Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 27.08.2003, Az.: 2 B 308/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 27.08.2003
- Aktenzeichen
- 2 B 308/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 40462
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2003:0827.2B308.03.0A
In der Verwaltungsrechtssache
1. des Herrn A.,
2. der Frau B.,
3. der C., vertreten durch B. und A.,
4. der D., vertreten durch B. und A.,
5. der Frau E.,
alle wohnhaft F.,
Antragsteller,
Proz.-Bev. zu 1-5: G.,
H. -
gegen
den I., J.
Antragsgegner,
Streitgegenstand: Streitigkeiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
hier: Antrag nach § 123 VwGO
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 2. Kammer - am 22. August 2003 beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern ab 1. August 2003 vorläufig, bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid der K. vom 22. April 2003, ungekürzte Leistungen gemäß §§ 1, 3 ff. des Asylbewerberleistungsgesetzes zu gewähren.
Die außergerichtlichen Kosten des nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Antragsgegner.
Gründe
Das Gericht legt das Rechtsschutzbegehren der Antragsteller vom 1. August 2003, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, ihnen "Sozialhilfe nach § 3 AsylbLG zu zahlen", so aus, wie im 1. Absatz des Tenors beschlossen wurde. In dieser Gestalt ist der zulässige Antrag begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck dieses Verfahrens eine vorläufige Regelung grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird - in diesem Verfahren nur ausgesprochen werden, wenn die Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für den entsprechenden Anspruch (sogenannter Anordnungsanspruch) sowie weiterhin glaubhaft machen, sie befinden sich in einer existentiellen Notlage und seien deswegen - mit gerichtlicher Hilfe- auf die sofortige Befriedigung des Anspruchs dringend angewiesen (sogenannter Anordnungsgrund). Im Falle der Gewährung vorläufiger Leistungen spricht die Kammer diese in ständiger Rechtssprechung - in Übereinstimmung mit den Sozialhilfesenaten des Nds. OVG - ab dem 1. des Monats zu, in welchem die gerichtliche Entscheidung ergeht.
Die Antragsteller haben sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die besondere Eilbedürftigkeit einer Entscheidung liegt in Verfahren, in denen - wie hier - um laufende Leistungen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes gestritten werden, auf der Hand und bedarf keiner weiteren Vertiefung. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, da die namens und im Auftrag des Antragsgegners tätige L. entgegen ihrer - u.a. im Bescheid vom 22. April 2003 niedergelegten Rechtsauffassung - weder eine Leistungsabsenkung nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG vornehmen durfte noch - hinsichtlich des Antragstellers zu 1) - ermessensfehlerfrei eine Leistungseinstellung auf unabsehbare Zeit nach § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG verfügt hat.
Die Absenkung der Leistungen nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG auf das unabweisbar gebotene Maß hat zu erfolgen, wenn gegenüber einem Leistungsberechtigten aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Dieser Tatbestand liegt u.a. in Fällen sog. verschuldeter Passlosigkeit vor, also immer dann, wenn die Beschaffung von Nationalpässen oder Passersatzpapieren aufgrund von Umständen, die in der Verantwortungssphäre des Ausländers liegen, scheitert oder verzögert wird. Im vorliegenden Fall verfügen die Antragsteller zwar nicht über Nationalpässe. Sie haben sich jedoch - jedenfalls nach Aktenlage und dem Vorbringen der Beteiligten - bislang hinreichend um deren Beschaffung bemüht, so dass ihnen ein Verschuldensvorwurf nicht gemacht werden kann. Den Antragstellern wurde - damals zu Recht - bereits in der Zeit vom 1. Februar 2002 bis zum 31. März 2002 Leistungen um 30% gekürzt, weil sie sich nicht hinreichend entsprechend bemüht hatten. Nachdem sie sich, wohl im Februar 2002, erfolglos an die russische und aserbaidschanische Botschaft gewandt hatten, ging die K. ab März 2002 davon aus, dass die Bemühungen ausreichend seien, was aus dem Schreiben der K. vom 5. März 2002 an die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsteller (B. 6.4 der Beiakten D) und der Wiederaufnahme der Zahlung ungekürzter Leistungen deutlich wird. Auch in der Folgezeit setzten die Antragsteller ihre Bemühungen fort (Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten an die russische und aserbaidschanische Botschaft vom 17. März 2002, Bl. 6.10 f. der Beiakten D; erneuter Besuch der Antragsteller beim russischen Generalkonsul in Hamburg am 8. Oktober 2002, Bl. 1.150 der Beiakten D). Ungeachtet dessen und ohne weitere Begründung, eine solche findet sich jedenfalls nicht in den vorgelegten Akten, nahm die K. am 1. November 2002 die Kürzung nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG wieder auf und verfährt so bis heute. Vermutlich stützt sich die K. lediglich auf die turnusmäßigen Mitteilungen der Ausländerstelle des Antragsgegners (sog. "gelbe Zettel", vgl. z.B. Bl. 1.20 der Beiakten C), die formblattmäßig - ohne weitere Begründung - die Auskunft erhalten: "Duldung ist m.E. selbst zu vertreten". Allein diese Mitteilungen rechtfertigen eine Leistungskürzung indessen nicht. Es ist im vorliegenden Verfahren nicht erkennbar, was die Antragsteller an weiteren Bemühungen hätten unternehmen sollen, zumal ihnen nichts Entsprechendes aufgegeben wurde. Unabhängig davon gilt Folgendes: Am heutigen Tage hat ein Mitarbeiter des Antragsgegners - M. - von der Ausländerstelle telefonisch dem Berichterstatter der Kammer mitgeteilt, dass ihm aufgrund eigener Bemühungen mittlerweile von der aserbaidschanischen Botschaft ausgestellte Passersatzpapiere für die Antragsteller zu 1,2 und 5 vorlägen. Hinsichtlich der Antragsteller zu 3 und 4 liefen die Bemühungen noch, man sei insoweit aber auf die Mitwirkung der Antragsteller zu 1 und 2 angewiesen und werde sich kurzfristig erneut an diese wenden. Hinsichtlich der Antragsteller zu 1, 2 und 5 sind damit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 a AsylbLG für eine Kürzung entfallen. Da eine erneute Mitwirkung von den Antragstellern somit (bis heute) nicht verlangt wurde, dürfen auch für die Antragsteller zu 3 und 4 (derzeit) die Leistungen nicht gekürzt werden. Die Kammer weist allerdings darauf hin, dass eine erneute Kürzung rechtmäßig ist, wenn die Antragsteller in Zukunft sich nicht kooperativ verhalten.
Soweit die K. - letztmalig mit Bescheid vom 22. April 2003 - die Leistungen an den Antragsteller zu 1) wegen Arbeitsverweigerung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG komplett eingestellt hat, spricht alles dafür, dass dies - jedenfalls für die Zeit ab dem 1. August 2003 - rechtswidrig ist.
Die mit Bescheid vom 22. April 2003 angeordnete vollständige Einstellung der Leistungen nach dem AsylbLG ist fehlerhaft, weil es an einer -- erkennbaren -- Ermessensausübung der K. hinsichtlich Dauer der vollständigen Einstellung der Leistungsgewährung fehlt. Denn bei einem Verlust des Anspruchs auf Leistungen nach § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG steht die Weitergewährung von Leistungen im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.
Festzuhalten ist zunächst jedoch, dass das Verhalten des Antragsteller zu 1) grundsätzlich die Leistungseinstellung gerechtfertigt hat. Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG sind arbeitsfähige, nicht erwerbstätige und der Schulpflicht unterliegende Leistungsberechtigte zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet. Nach Abs. 4 Satz 2 dieser Bestimmung besteht bei unbegründeter Ablehnung einer derartigen Tätigkeit kein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Der Leistungsberechtigte ist vorher entsprechend zu belehren, § 5 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG. Die Voraussetzungen für einen Anspruchsverlust des Antragstellers zu 1) gemäß § 5 Abs. 4 AsylbLG liegen vor. Der Antragsteller ist vor Erlass des Einstellungsbescheides mehrfach zu einer bestimmten gemeinnützigen Tätigkeit aufgefordert worden. Ihm ist ferner die sich aus einer unberechtigten Arbeitsverweigerung ergebende rechtliche Konsequenz der Leistungskürzung bzw. seit der Neufassung des § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG durch Art. 1 Nr. 3 des 2. Änderungsgesetzes zum AsylbLG vom 25.08.1998 -- BGBl. I S. 2505 -- die der Leistungseinstellung aufgezeigt worden. Diesen Arbeitsaufforderungen ist der Kläger nicht nachgekommen und hat auch keine Gründe dargelegt, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen könnten. Die Arbeitsaufnahme war - entgegen dem Vortrag des Antragstellers zu 1), der das Vorliegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen weder durch Attestvorlage noch in sonstiger Form glaubhaft gemacht hat - zumutbar im Sinne von § 5 Abs. 3 AsylbLG, denn die Arbeitsgelegenheit war zeitlich und räumlich so ausgestaltet, dass sie auf zumutbare Weise und zumindest auch stundenweise ausgeübt werden konnte. Rechtsfehlerhaft ist die Leistungseinstellung aber, weil die K. wohl übersehen hat, dass sie die Absenkung der Leistungen auf "Null" nicht für eine unbegrenzte Zeit verfügen durfte. Der Ausschluss von Leistungen auf unbestimmte Zeit hätte eine Schlechterstellung des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG zur Folge, die verfassungsrechtlich bedenklich sein dürfte. Der Umstand, dass diese Hilfesuchenden vielfach keine Möglichkeit haben, ihren notwendigen Lebensunterhalt anderweitig zu decken, spricht dafür, dass hier der im Menschenwürdegrundsatz - Art. 1 Abs. 1 GG - und dem Sozialstaatsprinzip - Art. 20 Abs. 1 GG - fußende Fürsorgegedanke nicht beachtet sein dürfte. Wenn in der Begründung zum Gesetzesentwurf des AsylbLG ausgeführt wird: "Im Einzelfall kann die nach den Umständen unabweisbare Hilfe gewährt werden" (vgl. BT-Drucks. 13/10155, S. 6) spricht dies dafür, dass eine auf § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gestützte Leistungseinstellung nicht der Regelfall sein soll. Somit handelt es sich bei § 5 Abs. 4 Satz 2 AsylbLGnichtum eine sogenannte Sollvorschrift, bei der nur bei dem Vorliegen eines Ausnahmefalles eine Ermessensausübung hinsichtlich des Absehens einer Leistungseinstellung trotz des gesetzlichen Anspruchsverlustes in Betracht käme. Einer anderen Sichtweise steht ferner der Fürsorgegedanke entgegen. Bereits der Gesetzgeber hat in einer dem AsylbLG in seiner ursprünglichen Fassung beigefügten Begründung die Berücksichtigung fürsorgerechtlicher Aspekte im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem AsylbLG betont. In dieser Begründung heißt es, "Die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber bleiben allerdings gewahrt"; weiter heißt es dort, "Der vorgesehene Umfang der Leistungen ist im Hinblick auf die Ziele der Neuregelung für eine vorübergehende Zeit zumutbar und ermöglicht ein Leben, das durch die Sicherung eines Mindestunterhaltes dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht werden soll (Begründung zum Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vom 02.03.1993, BT-Drucks. 12/4451 S. 5, 6). Dieser Fürsorgeaspekt gebietet es, die Einstellung von Leistungen weder als Regelfall anzusehen noch gar sie auf unbestimmte Dauer zuzulassen. Vielmehr legen die verfassungsrechtlichen Anforderungen dem Hilfeträger die Pflicht auf, in jedem Fall neu zu berücksichtigen, dass den §§ 1, 3, 4 und 6 AsylbLG die Funktion der Existenzsicherung zukommt. Um diesem Gebot hinreichend Rechnung zu tragen, muss die Behörde den Leistungsfall "unter Kontrolle halten" und spätesten nach 3 Monaten (entsprechend der Verfahrensweise in Sozialhilfeangelegenheiten, die § 25 BSHG berühren) die Leistungseinstellung überprüfen, indem mit dem Asylbewerber erneut das Gespräch über seine Arbeitsverpflichtungen gesucht wird.
Der Bescheid der K. lässt - wie auch der übrige Akteninhalt - nicht erkennen, dass ihr die vorstehenden Rechtsgrundsätze bewusst waren. Zwar hat die Behörde - wohl in Anlehnung an § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG - auch hier im Rahmen von § 5 Abs. 4 AsylbLG zuvor eine stufenweise Leistungskürzung vorgenommen, jedoch bei der Leistungsversagung nicht das aus § 25 Abs. 3 BSHG (dessen Rechtsgrundsätze entsprechend anzuwenden sind) folgende Gebot zu verhüten, dass unterhaltsberechtigte Angehörige oder andere mit im Haushalt lebende Leistungsberechtigte durch eine verminderte Leistungsgewährung bzw. einer Leistungseinstellung mitbetroffen würden, berücksichtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg zulässig. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe dieses Beschlusses bei dem ..... ..... ....
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