Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.06.1988, Az.: 21 A 22/88

Voraussetzungen für die Asylgewährung zugunsten eines afghanischen Kameramanns wegen politischer Verfolgung im Heimatland; Glaubhaftmachung der Verfolgung aus politischen Gründen; Drittlandsregelung bezogen auf Pakistan; Objektive Beendigung der Flucht in Durchgangsländern

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.06.1988
Aktenzeichen
21 A 22/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 12890
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1988:0620.21A22.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Schleswig - 14.12.1986 - AZ: 14 A 508/87

Fundstelle

  • DVBl 1989, 268 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Anerkennung als Asylberechtigter.

Prozessführer

des afghanischen Staatsangehörigen ...

Prozessgegner

die Bundesrepublik Deutschland,

der Bundesminister des Innern in Bonn, dieser vertreten durch den Leiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge,

Sonstige Beteiligte

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten,

In der Verwaltungsrechtssache
hat der 21. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein
auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 1988
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Czajka,
die Richter am Oberverwaltungsgericht Groepper und Dr. Petersen sowie
die ehrenamtlichen Richter Gellersen und Humborg
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 14. Kammer - vom 14. Dezember 1987 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe des festgesetzten Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn der Kläger nicht vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1

Der im Jahre 1957 geborene Kläger überschritt am 29. Oktober 1985 nach einem achttägigen Fußmarsch, zu dem er am 22. Oktober 1985 aus Kabul aufgebrochen war, die Grenze nach Pakistan. Dort hielt er sich bis zum 4. November 1985 auf. Von Karatschi reiste er weiter in die Türkei, wo er am 5, November 1985 ankam. Am 5. Dezember 1985 flog er nach Berlin-Schönefeld, von wo aus er sich nach West-Berlin begab. Am 9. Dezember 1985 beantragte er bei der Grenzschutzstelle ... politisches Asyl. Zur Begründung dieses Antrags gab er gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an: Er sei Kameramann beim afghanischen Fernsehen gewesen. Mitarbeiter von ihm hätten Kontakte zu den Mudjahedin gehabt; von diesen habe er Flugblätter erhalten, welche er in Briefkästen und in Häusern verteilt habe. Seine Vorgesetzten hätten von ihm verlangt, Propaganda für die Regierung zu betreiben und an kommunistischen Veranstaltungen teilzunehmen. Als er sich geweigert habe, sei ihm vorgeworfen worden, ein Gegner der Kommunisten zu sein. Am 12. August 1984 sei er nach mehrmaligen Hausdurchsuchungen festgenommen und an einen ihm unbekannten Ort gebracht worden. Von dort sei er in das Dienstgebäude des Geheimdienstes geschafft und später in ein Polizeigefängnis verlegt worden. Überall sei er verhört und danach gefragt worden, welcher Widerstandsgruppe er angehöre. Dabei sei er geschlagen und mit Schlafentzug sowie mit Elektroschocks gefoltert worden. Bei seinen Vernehmungen durch den Geheimdienst sei ihm ein Finger zerquetscht worden. Nach 14 Monaten - am 12. Oktober 1985 - sei er aus Mangel an Beweisen freigelassen worden. Mit Unterstützung der Mudjahedin sei ihm die Flucht nach Pakistan gelungen, wo er sich für die Weiterreise einen gefälschten Paß verschafft habe.

2

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 17. März 1987 den Asylantrag des Klägers ab, weil dieser zwar mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in Afghanistan politisch verfolgt werde, jedoch während seines Aufenthalts in Pakistan vor politischer Verfolgung sicher gewesen sei und auf diese Sicherheit freiwillig verzichtet habe.

3

Daraufhin forderte der Kreis ... den Kläger durch Bescheid vom 30. April 1987 auf, die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin zu verlassen, stellte ihm allerdings zugleich eine Duldung in Aussicht.

4

Gegen diese ihm am 8. Mai 1987 zugestellten Bescheide hat der Kläger am 25. Mai 1987 Klage erhoben.

5

Zur Begründung seiner Klage hat er vorgetragen: Das Bundesamt habe zu Unrecht angenommen, daß er in einem Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher gewesen sei. Er habe sich in Pakistan nicht länger aufgehalten, als es nötig gewesen sei, sich mit Hilfe eines Agenten einen falschen Paß zu verschaffen. Mit diesem Agenten, an den er 5.000 pakistanische Rupien habe zahlen müssen, und mit etwa zehn weiteren Personen - Pakistanern und Iranern - sei er in die Türkei geflogen. Dort habe ihnen der Agent die Passe wieder abgenommen. Vom Flughafen seien sie direkt in ein Hotel gefahren. Der Agent habe ihnen erklärt, sie müßten im Hotelzimmer bleiben, da sie keine Aufenthaltserlaubnis für die Türkei besäßen. Er habe ihnen versprochen, Visa für die DDR zu beschaffen. Von Tag zu Tag habe er den Kläger und die anderen damit vertröstet, daß er die Visa noch nicht bekommen habe. Am 7. Dezember 1985 seien die Visa endlich vorhanden gewesen; der Agent sei mit ihnen daraufhin nach Ost-Berlin geflogen. Erst im Flughafengebäude habe er dem Kläger den Paß zurückgegeben.

6

In Pakistan hätte er keinen wirksamen Schutz gefunden. Auch in der Türkei, wo er sich die ganze Zeit im Hotel habe verstecken müssen, sei er nicht sicher vor politischer Verfolgung gewesen, sondern habe Schwierigkeiten mit den Behörden zu befürchten gehabt.

7

Der Kläger hat beantragt,

die Bescheide des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17. März 1987 und des Kreises ... vom 30. April 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.

8

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Nachdem der Kreis seine Ausreiseaufforderung mit Bescheid vom 7. Dezember 1987 aufgehoben hatte, haben er und der Kläger den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt.

10

Das Verwaltungsgericht hat der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Klage nach Anhörung des Klägers durch Urteil vom 14. Dezember 1987 aus folgenden Gründen stattgegeben: Dem Kläger drohe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in Afghanistan politische Verfolgung. Er sei während seines kurzen Aufenthalts in Pakistan wegen der Gefährdung durch gegen die Flüchtlingskonzentrationen entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze gerichtete Terroraktionen des sowjetischen und afghanischen Geheimdienstes ebensowenig vor politischer Verfolgung sicher gewesen wie in der Türkei, wo er allenfalls kurze Zeit geduldet worden und zudem von seinem Schlepper abhängig gewesen sei. Selbst wenn er dort objektiv sicher gewesen sein sollte, schade ihm der Aufenthalt in Pakistan und in der Türkei nicht, weil es sich dabei um einen kurzfristigen und unvermeidlichen Bestandteil seines Fluchtweges gehandelt habe.

11

Gegen das ihm am 29. Januar 1988 zugestellte Urteil hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten fristgerecht die vom Senat mit Beschluß vom 13. April 1988 zugelassene Berufung eingelegt. Er macht geltend:

12

Angesichts der veränderten politischen Verhältnisse in Afghanistan könne nicht mehr angenommen werden, daß dem Kläger bei einer Rückkehr politische Verfolgung drohe. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr drohen solle, wenn selbst herausragende Persönlichkeiten der Opposition zur Mitarbeit am Neuaufbau des Landes aufgefordert würden. Überdies sei der Kläger sowohl in Pakistan als auch in der Türkei vor politischer Verfolgung sicher gewesen. Kriegseinwirkungen auf die Lager entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze seien asylrechtlich irrelevant; für die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan sei eine materielle Existenzgrundlage gegeben; sie würden registriert, erhielten Verpflegungsrationen und könnten sich innerhalb Pakistans frei bewegen. Fälle von Abschiebungen von Afghanen aus der Türkei seien nicht bekannt; ihre existentielle Mindestsicherung sei durch die Betreuung durch die UNRWA gewährleistet. Der Aufenthalt des Klägers in Pakistan und in der Türkei stelle sich schließlich auch nicht als eine bloße "Berührung" der Territorien objektiv sicherer Drittländer dar. Die Grenze zwischen einer asylrechtlich unschädlichen Berührung und einem den Asylanspruch ausschließenden Aufenthalt müsse an der untersten Grenze dessen gezogen werden, was im Hinblick auf die allgemeinen Verhältnisse im Drittland - vor allem Entfernungen und Verkehrsmöglichkeiten - und den besonderen Umständen der Flucht zur zügigen Fortsetzung der Reise objektiv erforderlich sei. Dabei könnten auch Umstände, die den Flüchtenden objektiv daran hinderten, seine ursprünglichen Vorstellungen vom Fluchtverlauf zu verwirklichen - wie Mangel an finanziellen Mitteln, Fehlen von Ausweispapieren, Nichterlangung von Visa -, die Flucht objektiv beenden. Beim Kläger komme hinzu, daß dieser von seinem endgültigen Fluchtziel überhaupt keine Vorstellung gehabt, sondern dessen Bestimmung und die Organisation der Weiterreise einer Schlepperorganisation überlassen habe. Insofern sei die eigentliche Flucht des Klägers als Mittel, sich der Gefahr politischer Verfolgung in Afghanistan zu entziehen, bereits mit dem Erreichen Pakistans beendet gewesen. Die Aufenthalte in Pakistan und in der Türkei könnten daher nicht als Etappen einer kontinuierlichen, zielgerichteten Fluchtbewegung in Richtung Bundesrepublik Deutschland gewertet werden.

13

Der Bundesbeauftragte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

14

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

15

Die Beklagte stellt im Berufungsverfahren keinen Antrag.

16

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen. Dem Senat haben die Asylakten des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie die Verwaltungsvorgänge des Kreises Rendsburg-Eckernförde als Gegenstand der mündlichen Verhandlung vorgelegen.

Entscheidungsgründe

17

Die Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter.

18

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, in Afghanistan aus politischen Gründen verfolgt worden zu sein. Dies ist weder vom Bundesamt noch vom Bundesbeauftragten ernsthaft in Abrede gestellt worden. Auch der Senat hat - ebenso wie das Verwaltungsgericht - nach der Anhörung des Klägers den Eindruck gewonnen, daß seine Angaben über sein Verfolgungsschicksal auf Tatsachen beruhen. Diese Angaben sind widerspruchsfrei und realistisch. Es liegt auf der Hand, daß das Regime in Kabul äußerst hart reagiert, wenn es den Verdacht hat, daß ein Mitarbeiter des staatlichen Fernsehens, dessen Aufgabe darin besteht, Propaganda für das herrschende System zu treiben, ein Anhänger oder Sympathisant seiner erklärten Gegner ist. Der Kläger hat in der Berufungsverhandlung über Einzelheiten der in der Haft erlittenen Folterungen berichtet, seinen infolge von Mißhandlungen durch den afghanischen Geheimdienst verkrüppelten Finger vorgewiesen und glaubhaft dargestellt, wie es zu dieser Verletzung gekommen ist: Als er bei einer Vernehmung nach Schlägen am Boden gelegen habe, sei ihm eine Person auf die Finger getreten. Für die Glaubwürdigkeit des Klägers spricht auch, daß er nicht den Versuch unternommen hat, die Narben in seinem Gesicht gleichfalls auf Folterungen während der Verhöre zurückzuführen, sondern ohne Zögern erklärt hat, er habe die Verletzungen in seinem Gesicht bei einem Verkehrsunfall erlitten. Glaubhaft ist ferner die Darstellung seines Fluchtweges. Der Kläger hat nicht den kürzesten Weg von Kabul zur Grenze gewählt, weil dieser nach seinen Angaben von den Regierungstruppen kontrolliert wurde, sondern er hat die Grenze nach Pakistan an einem Punkt etwa 320 km südlich von Kabul in einem von den Mudjahedin beherrschten Gebiet überschritten. Nach seinem äußeren Erscheinungsbild, das der Kläger in der mündlichen Verhandlung geboten hat, zweifelt der Senat nicht daran, daß dieser jene Strecke innerhalb einer Woche zu Fuß zurückgelegt hat. Auch die weiteren Ausführungen des Klägers in der Berufungsverhandlung - etwa über seinen Aufenthalt in Peschawar, über seine Ausstattung und Versorgung mit Geldmitteln und über seinen weiteren Fluchtweg - fügen sich bruchlos in seine früheren Angaben ein. Der Senat nimmt es dem Kläger Insbesondere ab, daß es ihm während der kurzen Wartezelt im Flughafengebäude von Karatschi möglich war, sich mit einem Geschäftsfreund seiner Familie zu treffen, der ihn mit Geld versorgte. Ist hiernach davon auszugehen, daß der Kläger die von ihm geschilderten - fraglos politisch motivierten - Verfolgungen tatsächlich erlitten hat, so kann ihm politisches Asyl nur dann verwehrt werden, wenn eine Wiederholung solcher Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr des Klägers in seinen Heimatstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerwGE 70, 169 ff.). Dies ist nicht der Fall.

19

Bei der vom Gericht insoweit geforderten Prognose ist vom Sachstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auszugehen. Dieser ist durch eine erhebliche Unsicherheit in bezug auf die künftige Entwicklung in Afghanistan gekennzeichnet. Zwar trifft es zu, daß die sowjetischen Besatzungstruppen entsprechend dem Genfer Abkommen vom 14. April 1988 (vgl. hierzu AdG 1988, S. 32108 f.) abgezogen werden, und daß Präsident Najibullah die Führer der Opposition zur Mitarbeit in seiner Regierung aufgefordert hat. Bislang haben die Führer der Mudjahedin jedoch keine Bereitschaft gezeigt, auf dieses Angebot einzugehen; sie sind offenbar entschlossen, den bewaffneten Kampf bis zum Sturz des jetzigen Regimes fortzusetzen. Unter diesen Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Sowjets ihre Drohung wahrmachen und unter dem Vorwand, einer fortgesetzten Unterstützung der Mudjahedin durch Pakistan und vom Gebiet dieses Staates ausgehenden Angriffen begegnen zu müssen, den Abzug Ihrer Truppen stoppen oder erheblich verzögern. Bei einer sich dann abzeichnenden längeren Dauer des Bürgerkrieges kann es schnell wieder zu einer Verhärtung der politischen und ideologischen Fronten sowie zu einer erneuten - und wegen der gefährdeten Situation der Regierung möglicherweise härteren - Verfolgung politischer Gegner (und unliebsamer Personen, die dafür gehalten werden) kommen. Hiervon wäre auch der Kläger im Falle einer Rückkehr betroffen.

20

Fehl geht die Erwägung des Bundesbeauftragten, bei Fortdauer der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Verbänden der Widerstandsbewegung sei "neu zu beurteilen, ob eventuelle Maßnahmen gegen Mitglieder oder Unterstützer von Widerstandsbewegungen entsprechend den Grundsätzen, die das Bundesverwaltungsgericht zum Sri-Lanka-Konflikt entwickelt hat, als bürgerkriegsähnliche Eingriffe zu werten wären, denen politischer Verfolgungscharakter nicht zukommt". Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in dem Urteil vom 3. Dezember 1985 (InfAuslR 1986, 85), auf das sich der Bundesbeauftragte offenbar bezieht, mit der Frage befaßt, ob wahllose Gewaltakte von Regierungstruppen gegen die Zivilbevölkerung im Rahmen bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen eine asylrelevante Gruppenverfolgung darstellen. Es hat mit der Verneinung dieser Frage jedoch nicht ausschließen wollen, daß auch während eines Bürgerkrieges eine politisch motivierte Verfolgung einzelner erfolgen kann, welche einen Asylanspruch zu begründen vermag (a.a.O. S. 89). Eine solche individuelle Verfolgung hat der Kläger jedoch bei einer Rückkehr in den Machtbereich der kommunistischen Regierung in Afghanistan zu befürchten.

21

Einer Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter steht auch nicht entgegen, daß dieser nach seiner Flucht aus Afghanistan während seines Aufenthalts in Pakistan oder in der Türkei "vor politischer Verfolgung sicher war" (§ 2 Abs. 1 AsylVfG). Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob Pakistan und die Türkei einem illegal eingereisten afghanischen Flüchtling objektiv "Sicherheit" im Sinne des § 2 AsylVfG, d.h. Schutz vor Auslieferung an den Verfolgerstaat und eine "Lebensgrundlage nach Maßgabe der dort bestehenden Verhältnisse" - nämlich "Zuflucht" in Form von Hilfestellung gegen Obdachlosigkeit, Mittellosigkeit, Hunger und Krankheit - bieten (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1987 - 9 C 285.86 -; Urt. d. Sen. v. 20.11.1987 - 21 OVG A 240/87 -). Denn § 2 Abs. 1 AsylVfG findet hier schon deswegen keine Anwendung, weil der Kläger mit seinem Aufenthalt in Pakistan und in der Türkei seine Flucht noch nicht beendet, sondern diese Staaten lediglich "als Fluchtweg benutzt" hat (BVerwG, Urt. v. 15.12.1987).

22

Wann die Flucht eines politisch Verfolgten in einen anderen Staat als beendet anzusehen ist und ob er ein Drittland lediglich als Fluchtweg benutzt hat, bestimmt sich nicht nach den subjektiven Vorstellungen des Flüchtlings, sondern nach objektiven Maßstäben. Es kommt darauf an, ob nach den gesamten Umständen, Insbesondere nach dem tatsächlichen Verhalten des politisch Verfolgten während des Zwischenaufenthalts und unter Berücksichtigung der Dauer dieses Aufenthalts noch von einer Flucht gesprochen werden kann (BVerwG, Urt. v. 21.06.1988 - 9 C 12.88 -; VGH Mannheim, Urt. v. 09.05.1988 - A 13 S 430/86 -). Hiernach ist es unerheblich, ob der Flüchtling von vornherein die Absicht hatte, in die Bundesrepublik Deutschland zu emigrieren. Zwar kann eine solche Absicht, wenn sie sich in entsprechenden Handlungen manifestiert hat, ein Anzeichen dafür sein, daß die Flucht durch einen Aufenthalt in einem anderen Staat noch nicht beendet worden ist. Sie ist aber keine notwendige Voraussetzung für eine solche Annahme. Das Merkmal einer Flucht besteht zunächst darin, daß sich der Flüchtige dem Zugriff eines Verfolgers entziehen will; daß er sich hierbei konkrete Vorstellungen über das Ende seines Fluchtweges macht, ist hingegen nicht begriffsnotwendig. Deswegen vermag der Senat dem Bundesbeauftragten nicht zuzustimmen, wenn dieser meint, mangels solcher konkreter Vorstellungen sei die Flucht des Klägers mit dem Überschreiten der Grenze nach Pakistan beendet gewesen.

23

Bei der gebotenen objektiven Betrachtungsweise wird eine Flucht durch den Aufenthalt in einen Drittstaat jedenfalls dann nicht beendet, wenn dieser Aufenthalt nicht länger dauert, als nach den gegebenen Umständen notwendig ist, um aus diesem Staat in einen anderen weiterzureisen. Insoweit kann allerdings nicht allein auf die zu überwindenden Entfernungen und die dafür zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel abgestellt werden. Die Weiterreise in ein anderes Land hängt auch von den Möglichkeiten ab, in dieses Land einreisen zu können. Hierbei muß man dem Flüchtling eine angemessene Zeit einräumen, um sich über diese Möglichkeiten zu informieren und die dafür erforderlichen Formalitäten zu erledigen. Dazu gehören namentlich die Beschaffung eines Einreisevisums sowie der benötigten Flug- oder Fahrkarten. Entscheidend ist, daß sich der Flüchtling unverzüglich nach dem Erreichen des Drittstaats um die Weiterreise bemüht. Wer dies unterläßt - sei es, weil ihm die Mittel zur Fortsetzung der Flucht fehlen, sei es, weil er zunächst die weitere Entwicklung abwarten will, sei es auch, weil er unschlüssig ist, was weiter zu unternehmen sei -, gibt damit zu erkennen, daß ihm der Drittstaat nicht nur gewissermaßen als "Umsteigestation" auf seinem Fluchtweg, sondern zumindest für einen gewissen Zeltraum zum Aufenthalt dienen soll; eine solche Unterbrechung der Flucht steht ihrer Beendigung gleich.

24

Daran gemessen, hat der Kläger seine Flucht weder in Pakistan noch in der Türkei unterbrochen, sondern sie kontinuierlich bis in die Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt. Er hat sich zunächst von der Grenzstation nach Peschawar begeben, dem Zentrum der afghanischen Flüchtlingsbewegung, wo er Unterstützung für seine weitere Flucht erwarten konnte. Daß sich der Kläger nicht schon am ersten Tag nach seiner Ankunft in Peschawar auf die Suche nach Wegen und Möglichkeiten für eine Weiterreise begeben hat, kann ihm angesichts der Strapazen seines bisherigen Fluchtweges und der berechtigten Furcht vor den auch auf pakistanischem Gebiet operierenden Agenten des afghanischen Geheimdienstes nicht zum Nachteil gereichen. Jedenfalls ist er nach sehr kurzer Zeit in Kontakt mit dem Vertreter einer Schlepperorganisation getreten, der es ihm ermöglichte, bereits eine Woche nach überschreiten der Grenze nach Pakistan dieses Land in Richtung Türkei wieder zu verlassen. Berücksichtigt man, daß der Schlepper in dieser Zelt einen falschen Paß sowie die Flugkarten beschaffen und mit dem Kläger von Peschawar nach Karatschi reisen mußte, so liegt auf der Hand, daß sich der Kläger nicht länger als zur Organisation der Weiterreise unumgänglich in Pakistan aufgehalten hat.

25

Für den zeitlich längeren Aufenthalt in der Türkei gilt im Ergebnis nichts anderes. Dessen Dauer war offensichtlich durch die Zeit bedingt, welche von der Beantragung bis zur Erteilung des DDR-Visums verging. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die DDR-Botschaft in Ankara zeitweilig einen großen Ansturm von Asylbewerbern zu bewältigen hatte, die die Gelegenheit ausnutzen wollten, über Ost-Berlin in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Auch wenn die DDR-Behörden bei der Erteilung der Visa an diese Reisenden rascher arbeiten mochten, als es ihrer Übung im innerdeutschen Reiseverkehr entspricht, kann angenommen werden, daß sie wegen der großen Zahl der Antragsteller nicht in der Lage waren, die bei ihrer Botschaft in Ankara eingehenden Anträge noch schneller zu bearbeiten. Während der gesamten Wartezeit von einem Monat hielt sich der Kläger in dem Hotel auf, in welchem der Schlepper ihn und seine Mitreisenden untergebracht hatte und das er aus Furcht, von der türkischen Polizei aufgegriffen und zurückgeschickt zu werden, nicht zu verlassen wagte. Das Hotel diente ihm damit gleichsam als Wartesaal, in welchem der Kläger die Zeit bis zur Fortsetzung seiner Reise verbrachte. Die Gesamtumstände dieses Aufenthalts lassen nicht den Schluß zu, daß damit die Flucht des Klägers bereits abgeschlossen war. Dies war vielmehr erst in dem Augenblick der Fall, als der Kläger den Boden der Bundesrepublik Deutschland betrat.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

27

Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

28

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) sind insbesondere im Hinblick auf die neueste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylVfG nicht gegeben.

Dr. Czajka
Die Richter am Oberverwaltungsgericht Groepper und Dr. Petersen sind durch Urlaub verhindert, ihre Unterschriften zu leisten Dr. Czajka