Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 30.08.2002, Az.: 1 B 61/02
Gesamtschau; Sach- u. Rechtslage; Wiederaufgreifen des Verfahrens; Änderung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 30.08.2002
- Aktenzeichen
- 1 B 61/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43536
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 51 Abs 1 VwVfG
- § 71 AsylVfG
- § 80 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. In der 1. Stufe des Wiederaufnahmeverfahrens, der "Vorprüfung", ist auf der Grundlage des Folgeantrags mit seiner Anstoßfunktion lediglich die Möglichkeit einer günstigen Entscheidung zu fordern. Dabei sind keine überspannten Anforderungen zu stellen.
2. Erst in der 2. Stufe der Wiederaufnahme ist dann zu prüfen, ob die vorgetragene Veränderung tatsächlich eingetreten ist und diese eine Verfolgungsfurcht auslösen kann.
Gründe
a) Für ein Wiederaufgreifen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG genügt es, dass im mehrstufigen Wiederaufnahmeverfahren (vgl. dazu BayVGH, Inf-AuslR 1997, 47o m.w.N.; VG Lüneburg, InfAuslR 2000, S. 47) eine nachträgliche Änderung der Sachlage (oder Rechtslage) fristgerecht vorgetragen und die vorgetragenen Gründe geeignet sind und es - analog § 42 Abs. 2 VwGO - möglich erscheinen lassen, dass ein günstigeres Ergebnis erzielt werden kann (BayVGH, aaO, m.w.N.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, Std: Sept. 2000, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; BGH NJW 1982, 2128 [BGH 29.04.1982 - IX ZR 37/81]; OVG Münster DÖV 1984, 901). Das Gesetz verlangt in der 1. Stufe - der Vorprüfung - nur, eine neue Entscheidung müsse zu Gunsten des Betroffenen ergehen können, wobei "können" iSv Eignung und Möglichkeit gemeint ist (Kopp/ Schenke, VwGO-Komm., 12. Auflage, Rdn. 66 m.w.N.; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 83, 89 u. 106 m.w.N.). Nicht zu verlangen ist, dass "die Veränderung der Sachlage zur Überzeugung des Bundesamtes oder Verwaltungsgerichts auch tatsächlich eingetreten ist" (Funke-Kaiser, aaO., Rdn. 85). Denn schon diese Erheblichkeitsprüfung gehört zum Kern des eigentlichen Asylfolgeverfahren (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 84). Noch viel weniger kann schon im Vorprüfungsverfahren mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht auch in der Sache begründet ist.
All das wird außer Acht gelassen, wenn im Bescheid in eine Würdigung der (unstreitigen) exilpolitischen Tätigkeit und der Erkenntnisquellen eingetreten (S. 6 d. angef. Bescheides) und das Asylfolgeverfahren der Sache nach in vollem Umfang bereits durchentschieden wird, wobei der Ausgangspunkt im Bescheid offenbar der ist, dass im Einzelfall durchaus eine Bestrafung wegen Propaganda drohen könne, was jedoch "vom Inhalt der jeweiligen politischen Aktivitäten sowie von deren Öffentlichkeitsgrad" abhängig sei (S. 5 d. angef. Bescheides). Weshalb das beim unstreitig exilpolitisch tätigen Antragsteller anders sein soll, wird - trotz entsprd. "Anstoßes" (s.o.) - nicht weiter (in der 2. Stufe) aufgeklärt, sondern sogleich - ohne Anhörung des Antragstellers - entschieden.
Ein Wiederaufgreifen ist jedoch nur abweisbar, wenn ein hinreichend substantiiertes Vorbringen nach jeder nur denkbaren Betrachtung völlig ungeeignet ist, wobei verfassungsrechtlich die erforderliche "Richtigkeitsgewißheit" vorliegen muss (BVerfG, InfAuslR 1995, 342 [BVerfG 08.03.1995 - 2 BvR 2148/94] und InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]). Ist das nicht der Fall, so ist erst in der eröffneten 2. Stufe des Folgeverfahrens (vgl. Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2) zu prüfen, ob die vorgetragenen Gründe tatsächlich tragen und eine asylrelevante Verfolgung oder aber die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote oder -hindernisse vorliegen (BayVGH, aaO m.w.N.; 1. Kamm. des 2. Senats des BVerfG, AuAS 1993, 189/190; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2, 84, 89.1). An die Substantiierungspflicht sind schon aus verfassungsrechtlichen Gründen "keine überspannten Anforderungen" zu stellen (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1).
Da es für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Verfolgung darstellen, stets auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" ankommt und diesbezügliche Veränderungen die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nahe legen können (so BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288), ist eine nachträgliche Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der behördlichen Reaktion auf politisches Engagement in Vietnam gegeben.