Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 19.06.2001, Az.: 4 B 57/01

Eingliederungshilfe; Einrichtung; Jugendhilfe; Wunsch- und Wahlrecht

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
19.06.2001
Aktenzeichen
4 B 57/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 39842
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Jugendhilfe für den von ihm angestrebten stationären Aufenthalt in der heilpädagogischen Einrichtung des Sprachheilzentrums W.  in B.. Der Antragsgegner will ihm hingegen Hilfe für eine Unterbringung im Kinderhaus in C.  gewähren.

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Der Antrag ist erfolgreich.

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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz  2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Anwendung der Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Rechtsschutzsuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

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Diese Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung liegen hier vor. Die Eilbedürftig-keit der Regelung folgt daraus, dass die Einrichtung "W. " angekündigt hat, sie werde den für den Antragsteller vorgesehenen Platz anderweitig vergeben, wenn nicht bis zum 20. Juni 2001 eine Kostenübernahmeerklärung vorliege, wobei aus den  vorliegen-den fachlichen Stellungnahmen, insbesondere dem Gutachten der Diplompsychologin K.  zu ersehen ist, dass unmittelbarer Handlungsbedarf besteht und dem Antragsteller ein weiteres Abwarten nicht zumutbar ist. Aus diesem Grund ist auch die (teilweise) Vor-wegnahme der Hauptsache gerechtfertigt. 

5

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat mit ü-berwiegender  Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Leistung nach § 35 a SGB VIII. Dabei ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorliegen und dass der Antragsteller Hilfe in Form der Un-terbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung benötigt, in der intensive Familienar-beit geleistet wird. Streit besteht allein darüber, in welcher konkreten Einrichtung die Hilfe  erfolgen soll. Dabei kann der Antragsteller verlangen, die Jugendhilfe in der von seinen Eltern gewählten heilpädagogischen Einrichtung des Sprachheilzentrums W.   zu erhalten. Ist Hilfe - wie hier - außerhalb der eigenen Familie erforderlich, so sind nach § 36 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Ju-gendliche bei der Auswahl der Einrichtung zu beteiligen. Der Wahl und den Wünschen ist zu entsprechen, sofern sie nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind (§ 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII) und wenn mit dem Träger der Einrichtung  - soweit es sich um eine der in § 78a SGB VIII genannten Einrichtungen handelt - eine Vereinbarung nach § 78 b SGB VIII besteht (vgl. § 36 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII). Die soeben genannten Vor-aussetzungen liegen hier vor.

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Die Wahl einer Einrichtung durch den Jugendlichen bzw. die Jugendliche oder die Perso-nensorgeberechtigten ist für den Jugendhilfeträger weiter nur dann bindend, wenn die erforderliche Hilfe in der gewählten Einrichtung erbracht werden kann, d.h., wenn die Ein-richtung hierfür geeignet ist. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass dies hier der Fall ist. Aus der Leistungsbeschreibung der heilpädagogischen Einrichtung des Sprach-heilzentrums W.  lässt sich ersehen, dass dort Kinder und Jugendliche mit den auch bei dem Antragsteller gutachterlich festgestellten Problemen Aufnahme und heilpä-dagogische Therapie finden sollen. Die Mitarbeiter der Einrichtung erfüllen weiter die be-ruflichen Qualifikationen, die die Diplompsychologin K.  in ihrer von dem Antragsgeg-ner im Rahmen dieses Verfahrens vorgelegten, das Gutachten vom 23. April 2001 ergän-zenden Stellungnahme vom 14. Juni 2001 für eine Therapie des Antragsteller erforderlich hält. Es ist auch nicht erkennbar, dass die in der Einrichtung angewandten therapeuti-schen Methoden zur Behandlung des Antragstellers ungeeignet sind; dies macht auch der Antragsgegner nicht geltend. Weiter ist auch Familienarbeit  vorgesehen, die von Frau K.  - entsprechend dem Wunsch der Eltern des Antragstellers - befürwortet wird und der nach Meinung des Antragsgegners besonderes Gewicht zukommen muss.

7

Die Einwände des Antragsgegners vermögen die aus der vorliegenden Leistungsverein-barung folgende Einschätzung nicht zu entkräften. Auch wenn, wie der Antragsgegner vorträgt,  nach dem Konzept des Kinderhauses in C.  die Familie dort stärker als in dem Sprachheilzentrum W.  in die Therapie einbezogen wird  und die Famili-enarbeit in C.  durch die Nähe zum Wohnort der Eltern des Antragstellers begünstigt wird, rechtfertigt dies allein nicht den Schluss, die im Sprachheilzentrum praktizierte Fami-lienarbeit sei unzureichend und die Leistungen der heilpädagogischen Einrichtung des Sprachheilzentrums W.  seien damit für den Antragsteller ungeeignet. Denn aus den vorliegenden fachlichen Stellungnahmen ist nicht ersichtlich, dass für eine erfolg-versprechende Hilfe eine Beteiligung der Familie des Antragstellers in dem Umfang erfor-derlich ist,  wie sie in dem Kinderhaus in C.  erfolgt. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der Stellungnahme der Frau K.- vom 14. Juni 2001. Soweit sich die Gut-achterin hier für eine wohnortnahe Institution ausspricht (Seite 5), begründet sie dies nicht mit fachlichen, auf den Antragsteller bezogenen  Erwägungen, sondern  allein mit dem Wunsch seiner Eltern  nach regelmäßigem intensiven Kontakt zu ihm. Diese haben aller-dings heute im Erörterungstermin vor der Berichterstatterin der Kammer glaubhaft erklärt, sie seien  trotz der Entfernung zum Sprachheilzentrum W.  in der Lage, den Antragssteller regelmäßig zu besuchen und  Kontakt in dem von ihnen gewünschten Ausmaß zu halten. Sind die Eltern des Antragstellers aber bereit, die Anfahrt nach B. in Kauf zu nehmen, ist nicht ersichtlich, dass eine Unterbringung des Antragstel-lers in der Nähe ihres Wohnortes notwendig ist, um das Therapieziel zu erreichen. Weiter  hat der Antragsgegner nicht überzeugend begründet, weshalb es gegen die Eignung der von den Eltern des Antragstellers gewählten Einrichtung spricht, dass dort ein Verhältnis zwischen Betreuern und  Betreuten von 1 zu 3 besteht. Es ist auch aus keiner der vorlie-genden fachlichen Stellungnahmen zu ersehen, dass ein Verhältnis von 1 zu 2 - wie im Kinderhaus C.  - notwendig wäre. Zuletzt ist aus den über den Antragsteller erstellten Gutachten nicht ersichtlich, dass eine ganzjährige Betreuung in der Einrichtung sicherge-stellt werden müsste. Der Umstand, dass nach dem Konzept des Sprachheilzentrums W.  die Kinder und Jugendlichen die Schulferien zu Hause verbringen, spricht deswegen ebenfalls nicht gegen dessen Eignung, wobei  die Eltern des Antragstellers nach ihren Angaben im Erörterungstermin auch  wünschen, dass dieser die Ferien mit ihnen zusammen verbringt.

8

Die Kammer hält es für sachgerecht, die Wirkungen der einstweiligen Anordnung auf das erste Schulhalbjahr zu beschränken, so dass der Antragsgegner die Möglichkeit hat, die Hilfe erneut zu überprüfen.

9

Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass mit der vorliegenden Entscheidung keine Aussage darüber getroffen wurde, ob es erforderlich ist, dass der Antragsteller neben der heilpädagogischen Einrichtung auch die W. schule besucht, eine Sonderschule für Erziehungshilfe und  Ersatzschule nach § 141 NSCHG, die ebenfalls von dem Sprach-heilzentrum W.  betrieben wird. Denn aus der Leistungsvereinbarung der heil-pädagogischen Einrichtung lässt sich ersehen, dass die dort wohnhaften Kinder und Ju-gendlichen auch die umliegenden Regelschulen besuchen können. Die Frage, ob bei dem Antragsteller auch ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, und welche Schule er zu besuchen hat, ist vorrangig von der Bezirksregierung Lüneburg als zuständiger Schul-behörde in dem derzeit noch anhängigen Widerspruchsverfahren zu klären. Erst danach obliegt es u.U. dem Antragsgegner zu prüfen, ob die schulische Förderung ausreicht oder ob daneben Bedarf für weitere Maßnahmen der Jugendhilfe besteht.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § § 154 Abs. 1, 188 Satz 2  VwGO.