Verwaltungsgericht Hannover
v. 12.06.2012, Az.: 6 A 5471/11
Anrechnungsbescheid; Tiermedizin; Widerspruch; Vorverfahren; Ausschluss; Kosten; Kostenentscheidung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.06.2012
- Aktenzeichen
- 6 A 5471/11
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2012, 44434
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 8a VwGOAG ND
- § 65 TAppV
- § 72 VwGO
- § 80 VwVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Gegen die Ablehnung der Erteilung eines Anrechnungsbescheids nach § 65 Abs. 4 TAppV ist in Niedersachsen ein Widerspruch nicht statthaft.
2. Ergeht dennoch auf den nicht statthaften Widerspruch ein Abhilfebescheid, finden
die Kostenregelungen des § 80 VwVfG Anwendung.
3. Zur Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren bei offensichtlich fehlerhaftem Anrechnungsbescheid.
Tatbestand:
Die Klägerin hatte am 13. Oktober 2011 bei dem Verwaltungsgericht Hannover im Verfahren 8 C 4236/11 erfolglos einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Ziel des Rechtsschutzantrags war es, die Beklagte zur vorläufigen Zulassung der Antragstellerin zum Studium der Tiermedizin außerhalb der festgesetzten Kapazität im 5. Fachsemester, hilfsweise einem niedrigeren Semester, zu verpflichten. Zuvor hatte die Klägerin bei der Beklagten beantragt, die von ihr erbrachten Studien- und Prüfungsleistungen aus einem Studium der Veterinärmedizin an der Szent Istvàn Universität Budapest für ein beabsichtigtes Studium der Tiermedizin anzurechnen. Die Beklagte erteilte der Klägerin unter dem 11. Oktober 2011 einen Bescheid, in dem der Klägerin antragsgemäß die nachgewiesenen Prüfungs- und Studienleistungen sowie eine Studienzeit von insgesamt drei Fachsemestern als gleichwertig angerechnet wurden.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21. Oktober 2011 Widerspruch mit der Begründung, ihr müssten nicht drei sondern vier Fachsemester angerechnet werden. Hierzu legte sie einen ihr erteilten Anrechnungsbescheid der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 21. Juli 2011 vor, in welchem der Klägerin aus dem Studium in Ungarn vier Fachsemester angerechnet worden waren.
Die Beklagte gab dem Widerspruch mit Bescheid vom 1. November 2011 statt. Der Widerspruch sei zulässig und begründet. Sie rechne der Klägerin auf das gleichwertige Auslandsstudium unter Berücksichtigung der anerkannten Prüfungsfächer ein weiteres Fachsemester und damit insgesamt vier Fachsemester an.
Am 8. November 2011 stellte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin der Beklagten einen auf der Grundlage eines Gegenstandwerts von 5.000,00 Euro berechneten Betrag in Höhe von 561,09 Euro für die Vertretung der Klägerin im Vorverfahren in Rechnung.
Die Beklagte entschied mit Bescheid vom 14. November 2011, dass die Hinzuziehung einer Bevollmächtigten der Klägerin im Vorverfahren nicht notwendig war und die geltend gemachten Kosten daher nicht erstattungsfähig seien. Zur Begründung vertrat die Beklagte die Auffassung, dass die Anrechnungsvoraussetzungen in § 65 TAppV gesetzlich eindeutig geregelt seien. Bei der fehlenden Berücksichtigung eines weiteren (des vierten) Fachsemesters habe es sich um ein bloßes Versehen des Sachbearbeiters gehandelt. Dies sei vom Standpunkt einer verständigen Person betrachtet klar ersichtlich gewesen, so dass es der Klägerin möglich und zumutbar gewesen wäre, den weitergehenden Anrechnungsanspruch auch ohne die Hinzuziehung einer Bevollmächtigten im Vorverfahren durchzusetzen.
Die Klägerin hat am 22. Dezember 2011 Klage erhoben.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass die Einlegung des Widerspruchs vom 21. Oktober 2011 statthaft gewesen sei. Ein Vorverfahren sei nach § 8a Abs. 3 Nr. 1 Nds. AG VwGO selbst dann nicht entbehrlich, wenn eine Prüfung wegen unentschuldigten Fernbleibens, also bei tatsächlich nicht erbrachten Prüfungsleistungen für nicht bestanden erklärt werde. Dies müsse erst Recht gelten, wenn es um die Anerkennung tatsächlich erbrachter Leistungen gemäß § 65 TAppV gehe. Im Übrigen ändere eine fehlende Statthaftigkeit des Vorverfahrens nichts daran, dass die Beklagte den Widerspruch als zulässig und begründet angesehen und deshalb in der Sache entschieden habe.
Den Anrechnungsbescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2011 habe sie erst erhalten, nachdem ihre Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 7. September und 5. Oktober 2011 mehrfach an die Anrechnung erinnert hatte. Aus diesem Umstand folge, dass ein bloßes Schreibversehen bei der Anrechnung von nur drei Fachsemestern keineswegs eindeutig zu erkennen gewesen sei. Auch habe ihr nicht zugemutet werden können, zu überprüfen bzw. zu erkennen, dass der fehlerhafte Anrechnungsbescheid vom 11. Oktober 2011 in keinem inneren Zusammenhang mit dem von ihr eingeleiteten Verfahren zur außerkapazitären Zulassung im 5. Fachsemester gestanden habe. Aus Sicht der Klägerin habe es sich vielmehr um eine komplexe Angelegenheit gehandelt, für die sie rechtlichen Beistand habe in Anspruch nehmen dürfe. Das Hochschul- und Prüfungsrecht sei eine Spezialmaterie des Verwaltungsrechts, von dessen Inhalt und Verfahrensablauf bei einem Studierenden der Tiermedizin im vierten Fachsemester keine gesteigerten Fachkenntnisse erwartet werden könnten, zumal Entscheidungen auf diesem Rechtsgebiet von erheblicher Bedeutung für die berufliche Zukunft des Betroffenen seien. Die Tatsache, dass der Anrechnungsbescheid der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 21. Juli 2011 bereits vor Einleitung des Widerspruchsverfahrens vorgelegen habe, stehe dem nicht entgegen. Denn die Anrechnung von Studienzeiten und Prüfungen erfolge bei der Universität, bei welcher der Antrag auf Einschreibung oder Zulassung zum Studium gestellt worden sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 14. November 2011 aufzuheben und die Beklagten zu verpflichten,
1. die Entscheidung zu treffen, dass die Beklagte die Kosten der Klägerin in dem mit der Widerspruchsschrift vom 21. Oktober 2011 eingeleiteten Vorverfahren zu tragen hat,
2. die Entscheidung zu treffen, dass die Hinzuziehung einer Bevollmächtigten der Klägerin im Vorverfahren notwendig war,
3. der Klägerin die Kosten des Vorverfahren in Höhe von 561,09 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Die Beklagte wiederholt die Begründung ihres Bescheides vom 14. November 2011.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakte A) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die das Verwaltungsgericht gemäß § 84 Abs. 1 VwGO nach erfolgter Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden kann, ist zulässig.
Soweit die Klägerin die Verpflichtungsklage mit Schriftsatz vom 29. März 2012 um die Verpflichtung der Beklagten, als Folge der mit dem Abhilfebescheid vom 1. November 2011 eingetretenen Beendigung des Widerspruchsverfahrens eine Kostenentscheidung zu treffen, erweitert hat (Klageantrag zu 1.), ist die Klage als Untätigkeitsklage in entsprechender Anwendung des § 75 Satz 1 bis 3 VwGO zulässig. Die Beklagte hatte mit der Abhilfe des Widerspruchs der Klägerin nach § 72 VwGO von Amts wegen darüber zu entscheiden, wer die Kosten des Vorverfahrens trägt (Kostengrundentscheidung). Diese Entscheidung hat sie bisher nicht getroffen, ohne dass ein zureichender Grund für die Verzögerung der Kostentscheidung ersichtlich wäre.
Die mit dem Klageantrag zu 1. erhobene Verpflichtungsklage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Rechtsanspruch auf die Entscheidung der Beklagten, dass die Kosten des mit der Widerspruchsschrift vom 21. Oktober 2011 eingeleiteten Vorverfahrens von der Beklagten als Rechtsträgerin der Hochschule zu tragen sind.
Der Anspruch der Klägerin auf die Kostenentscheidung folgt aus der Verfahrensvorschrift des § 72 VwGO in Verbindung mit der Kostenregelung des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG (i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG). Der Inhalt der nach § 72 VwGO zu treffenden Kostenentscheidung ist an der der Kostenfolge des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auszurichten. Danach hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist, was vorliegend im vollen Umfang der Fall war.
Zwar war der mit dem Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 21. Oktober 2011 erhobene Widerspruch nicht statthaft. Denn gemäß § 8a Abs. 1 und 2 Niedersächsisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung (Nds. AG VwGO) bedarf es vor Erhebung der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage abweichend von § 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO keiner Nachprüfung von Verwaltungsakten in einem Vorverfahren. Dies bedeutet zugleich, dass ein Vorverfahren in diesen Fällen nicht vorgesehen und gegen den Verwaltungsakt allein der Rechtsbehelf der Klage nach § 42 Abs. 1 VwGO gegeben ist. Ein Tatbestand der in § 8a Abs. 3 Nds. AG VwGO landesgesetzlich bestimmten und abschließend geregelten Ausnahmen von der Entbehrlichkeit des Vorverfahrens lag hier nicht vor, denn die Erteilung eines nach § 65 Abs. 4 TAppV beantragten Bescheids der Hochschule über die Anrechnung von Studienzeiten und Prüfungen keinen Verwaltungsakt im Sinne von § 8a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Nds. AG VwGO dar, dem „eine Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung zugrunde liegt“.
Dies steht dem Erlass einer Kostenentscheidung aber nicht entgegen. Die Klägerin geht zutreffend davon aus, dass die Kostenvorschriften des § 80 VwVfG auch Anwendung finden, wenn ein Widerspruch zwar nicht statthaft war, das nicht vorgesehene Widerspruchsverfahren aber dennoch von der Behörde durchgeführt und mit einer Sachentscheidung zugunsten des Betroffenen abgeschlossen worden ist. Das Verwaltungsgericht folgt insoweit der grundlegenden Entscheidung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 1996 - BVerwG 4 C 6.95 - (BVerwGE 101, 64 [67] = NVwZ 1997 S. 272), der für die Anwendung des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auf Abhilfe- und Widerspruchsbescheide allein auf den äußeren Erfolg des Widerspruchs abstellt, auch wenn die (Widerspruchs-) Behörde - kostenrechtlich unerheblich - die Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs übersehen hat.
Unbegründet ist die Klage, soweit die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Notwendigkeit der Hinzuziehung ihrer Bevollmächtigten im Vorverfahren und zur Erstattung der ihr dadurch entstandenen Aufwendungen in Höhe von 561,09 Euro begehrt (Klageanträge zu 2. und 3.). Der Bescheid der Beklagten vom 14. November 2011, mit welchem die Beklagte beides abgelehnt hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden, denn die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist im Rahmen der Behördenentscheidung nach § 80 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 VwVfG anzuerkennen, wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, nicht rechtskundigen Widerspruchsführers für erforderlich gehalten werden durfte. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. vom 26.02.1993 - BVerwG 8 C 68.91 -, Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 34 m.w.N.) ist dies der Fall, wenn es dem Betroffenen nach seinen persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten ist, das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren selbst zu führen; unvernünftig und nicht notwendig wäre es dagegen, wenn eine sachkundige Partei sich eines Bevollmächtigten bediente. Für die Beurteilung der Zumutbarkeit kommt es auf die Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung über eine anwaltliche Vertretung im Vorverfahren an (BVerwG, Urt. vom 22.01.1997 - BVerwG 8 C 39.95 -, JurBüro 1998 S. 34). Gemessen an diesen Grundsätzen war die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes für die Klägerin des vorliegenden Verfahrens nicht notwendig, weil es hier - Unabhängigkeit von der Komplexität des Rechtsgebiets - um die Klärung von Fragen der Rechtmäßigkeit des Anrechnungsbescheids vom 11. Oktober 2011 ging, die auch jede andere Person mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand wie die Klägerin ohne sachkundige Hilfe einer Rechtsanwältin hätte beantworten können.
Die Klägerin konnte schon vor Erhebung des Widerspruchs durch den unmittelbaren Vergleich des Anrechnungsbescheids der Beklagten vom 11. Oktober 2011 mit dem Anrechnungsbescheid der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 21. Juli 2011 erkennen, dass beide Hochschulen dieselben Prüfungen aus dem Studium der Veterinärmedizin in Budapest anerkannt hatten und insoweit eindeutig von einer Gleichwertigkeit des Auslandsstudiums ausgegangen waren. Daraus musste sich für die Klägerin in Anbetracht des klaren Wortlauts des § 65 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit Abs. 2 TAppV aufdrängen, dass die Anrechnung der zwei an der Szent Istvàn Universität Budapest verbrachten Studienjahre mit nur drei Fachsemestern mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit auf einem offenkundigen Fehler beruhen konnte. Hierzu bedurfte es angesichts der Vorbildung der Klägerin aus der Sicht einer verständigen Partei, die bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten (BVerwG, Beschl. vom 03.07.2000 - BVerwG 11 A 1.99 -, NJW 2000 S. 2832), zunächst keiner sachkundigen Hilfe. In dem für die Beurteilung nach § 80 Abs. 2 VwVfG maßgeblichen Zeitpunkt (s. oben) der Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids wäre angesichts der offensichtlichen Diskrepanz in der Anrechnung der ausländischen Studienzeiten zunächst nur eine formlosen Anfrage bei der Beklagten nach dem Grund für die Abweichung unter Hinweis auf den bereits vorliegenden Anrechnungsbescheid der Ludwig-Maximilians-Universität München angezeigt gewesen. Erst nach dem Ergebnis dieser Information hätte sich gezeigt, ob die Gründe für die Abweichung die Beauftragung einer Rechtsanwältin mit einem Rechtsbehelf gegen den Bescheid rechtfertigten, was im Ergebnis nicht der Fall war.
War aber die Zuziehung der Bevollmächtigten der Klägerin im Vorverfahren angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falls ausnahmsweise nicht notwendig, hat die Klägerin gegen die Beklagten auch keinen Anspruch auf Erstattung der Gebühren und Auslagen ihrer Rechtsanwältin.