Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 09.07.2020, Az.: 1 B 972/20

Rechtskraft, entgegenstehende; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
09.07.2020
Aktenzeichen
1 B 972/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71758
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der erneuten Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig steht die Rechtskraft eines Urteils entgegen, mit dem die Unzulässigkeit des Bundesamtes bereits einmal aufgehoben wurde (mangels Zweitantrag in anderem Mitgliedstaat).

Gründe

Der zulässige Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage (Az. F.) gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 12. Juni 2020 in der Fassung vom 26. Juni 2020 anzuordnen, hat Erfolg, denn er ist begründet.

Das Gericht hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes im maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt (vgl. zu diesem Maßstab §§ 77 Abs. 1 Satz 1, 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 Asylgesetz – im Folgenden: AsylG).

Die Antragsgegnerin stützt die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung auf § 71a Abs. 4 i.V.m. 34 Abs. 1 AsylG und § 59 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). § 71a Abs. 4 AsylG findet Anwendung auf Abschiebungen nach der Ablehnung eines sog. Zweitantrages. Ein Zweitantrag liegt vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt (§ 71a Abs. 1 AsylG). Ein weiteres Asylverfahren ist im Falle eines Zweitantrags nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt (§ 71a Abs. 1 AsylG). Wird ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt, lehnt das Bundesamt den Asylantrag gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab. Zugleich sind gem. § 71a Abs. 4 AsylG die §§ 34 bis 36, 42 und 43 AsylG entsprechend anzuwenden. Das Bundesamt erlässt gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird (1.), dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (2.), dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird (2a.), die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist (3.) und der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt (4.). Ob das Bundesamt über diese Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine inhaltliche Entscheidung getroffen hat oder ob es den Asylantrag schon als unzulässig abgelehnt hat, ist insoweit unerheblich, denn die Abschiebungsandrohung setzt lediglich eine erfolglose Beendigung des Asylverfahrens voraus (vgl. OVG NRW, Urt. v. 24. August 2016 – 13 A 63/16.A, Rn. 38). Die Abschiebungsandrohung gem. § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist über den Wortlaut hinaus nur dann rechtmäßig, wenn der Asylantrag des Antragstellers zu Recht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist. Denn es handelt sich der Sache nach um die Androhung eines Zwangsmittels zur Vollziehung der ablehnenden Entscheidung über den unzulässigen Asylantrag, die wegen des Verbindungsgebots gem. § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG vor dessen Bestandskraft erlassen wird. Die Abschiebungsandrohung kann dann nicht rechtmäßig – und in der Folge auch nach gerichtlicher Überprüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von Gesetzes wegen vollziehbar – sein, wenn der Unzulässigkeitsausspruch in einem Hauptsacheverfahren vom Gericht aufzuheben wäre. Sie darf nicht unanfechtbar werden, solange eine positive Entscheidung über den Asylantrag möglich ist (vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK AsylG, Stand Mai 2020, § 34 Rn. 147).

Gemessen hieran liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung hier nicht vor. Die (erneute) Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig unter Ziffer 1. des Bescheids vom 12. Juni 2020 ist voraussichtlich rechtswidrig.

Dieser Ablehnung steht die materielle Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stade vom 20. Dezember 2019 (Az. G.) entgegen. Das Verwaltungsgericht hat mit diesem Urteil die gleichlautende Entscheidung der Antragsgegnerin in Ziffer 1. des Bescheides vom 25. Februar 2019 („Der Antrag wird als unzulässig abgelehnt“) aufgehoben. Bereits mit diesem Bescheid hatte das Bundesamt den am 4. November 2016 gestellten Asylantrag des Antragstellers als unzulässigen Zweitantrag gem. §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG abgelehnt. Das Gericht hat entschieden, dass diese Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig sei und den Antragsteller in seinen Rechten verletze. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gem. § 121 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger und im Fall des § 65 Abs. 3 VwGO die Personen, die einen Antrag auf Beiladung nicht oder nicht fristgemäß gestellt haben. Über den Wortlaut des § 121 VwGO hinaus sind auch die Gerichte in einem späteren Prozess an rechtskräftige Urteile zwischen den Beteiligten gebunden (BVerwG, Urt. v. 07. August 2008 – 7 C 7/08 –, BVerwGE 131, 346-352, Rn. 19 m.w.N.). Die Rechtskraft entzieht die materielle Richtigkeit der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung damit grundsätzlich einer erneuten Überprüfung (BVerwG, Urt. v. 18. September 2001 – 1 C 4/01 –, Rn. 13, juris). Rechtskräftige Urteile binden insoweit, als sie über den Streitgegenstand entscheiden (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. August 2011 - 8 C 15.10 -, juris, m.w.N.; Nds. OVG, Beschl. v. 01. Februar 2018, Az. 13 LC 348/17). Im Falle einer stattgebenden Anfechtungsklage erschöpft sich das Urteil nicht in einer bloßen Aufhebung der behördlichen Entscheidung. Es stellt verbindlich fest, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat. Insoweit beinhaltet das Gestaltungsurteil der Anfechtungsklage stets auch einen feststellenden Teil (BVerwG, Beschl. vom 30. Oktober 2018 – 3 B 18/18 –, Rn. 10, juris). Damit wirkt es auch auf nachfolgende Verwaltungsakte, denn es verbietet der Behörde zugleich, in derselben Sache gegenüber demselben Beteiligten erneut eine entsprechende Verfügung zu erlassen (BVerwG, Beschl. v. 30. Oktober 2018 – 3 B 18/18 –, Rn. 9, juris, m.w.N.; BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1992 – 1 C 12/92 –, Rn. 12, juris; sog. Widerspruchs- und Wiederholungsverbot). Der feststellende Teil des Anfechtungsurteils erstreckt sich auf den die Entscheidung unmittelbar tragenden Rechtssatz (BVerwG, Beschl. v. 30. Oktober 2018 – 3 B 18/18 –, Rn. 11, 14, juris; Nds. OVG, Beschl. v. 01. Februar 2018, Az. 13 LC 348/17). Hingegen erfasst die Rechtskraft nicht die einzelnen Urteilselemente, also nicht die tatsächlichen Feststellungen, die Feststellung einzelner Tatbestandsmerkmale und sonstige Vorfragen oder Schlussfolgerungen, auch wenn diese für die Entscheidung tragend gewesen sind (BVerwG, Beschl. v. 30. Oktober 2018 – 3 B 18/18 –, Rn. 9, juris, Rn. 15; Nds. OVG, Beschl. v. 01. Februar 2018, Az. 13 LC 348/17).

Gemessen hieran nimmt an der Rechtskraft des Urteils des erkennenden Gerichts vom 20. Dezember 2019 (Az. G.) der dieses tragende Rechtssatz, dass das Bundesamt den Asylantrag zu Unrecht als unzulässig abgelehnt habe, teil. Die Feststellung, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die (gebundene) Unzulässigkeitsentscheidung nicht vorlagen, betrifft den Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens unmittelbar. Denn auf ihr beruht maßgeblich die vom Gericht ausgesprochene Aufhebung des Unzulässigkeitsausspruchs im Bescheid vom 25. Februar 2019. Darauf, dass ein Urteil, welches die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung klärt, gem. § 121 VwGO Bindungswirkung entfaltet, weist auch das Bundesverwaltungsgericht hin (vgl. BVerwG, Urt. v. 15. Januar 2019 – 1 C 15/18 –, Rn. 12, juris; wie hier VG Halle (Saale), Urt. v. 30. Januar 2019 – 4 A 624/16 –, juris).

Die Frage der Zulässigkeit des Asylantrages des Antragstellers ist hier auch nicht ausnahmsweise einer erneuten gerichtlichen Überprüfung zugänglich.

Zwar entfällt die Rechtskraftwirkung, wenn sich die dem Ausgangsurteil zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage verändert hat. Denn dieses bezieht sich lediglich auf den Tatbestand, der darin festgestellt wurde, und auf die zurzeit des Urteils geltende Rechtslage (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 VwGO, Rn. 115 f., m.w.N; BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1992 – 1 C 12.92 –, Rn. 13, juris). Eine Befreiung von der Rechtskraftwirkung tritt hingegen nicht allein deshalb ein, weil sich nachträglich neue Erkenntnisse über zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorhandene Tatsachen ergeben (BVerwG, Urt. v. 18. September 2001 – 1 C 7/01 –, Rn. 13, juris). Die Beibringung neuer Beweismittel verändert die Sachlage nicht (Lindner, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: Januar 2020, § 121 Rn. 54; Clausing, in Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, Stand: Juli 2019, § 121 Rn. 72, jeweils m.w.N.). Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit Ausnahmen von diesem Grundsatz für möglich erachtet, wenn einem Beteiligten das Beibringen von Beweismitteln im Erstprozess aufgrund eines Beweisnotstandes unmöglich war (BVerwG, Urt. v. 21. September 1984, BVerwGE 70, 156, 158; kritisch Clausing, in Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, Stand Juli 2019, § 121 Rn. 72; Rennert, in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 15. Aufl. 2019, § 121 Rn. 46).

Gemessen hieran gilt die Rechtskraft hier zeitlich fort.

Der Sachverhalt, über den die Antragsgegnerin mit der neuerlichen Unzulässigkeitsentscheidung vom 12. Juni 2020 entscheidet, ist gegenüber dem Sachverhalt, der ihrer ersten Entscheidung vom 25. Februar 2019 zugrunde lag, unverändert. Dies gilt schon deshalb, weil der maßgebliche Umstand, welche Gründe bzw. welcher Prüfumfang der Entscheidung der bulgarischen Behörde vom 24. September 2013 über den Asylantrag des Antragstellers zugrunde lagen, vollständig in der Vergangenheit liegt.

Zwar stützt das Bundesamt die erneute Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nunmehr erstmals auf eine Übersetzung der Entscheidung H. der Republik Bulgarien vom 24. September 2013. Aus dieser Übersetzung ergeben sich die Gründe und auch der Prüfumfang der bulgarischen Entscheidung. Dies hat hier jedoch außer Betracht zu bleiben. Das Gericht kann schon nicht feststellen, dass die Übersetzung der Antragsgegnerin erst nach Ergehen des Urteils vom 20. Dezember 2019 vorlag. Denn aus der Akte des Bundesamtes ergibt sich nicht, von wann die Übersetzung datiert.

Selbst wenn die Übersetzung erst nach Rechtskraft des Urteils vom 20. Dezember 2019 erstellt worden wäre, würde es sich aber lediglich um ein nicht zu berücksichtigendes neues Beweismittel handeln. Die Frage, ob nach Rechtskraft vorliegende Beweismittel ausnahmsweise eine erneute materielle Prüfung des Sachverhaltes ermöglichen, wenn ein Beteiligter sich im Ausgangsprozess in einem Beweisnotstand befunden hat, kann insoweit dahinstehen. Denn in einem solchen Notstand befand die Antragsgegnerin sich nicht. Sie hätte die Übersetzung der bulgarischen Entscheidung – bei pflichtgemäßer Ermittlung des Sachverhalts vor Erlass der ersten Entscheidung über den Asylantrag des Antragstellers – bereits im Ausgangsverfahren einholen können. Hierauf ist die Antragsgegnerin auch vor Erlass des Urteils vom 20. Dezember 2019, nämlich schon in der Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vom 29. März 2019 (Az. I.), hingewiesen worden. Aus einem in der Bundesamtsakte befindlichen Vermerk des Bundesamtes ergibt sich auch, dass die Übersetzung intern bereits am 14. Oktober 2019 – vor Ergehen des Urteils am 20. Dezember 2019 – angeregt wurde.

Die Rechtskraftwirkung des Urteils muss hier auch nicht ausnahmsweise wegen des Vorrangs europarechtlicher Regelungen durchbrochen werden. Zwar hat die im nationalen Verfahrensrecht vorgesehene Rechtskraftwirkung hier zur Folge, dass der Asylantrag des Antragstellers im Ergebnis von mehreren Mitgliedstaaten inhaltlich voll überprüft wird. Denn aus der nunmehr vorliegenden Übersetzung der bulgarischen Entscheidung ergibt sich, dass bereits die Republik Bulgarien den Asylantrag des Antragstellers umfassend, also einschließlich des Anspruchs auf Gewährung subsidiären Schutzes, geprüft hat. Kann die Antragsgegnerin nun wegen der entgegenstehenden Rechtskraft des Urteils vom 20. Dezember 2019 den Asylantrag des Antragstellers nicht mehr als unzulässig ablehnen, führt dies dazu, dass der Antrag im Ergebnis von mehreren Mitgliedstaaten inhaltlich voll geprüft wird. Zwar widerspricht dies grundsätzlich dem Rechtsgedanken des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Eine erneute Vollüberprüfung des Asylantrags in einem weiteren Mitgliedstaat ist jedoch auch nach den Regelungen der Richtlinie 2013/32/EU (sog. Verfahrensrichtlinie) nicht rechtlich ausgeschlossen. Zwar ist hiernach ein Asylantrag, der in einem anderen Mitgliedstaat wiederholt wird, nur im Falle neuer Elemente oder Erkenntnisse zu prüfen (Art. 40 Abs. 2, 3 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU). Die Richtlinie erlaubt es den Mitgliedstaaten aber, auch andere Gründe festzulegen, aus denen ein Antrag Folgeantrag weiter zu prüfen ist (Art. 40 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU). Hieraus folgt, dass es kein „europäisches Doppelprüfungsverbot“ gibt, welches geeignet wäre, die im Rahmen der nationalen Verfahrensautonomie geregelte Rechtskraftwirkung des § 121 VwGO zu durchbrechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83b AsylG.