuziehen sind. Dies ergibt eine Zwischensumme von 7.247 EUR, die noch über dem maßgeblichen Grenzbetrag liegt.

12

b)

Entgegen der Ansicht der Beklagten sind bei der Berechnung auch die Beiträge der Tochter des Klägers zur VBL zu berücksichtigen.

13

Ausgangspunkt der Grenzbetragsregelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist die Überlegung, dass Eltern, deren volljährige Kinder sich in der Ausbildung befinden, durch diese noch finanziell belastet sind. Diese Belastung nimmt jedoch ab, wenn und soweit das Kind aus seinen eigenen Einkünften und Bezügen zu den Kosten seines Unterhalts und seiner Berufsausbildung beitragen kann. Hinsichtlich der Bestimmung dieser Einkünfte und Bezüge hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) herausgestellt, dass die Einkünfte des Kindes, soweit sie als Sozialversicherungsbeiträge vom Arbeitgeber abgeführt werden und deshalb nicht in den Verfügungsbereich des auszubildenden Kindes gelangen, keine Minderung der Unterhaltslasten und somit auch keine Erhöhung der Leistungsfähigkeit der unterhaltsverpflichteten Eltern bewirken können. Soweit dies unabhängig vom Willen der Kinder und deren Eltern geschehe, sei es gerechtfertigt, jedenfalls diejenigen Beträge, die, wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge, von Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht verfügbar sind, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhalts zu dienen bestimmt sind, nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen.

14

Die vom Arbeitgeber der Tochter des Klägers abgeführten Beiträge an die VBL sind den Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbar. Nach § 3 des zwischen der Tochter des Klägers und dem ausbildenden Krankenhaus geschlossenen Ausbildungsvertrages bestimmt sich das Ausbildungsverhältnis nach dem Tarifvertrag zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Schülerinnen/Schüler, die nach Maßgabe des Krankenpflegegesetzes oder des Hebammengesetzes ausgebildet werden, vom 28. Februar 1986 und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung. Nach § 19 des o.g. Tarifvertrages wird die Versicherung zum Zwecke einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung durch besonderen Tarifvertrag geregelt. Im Streitjahr war dies der Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom 1. März 2002 i.d.F. des Änderungstarifvertrages Nr. 2 vom 12. März 2003 (ATV). § 2 ATV bestimmt, dass die Beschäftigten mit Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bei der öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtung, bei der ihr Arbeitgeber Mitglied/Beteiligter ist, zu versichern sind. Da das ausbildende Krankenhaus durch eine Beteiligungsvereinbarung der VBL als Beteiligter beigetreten ist, handelt es sich für die Tochter des Klägers um eine Pflichtversicherung. Aufgrund dieses Charakters als Pflichtversicherung ist es gerechtfertigt, die Beiträge bei der Ermittlung der maßgeblichen Einkünfte und Bezüge i.S.d. § 32 Abs.4 Satz 2 EStG zu berücksichtigen. Der einzige Unterschied zu den Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung liegt darin, dass die Verpflichtung zur Beitragszahlung bei der VBL nicht gesetzlich geregelt sind. Dies allein ist jedoch nicht entscheidend. Es kommt vielmehr darauf an, dass - wie auch bei den Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung - sich die Tochter des Klägers der Pflicht zur Beitragszahlung nicht durch eigene Willensentscheidung entziehen konnte. Damit waren die Beiträge zur VBL i.H.v. 149 EUR für die Tochter des Klägers im Streitjahr nicht verfügbar, sondern zu anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhalts zu dienen bestimmt.

15

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 zugelassen. Die Frage, inwieweit bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Beiträge zu einer nicht gesetzlichen Pflichtversicherung zu berücksichtigen sind, hat grundsätzliche Bedeutung.