Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 27.08.2015, Az.: L 8 SO 177/15 B ER
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.08.2015
- Aktenzeichen
- L 8 SO 177/15 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 25129
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0827.L8SO177.15B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 03.06.2015 - AZ: S 33 SO 10/15 ER
Fundstellen
- FEVS 2016, 365-372
- NZS 2015, 8
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Eilrechtsschutz versagende Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 3. Juni 2015 aufgehoben. Der Antragsgegner zu 1. wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für eine persönliche Assistenz für den Besuch des Antragstellers der Kindertagesstätte D., E.-F., in einem Wochenumfang von 20 Stunden vorläufig bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners zu 1. vom 9. Januar 2015, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2015, zu übernehmen.
Der Antragsgegner zu 1. hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die vorläufige Kostenübernahme für die Betreuung eines Kleinkindes mit hochgradiger Lebensmittelallergie (Erdnussallergie), durch die die Kontrolle der Nahrungsmittelaufnahme beim Besuch eines Kindergartens sichergestellt werden soll.
Der am G geborene Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) leidet an einer hochgradigen Erdnussallergie mit einem hohen Risiko einer systemischen allergischen Reaktion bis hin zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock. Bis zu der Diagnose der Allergie im Dezember 2014 besuchte er den Kindergarten D., E.-F., in dem von den (zwei) Erzieherinnen bei einer Gruppengröße von bis zu 25 Kindern nicht gewährleistet werden konnte, dass der Antragsteller (versehentlich) Erdnüsse oder erdnusshaltige Lebensmittel zu sich nimmt. In der Folgezeit wurde der Antragsteller von seinen (jeweils berufstätigen) Eltern, seiner Großmutter und einer (ebenfalls berufstätigen) Tante zu Hause betreut. Versuche seiner Eltern, die Kita in Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen und Eltern der anderen Kinder "erdnussfrei" zu gestalten (u.a. durch Aufklärung beim Elternabend, Informationsbriefe an die Eltern, Warnschilder im Kindergarten, Lebensmittellisten und Schulung des Kindergartenpersonals), also das Risiko einer ungewollten Aufnahme von Allergenen zu minimieren, scheiterten.
Den Ende Dezember 2014 von den Eltern des Antragstellers gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz während des Kindergartenbesuchs lehnte der Antragsgegner zu 1. durch Bescheid vom 9. Januar 2015 mit der Begründung ab, dass bei dem Antragsteller ein erheblicher Betreuungs- und Beaufsichtigungsaufwand - an sich zu bewältigen durch den Kindergarten und nicht durch den Sozialhilfeträger - nicht ersichtlich und das Vorliegen einer für einen Leistungsanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erforderlichen wesentlichen Behinderung zumindest fraglich sei.
Gegen diese Ablehnung erhob der Antragsteller am 15. Januar 2015 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Während des Vorverfahrens nahmen die behandelnde Allergologin H., E., am 28. Januar 2015 und der Amtsarzt des Gesundheitsamts I. Dr. J. am 11. März 2015 dahingehend Stellung, dass der Antragsteller zum Besuch des Kindergartens einer ständigen Beobachtung (durch eine zusätzliche Assistenz) bedürfe, um den Kontakt mit Erdnüssen oder erdnusshaltigen Nahrungsmitteln zu vermeiden. Aus amtsärztlicher Sicht könne aber nicht beantwortet werden, welche Stelle die Kosten für die "zweifellos erforderliche stetige Beobachtung des Antragstellers", der als starker Allergiker nicht zum Personenkreis des § 53 SGB XII gehöre, zu tragen habe. Das bei einem "runden Tisch" im Kindergarten am 20. Februar 2015, bei dem auch die Kindergartenleitung und eine Vertreterin der Gemeinde E. zugegen waren, unterbreitete Angebot des Antragsgegners zu 1., die Kosten für eine persönliche Assistenz während der Frühstückszeit (zwei Stunden täglich) zu übernehmen, lehnten die Eltern des Antragstellers als unzureichend ab.
Am 9. April 2015 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Stade einen gegen den Landkreis Cuxhaven als Träger der Sozialhilfe bzw. der Jugendhilfe (Antragsgegner zu 1.) sowie gegen seine Krankenkasse (Antragsgegnerin zu 2.) gerichteten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Das SG hat den Antrag durch Beschluss vom 3. Juni 2015 mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller - vertreten durch seine Eltern - habe zum einen die besondere Eilbedürftigkeit der Sache nicht glaubhaft gemacht, weil eine fachgerechte Betreuung durch seine Eltern und die Tante sichergestellt sei. Zum anderen habe er nicht glaubhaft gemacht, dass das Ziel der Eingliederungshilfe allein durch die Kostenübernahme für eine persönliche Assistenz erreicht werden könne (keine Reduzierung des Auswahlermessens auf Null). Maßnahmen der Umorganisation des Kindergartenablaufs seien zunächst vorrangig, sodann müsse ein Wechsel in einen anderen - geeigneteren - Kindergarten oder zu einer Tagespflegeperson erwogen werden. Die Begleitung des Antragstellers durch eine persönliche Assistenz dürfte weder praktikabel noch pädagogisch sinnvoll noch in finanzieller Hinsicht verhältnismäßig sein.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 9. Juni 2015, mit der er (weiterhin) die Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz in einem Umfang von 20°Wochenstunden begehrt. Während des Beschwerdeverfahrens hat die Gemeinde E. die Aufnahme des Antragstellers in kommunalen Kindergärten ohne Betreuung durch eine zusätzliche Assistenzkraft wegen der gesundheitlichen Risiken verweigert (Schreiben der Gemeinde vom 30. Juni und 6. Juli 2015).
Der Antragsteller - vertreten durch seine Eltern - macht geltend, dass die vom Antragsgegner zu 1. aufgezeigten Betreuungsalternativen (u.a. bei einer Tagespflegeperson sowie in Kindergärten außerhalb der Gemeinde E.) tatsächlich nicht bestünden oder aber für ihn (und seine Eltern) nicht zumutbar seien. Letzteres gelte insbesondere für den (einzigen) konkreten Verweis auf die Tagespflegeperson Frau K. L., die in dem 18,5 km vom Wohnort des Antragstellers entfernten M. tätig sei (Fahrtzeit für eine einfache Strecke ca. 30 Minuten) und (aktuell) nur 2 bis 3-jährige Kinder betreue. In rechtlicher Hinsicht beruft er sich auf den Anspruch auf Förderung in einer Kindertagesstätte nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, das Wunsch- und Wahlrecht aus § 5 SGB VIII sowie auf § 3 Abs. 1 Satz 6 des Nds. Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder (Nds. KiTaG i.d.F. vom 7. Februar 2002, Nds. GVBl. 2002, 57, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 2014, Nds. GVBl. S. 477), nach dem Kinder, die eine wesentliche Behinderung i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben und leistungsberechtigt gem. § 53 Abs. 1 SGB XII sind, nach Möglichkeit in einer ortsnahen Kindertagesstätte (§ 1 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 KiTaG) gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung in einer Gruppe betreut werden sollen.
Der Antragsgegner zu 1. hält die Entscheidung des SG für zutreffend und macht im Beschwerdeverfahren u.a. geltend, dass es die ureigene Aufgabe der Eltern des Antragstellers sei, sich um dessen Betreuung zu kümmern, und sie wegen der fehlenden Assistenzkraft vorrangig gegen den Träger des Kindergartens vorzugehen hätten. Die bloße Anwesenheit einer Assistenzkraft in den Räumen des Kindergartens sei ohnehin nicht ausreichend, um den Kontakt des Antragstellers mit Allergenen zu vermeiden. Hierzu sei eine "sehr engmaschige" - pädagogisch nicht sinnvolle - Kontrolle des Antragstellers nötig, die einem selbstverantwortlichen Handeln und der ungestörten Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen entgegenstehe. Dem Antragsteller sei eine Betreuung durch eine Tagespflegeperson - auch außerhalb des Gemeindegebiets E. - zumutbar, z.B. in M ...
Nach Auffassung der Antragsgegnerin zu 2. kommt hier allenfalls der Antragsgegner zu 1. als Träger der Sozialhilfe als leistungspflichtig in Betracht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (2 Bände) und der beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch statthafte (§ 172 Abs. 1 SGG) Beschwerde ist begründet. Das SG hat den Eilantrag nach den im Beschwerdeverfahren gewonnenen Erkenntnissen über die Betreuungssituation des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist.
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. §§ 53 Abs. 1, 5 4SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX als auch die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht. Eine Leistungspflicht der Antragsgegnerin zu 2., der Krankenkasse des Antragstellers, besteht nicht.
Gem. § 19 Abs. 3 SGB XII wird Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Sechsten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitel des SGB XII nicht zuzumuten ist. Bei der hier allein in Betracht kommenden Hilfe nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB XII (Hilfe, die dem behinderten noch nicht eingeschulten Menschen die für ihn erreichbare Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen soll - hierzu später) stellt die streitige Übernahme der Kosten einer persönlichen Assistenz eine nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB XII privilegierte Leistung dar, die ohne Berücksichtigung von vorhandenem Vermögen zu erbringen ist. Da keine Kosten des Lebensunterhalts betroffen sind, ist den Eltern auch keine Aufbringung von Mitteln aus dem Einkommen zuzumuten (§ 92 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB XII).
Der Antragsteller gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 53 SGB XII. Nach dessen Absatz 1 erhalten Personen, die durch eine Behinderung i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (Satz 1). Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten (Satz 2).
Der Antragsteller ist behindert i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, nach dem hierfür maßgeblich ist, dass die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit eines Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Eine schwere Nahrungsmittelallergie, wie sie hier vorliegt, ist - insbesondere bei Kindern - regelmäßig als Behinderung i.S. des § 2 SGB IX anzusehen. Nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage VersMedV) ist bei klinisch gesicherter Typ-I-Allergie gegen schwer vermeidbare Allergene (z.B. bestimmte Nahrungsmittel), bei der aus dem bisherigen Verlauf auf die Gefahr lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schocks zu schließen ist, in der Regel bis zum Ende des 12. Lebensjahres Hilflosigkeit anzunehmen (vgl. Allgemeine Grundsätze Ziff. 5 d) rr)). Allergisch bedingte Krankheiten können die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) bedingen, wobei auch die Vermeidbarkeit der Allergene von Bedeutung ist (vgl. etwa Ziff. 8. oder 10.2 der Anlage VersMedV).
Wann von einer wesentlichen Behinderung i.S. des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und damit von einem Anspruch auf Pflichtleistungen auszugehen ist, ergibt sich aus §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglH-VO) in der zuletzt durch Gesetz vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I 3022) geänderten Fassung vom 1. Februar 1975 (BGBl. I 433). Da eine geistige oder seelische Behinderung des Antragstellers nicht vorliegt, kann in der hochgradigen Lebensmittelallergie allenfalls eine körperlich wesentliche Behinderung zu sehen sein, was nach dem Wortlaut des § 1 EinglH-VO aber ausgeschlossen erscheint. Nach § 1 Nr. 3 EinglH-VO liegt eine körperlich wesentliche Behinderung u.a. bei Personen vor, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Eine Einschränkung des körperlichen Leistungsvermögens geht mit der Allergie des Antragstellers nicht einher. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des BSG die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung wertend auszurichten an den Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft. Nicht ein Funktionsdefizit, sondern die Auswirkung der Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit ist maßgebend (BSG, Urteil vom 22. März 2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 19). Da dem Antragsteller nach dem bisherigen Kenntnisstand des Gerichts der Besuch eines Kindergartens im Gemeindegebiet E. ohne die begehrte Hilfe nicht möglich ist, spricht nach Auffassung des Senats ganz Überwiegendes dafür, dass er (körperlich) wesentlich behindert i.S. des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist. Ob es hierzu einer extensiven Auslegung der seit 1975 im Wesentlichen unveränderten EinglH-VO (§ 1 Nr. 3 der Verordnung), die dem Behinderungsbegriff aus § 2 Abs. Satz 1 SGB IX angemessen Rechnung trägt und auch verfassungs- oder völkerrechtliche Aspekte (z.B. UN-Behindertenrechtskonvention) berücksichtigt, bedarf oder eine wesentliche Behinderung auch außerhalb der Fallgruppen der EinglH-VO bejaht werden kann (strittig, vgl. zusammenfassend Wehrhahn in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 53 Rn. 25), muss im gerichtlichen Eilverfahren nicht abschließend entschieden werden. Auch wenn eine wesentliche Behinderung i.S. des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII verneint wird, kommt eine Kostenübernahme für einen Integrationshelfer zum Kindergartenbesuch nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII jedenfalls auch im Ermessenswege in Betracht, wobei wegen der nicht vorhandenen Betreuungsalternativen (dazu später) nach dem derzeitigen Sachstand nur eine Leistungsgewährung ermessensgerecht wäre (Ermessensreduzierung auf Null).
Anspruchsgrundlage für die begehrte Kostenübernahme ist §§ 53 Abs. 1, 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX insbesondere die in den Nummern 1 bis 5 aufgezählten Hilfen. Dabei beinhalten § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und der hier einschlägige § 55 Abs. 2 SGB IX, wie das Wort "insbesondere" zeigt, einen lediglich beispielhaften, offenen Leistungstatbestand, nach dem auch andere, nicht ausdrücklich in § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII oder § 55 Abs. 2 SGB IX genannte Maßnahmen in Betracht kommen, sofern sie geeignet und erforderlich sind, die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen (Senatsurteil vom 26. Juni 2014 - L 8 SO 147/10 - juris Rn. 29; vgl. auch BSG, Urteil vom 24. März 2009 - B 8 SO 29/07 R - juris Rn. 20 m.w.N.; so nach altem Recht schon BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 - 5 C 19/08 - juris Rn. 14). Auch wenn es sich hier nicht um heilpädagogische Leistungen für noch nicht eingeschulte Kinder handelt (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX), können Leistungen für den Einsatz eines Integrationshelfers zum Zwecke des Kindergartenbesuchs gleichwohl über die "Auffangnorm" des § 55 Abs. 2 SGB IX beansprucht werden (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. August 2013 - L 9 SO 211/13 B ER - juris Rn. 7).
Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass die Stellung einer persönlichen Assistenz für den Besuch des Kindergartens in E.-F. geeignet und erforderlich ist, um hier die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 3 SGB XII zu erfüllen, insbesondere die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern (Satz 2). Er hat auch glaubhaft gemacht, dass ihm derzeit eine andere Betreuung, bei der eine persönliche Assistenz nicht zugegen sein muss, nicht zumutbar ist.
Nach den Feststellungen des Gesundheitsamtes des Antragsgegners zu 1. (Stellungnahme des Amtsarztes Dr. J. vom 11. März 2015, Bl. 12 d. GA) bedarf der Antragsteller während seines Besuchs des Kindergartens D. durchgängig der Beobachtung und Begleitung durch eine sachlich unterwiesene Person, um zu verhindern, dass er mit Erdnüssen, "Erdnussprodukten" oder auch nur Spuren von erdnusshaltigen Lebensmitteln in Kontakt kommt. Der Senat teilt nicht den Standpunkt des Antragsgegners zu 1. (und teilweise des SG), dass damit eine "sehr engmaschige" - pädagogisch womöglich nicht sinnvolle - Kontrolle des Antragstellers einhergehe, die durch die Begleitung von (nur) einer Person nicht erreicht werden könne (vgl. etwa Schriftsatz vom 23. Juli 2015). Für eine solche Annahme fehlen insgesamt hinreichende Anhaltspunkte. Der Antragsteller bedarf nach den Feststellungen des Dr. J. auch nicht der Begleitung einer besonders qualifizierten Fachkraft (z.B. Krankenschwester), wie der Antragsgegner zu 1. womöglich zur Darstellung hoher Mehrkosten ausgeführt hat (vgl. Schriftsatz vom 14. August 2015).
Unter besonderer Berücksichtigung des gesetzlichen Auftrags der Kindertagesstätten in Niedersachsen (vgl. insbesondere § 1 Abs. 1 Satz 3 Nds. KiTaG), die Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken, sie in sozial verantwortliches Handeln einzuführen, ihnen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die eine eigenständige Lebensbewältigung im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten des einzelnen Kindes fördern, die Erlebnisfähigkeit, Kreativität und Fantasie zu fördern, den natürlichen Wissensdrang und die Freude am Lernen zu pflegen, die Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen erzieherisch zu fördern und den Umgang von behinderten und nicht behinderten Kindern sowie von Kindern unterschiedlicher Herkunft und Prägung untereinander zu fördern, ist der Besuch eines Kindergartens ein wesentlicher Beitrag zur frühkindlichen Entwicklung. Dies gilt im Besonderen für ein behindertes Kind. Der behördliche Verweis auf die Betreuung durch eine Tagespflegeperson oder die Berufung auf unverhältnismäßige Mehrkosten (dazu später) darf jedenfalls bei einem über dreijährigen behinderten Kind regelmäßig nicht dazu führen, dass ihm der Besuch eines Kindergartens wegen der Ablehnung der Eingliederungshilfe verwehrt wird.
Rechtlicher Ausgangspunkt ist insoweit der Mehrkostenvorbehalt nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII (dazu später) und der Nachrang der Sozialhilfe gem. § 2 Abs. 1 SGB XII, nach dem Sozialhilfe nicht erhält, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Da es sich bei der begehrten Eingliederungshilfe um eine nach § 92 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII kostenprivilegierte Leistung handelt (s.o.), ist insoweit entscheidend, ob der Antragsteller die Leistung von anderen erhalten bzw. eine gleichwertige Betreuung ohne Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen kann.
In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass der Kindergarten D. in E. eine zusätzliche Assistenzkraft de facto nicht vorhält und der Antragsteller nicht ohne Weiteres in der Lage ist, durch ein - ggf. zivilrechtliches - Vorgehen (z.B. aus dem Betreuungsvertrag) gegen den Träger des Kindergartens, der nach Auffassung des Antragsgegners zu 1. an sich die Zusatzkosten zu tragen habe, die Stellung einer (weiteren) Assistenzkraft durchzusetzen (so auch in einem vergleichbaren Fall LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. August 2013 - L 9 SO 211/13 B ER - juris Rn. 14).
Nach dem gegenwärtigen Sachstand kann der Antragsteller ohne die begehrte Hilfe auch nicht in zumutbarer Weise in einem anderen Kindergarten inner- oder außerhalb der Gemeinde E. betreut werden. Die Gemeinde selbst hat die Aufnahme des Antragstellers in ihren Kindergärten - ohne weitere Assistenzkraft - wegen der gesundheitlichen Risiken abgelehnt. Die Aufnahme des Antragstellers in einem Kindergarten in N. ist nach Auskunft des zuständigen Jugendamtes grundsätzlich nicht möglich (E-Mail des Jugendamtes M. vom 20. Juli 2015), der Besuch eines Kindergartens in O. (vgl. Schriftsatz des Antragsgegners zu 1. vom 3. Juli 2015) wegen der Entfernung zum Wohnort des Antragstellers (23 km) nicht zumutbar. Hinzu kommt, dass der Antragsgegner zu 1. nicht dargelegt hat, dass sich dort die Betreuungssituation grundlegend von derjenigen in Kindergärten in Wohnortnähe des Antragstellers unterscheidet und es damit neben den Erzieherinnen und Erziehern einer zusätzlichen Assistenzkraft nicht bedürfte (zur Beweislast auch gleich).
Dem Antragsteller ist (derzeit) auch nicht die Betreuung durch eine Tagespflegeperson zuzumuten. Der Senat hegt bereits Zweifel, ob die Betreuung des Antragstellers durch eine Tagespflegeperson in gleicher Weise geeignet ist, die Aufgabe der Eingliederungshilfe (§ 53 Abs. 3 SGB XII) zu erfüllen, wie die Betreuung in einem Kindergarten. Die Kindertagespflege ist konzeptionell nur für Kinder bis zum dritten Lebensjahr ausgelegt, auch wenn eine Förderung von Kindern bis zum dreizehnten Lebensjahr "bei besonderem Bedarf oder ergänzend" erfolgen kann (vgl. auch § 2 Abs. 1 Sätze 1 und 2 der Satzung des Antragsgegners zu 1. über die Förderung von Kindern in Kindertagespflege und die Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege, Bl. 273 ff. d. GA, abrufbar unter http://landkreis-cuxhaven.de). Die Betreuung von älteren Kindern in Tagespflege kann damit im Kreisgebiet des Antragsgegners zu 1. auf Gründen beruhen (besonderer Bedarf), die unabhängig von einer Behinderung bestehen (z.B. Schichtdienst der Eltern). Hieraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Kindertagespflege - insbesondere für behinderte Kinder - eine gleichwertige Alternative zum Besuch eines Kindergartens ist.
Ungeachtet dieser grundsätzlichen Zweifel ist nicht geklärt, dass dem Antragsteller eine zumutbare Betreuungsalternative durch eine Tagespflegeperson konkret zur Verfügung steht. Nach den Ausführungen des Antragsgegners zu 1. und dem Ermittlungsstand im Beschwerdeverfahren, wie er sich insbesondere aufgrund der Stellungnahme der Mitarbeiterin seines Jugendamts, Frau P., vom 13. August 2015 (Bl. 271 d. GA) darstellt, wird der Antragsteller (allein) auf eine Betreuung durch die Tagespflegeperson Frau K. L. in M. verwiesen. Nach Auffassung des Senats ist diese Betreuungsmöglichkeit für den Antragsteller nicht zumutbar, zum einen wegen der Entfernung zu seinem Wohnort (ca. 18 km), zum anderen wegen des Umstands, dass Frau L. derzeit vormittags nur zwei- bis dreijährige Kinder betreut. Weitere Betreuungsalternativen sind nicht ersichtlich. Dies geht nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Antragsgegners zu 1. Zwar ist die Suche und die Wahl einer Kindertagesstätte für ein nicht schulpflichtiges Kind grundsätzlich der Sphäre seiner Eltern zuzuordnen. Dies gilt für die Betreuung eines behinderten Kindes allerdings nur eingeschränkt, insbesondere wenn - wie hier - die Betreuung ggf. mit einem sozialhilferechtlichen Anspruch auf Eingliederungshilfe verknüpft ist. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Antragsteller bereits den Kindergarten D. bis Dezember 2014 besucht hatte und sein weiterer Verbleib in der Einrichtung von der Hilfegewährung des Antragsgegners zu 1. abhängt. Auch haben seine Eltern glaubhaft gemacht, sich in einem hinreichenden Maße um eine Betreuungsalternative bemüht zu haben, im Ergebnis aber ohne Erfolg.
Schließlich steht einer Leistungsgewährung auch nicht der Mehrkostenvorbehalt nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entgegen, nach dem der Träger der Sozialhilfe in der Regel Wünschen nicht entsprechen soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt dieser Vorbehalt das Vorhandensein (mindestens) einer Alternative zur Bedarfsdeckung voraus, die dem Hilfeberechtigten auch zumutbar sein muss (vgl. jüngst Senatsurteil vom 23. Juli 2015 - L 8 SO 197/12 -; Müller-Grune in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Rn. 33 m.w.N.), was nach den obigen Ausführungen nicht der Fall ist.
Der Antragsteller hat auch die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht, weil es ihm mit Rücksicht auf die Bedeutung des Besuchs einer Kindertagesstätte für die kindliche Entwicklung (s.o.) nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der Antragsteller bleibt bereits seit über einem halben Jahr dem Kindergarten fern. Ebenso lange dauert schon das Vorverfahren, ohne dass eine zeitnahe Entscheidung des Antragsgegners zu 1. über den Widerspruch des Antragstellers vom 15.°Januar 2015 in Aussicht gestellt worden ist.
Die gerichtliche Regelungsanordnung erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens; der Antragsgegner zu 1. hat es insoweit selbst in der Hand, sich der Verpflichtung durch Erlass des Widerspruchsbescheids zu entziehen. Nach ständiger Senatsrechtsprechung erfolgt zusätzlich eine fixe Befristung, hier bis zum Jahresende, weil es jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint, dass der Antragsgegner zu 1. dem Antragsteller eine zumutbare Betreuungsalternative vor Ort aufzeigen kann, wobei die Zumutbarkeit nicht allein nach dem Kriterium der Wohnortnähe zu beurteilen ist, sondern auch aufgrund anderer Umstände wie der bisherigen Betreuung (z.B. erfolgreiche Eingewöhnungsphase, Eingliederung in der Kindergartengruppe, kein mehrfacher Wechsel der Einrichtung bzw. Tagespflegeperson etc.). Ohne Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse wird der Antragsgegner zu 1. nicht umhin kommen, die durch eine Assistenzkraft anfallenden Kosten auch weiterhin vorläufig zu tragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.