Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.06.2007, Az.: 2 A 362/05

Abstand; Abstandsrecht; Ausnahme; Austauschverhältnis; Außenfläche; Baugenehmigung; Bauwich; Bebauungsplan; Befreiung; Belichtung; Beschattung; Besonnung; Einsicht; Einzelfall; Fenster; Flachdach; Gartenhof; Gartenhofgebäude; Geländeoberfläche; Grenzabstand; Grenzlinie; Nachbar; Nachbarrecht; Rechtsnorm; Rechtsänderung; Satteldach; Straßenbestandsverzeichnis; unbeabsichtigte Härte; unzulässige Rechtsausübung; Verletzung; Vollgeschoss; Vorbelastung; Weg; öffentliche Straße

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
28.06.2007
Aktenzeichen
2 A 362/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 71914
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Kläger sind zu je 1/2 Eigentümer des Grundstücks E. Straße F., Flurstück T., Flur xx in der Gemarkung G.. Der Beigeladene ist Eigentümer des Grundstücks E. Straße U., Flurstück V., Flur xx in der Gemarkung G.. Der Abstand seines Gebäudes zur Grundstücksgrenze beträgt 1,0 m. Das Grundstück der Kläger liegt nördlich desjenigen des Beigeladenen und grenzt mit dem Garten an einen Weg, der die Grundstücke trennt. Dieser drei Meter breite Weg mit der Flurstückbezeichnung W. derselben Flur ist auf einer Länge von 94 m zwischen dem Grundstück E. Straße X. und dem Grundstück E. Straße Y. am 6. Dezember 1983 als Gemeindestraße-Fußweg gewidmet und am 16. April 1984 in das Straßenbestandsverzeichnis der Beklagten eingetragen worden.

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Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplanes G. Nr. Z. Teilplan 1 AA., 1. Änderung vom 22. März 1968 (Im Folgenden: Bebauungsplan). Dieser Bebauungsplan setzt für den streitgegenständlichen Bereich ein reines Wohngebiet, eine Geschossflächenzahl von 0,55 und zwingend ein Vollgeschoss fest, wobei nur Gartenhofhäuser zulässig sind. Das Baugebiet, für das der Bebauungsplan gilt, wird nach Aktenlage, bestätigt durch den vor Ort im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck, überwiegend charakterisiert durch eine reihenhausähnliche Bebauung. Vereinzelte Grundstücke sind auf drei Seiten von Baukörpern umschlossen. Hierzu zählt z.B. das Grundstück der Kläger, nicht aber dasjenige des Beigeladenen, das den Eindruck eines Reihenendhauses vermittelt.

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Am 20. September 2001 beantragte der Beigeladene durch den Architekten Dipl.-Ing. AB. als Entwurfsverfasser im Rahmen der damals noch geltenden Prüfeinschränkungs-Verordnung die Erteilung einer Baugenehmigung für die Aufstockung des Flachdaches seines Wohnhauses mit einem Satteldach. Das - mittlerweile errichtete - Dach hat lediglich an seiner Südseite zwei verstellbare Doppelfenster; an der Nordseite befindet sich eine Öffnung nicht; nach Westen hin befindet sich in der Dachwand ein feststehendes, undurchsichtiges Fenster; die östliche Seite schließt an ein bereits seit Errichtung des Gebäudes vorhandenes Satteldach an. Auf einer Länge von ca. 1,25 m, gemessen von der Hausaußenkante, beträgt der nördliche Grenzabstand des Daches unter Einbeziehung der hälftigen Breite des vor dem Grundstück befindlichen Weges zwischen 2,5 und 3,5 m. Dieser Teil des Daches hat eine geringere Höhe als 3,5 m. Bereits der ursprüngliche, 1979/1980 errichtete, Baukörper hielt an seiner nördlichen Dachseite unter Einbeziehung der hälftigen Wegesbreite lediglich einen Grenzabstand zwischen 2,5 und 3,0 m ein. Eine vergleichbare Grenzabstandssituation besteht für das Grundstück der Kläger gegenüber ihren nördlichen Nachbarn.

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Mit Bescheid vom 13. November 2002 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen antragsgemäß für sein Bauvorhaben eine Baugenehmigung nach § 75 NBauO i.V.m. der Prüfeinschränkungs-Verordnung. Gegen diese Baugenehmigung legten die Kläger am 27. November 2002 Widerspruch ein. Zur Begründung gaben sie im Wesentlichen an, das Bauvorhaben des Beigeladenen verletze Grenzabstandsvorschriften. Der zwischen ihrem und dem Grundstück des Beigeladenen befindliche Weg dürfe nicht in die Grenzabstandsbemessung einbezogen werden. Zudem schließe die Festsetzung im Bebauungsplan als Gartenhofsiedlung die Errichtung eines zweiten Geschosses aus, vielmehr sei eingeschossig zu planen und zu bauen.

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Nach Auflösung der Bezirksregierung Braunschweig - die zunächst für das Widerspruchsverfahren zuständig war - wies die Beklagte diesen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2005 zurück. Zur Begründung gab sie im Wesentlichen an, die Gebäude im Geltungsbereich des Bebauungsplanes seien schon seit Errichtung 1979/1980 auf ca. 1/3 der Gebäudelänge mit einem Satteldach versehen. Der gesetzlich vorgesehene Grenzabstand sei eingehalten. Der zwischen dem Grundstück der Kläger und des Beigeladenen liegende Weg sei gem. § 9 Abs. 1 NBauO zur Hälfte dem Grenzabstand hinzuzurechnen. Bauplanungsrechtliche Ausweisungen stünden der Dachaufstockung nicht entgegen. Eine Einblicknahme in den Gartenhof der Kläger nach Ausführung der Baumaßnahme sei ausgeschlossen, da die erteilte Baugenehmigung nicht das Recht umfasse, in die dem Grundstück der Kläger zugewandte Dachfläche Fenster oder andere Sichtöffnungen einzubauen.

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Hiergegen haben die Kläger am 25. August 2005 Klage erhoben.

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Zu deren Begründung wiederholen und vertiefen sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Zudem sei die bauplanungsrechtliche Festlegung von Gartenhofbauweise funktionslos geworden. Selbst wenn von der Regelung in § 9 Abs. 1 NBauO zugunsten des Beigeladenen Gebrauch gemacht würde, hielte die Baumaßnahme den erforderlichen Grenzabstand nicht ein. Außerdem habe die Beklagte nicht ausreichend beachtet, dass durch die Baumaßnahme die Sichtbeziehungen vom Grundstück der Kläger nach außen beschränkt würden und die Schattenwirkung des Gebäudes des Beigeladenen verstärkt würde.

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Mit Bescheid vom 20. Juni 2007 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen eine Befreiung von der Vorschrift des § 7 NBauO. Das Satteldach dürfe wie beantragt errichtet werden. Soweit der Grenzabstand unterschritten werde, sei dies zulässig. Zur Begründung gab die Beklagte an, der Teil des Daches, der den Grenzabstand nicht einhalte, wirke sich insbesondere für Nachbarn nicht störend aus. Da aus bautechnischen Gründen eine Aussparung dieses Teils nicht möglich sei und damit das gesamte Satteldach nicht realisiert werden könne, stelle die komplette Versagung des Bauvorhabens eine unbeabsichtigte Härte dar.

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Nach einvernehmlicher Einbeziehung des Befreiungsbescheides in das Klageverfahren beantragen die Kläger,

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den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2002, deren Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2005 sowie den Befreiungsbescheid vom 20. Juni 2007 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie meint, ihr Bebauungsplan sei nicht funktionslos geworden. Kennzeichen der Gartenhofbauweise sei deren Abgeschlossenheit. Diese werde hier durch zwei Elemente erreicht. Erstens durch die Anordnung der Gebäude zueinander und zweitens durch eine vielfach vorhandene blickdichte Einfriedung der Grundstücke. In dem Quartier gebe es darüber hinaus Beispiele typischer Gartenhofbauweise wie die Grundstücke E. Straße AC., AD. - AE. und Y. - AF.. Eine Verletzung der Grenzabstandsvorschriften, die allein als nachbarschützend hier verletzt sein könnten, liege nicht vor. Dies folge aus § 12 Abs. 5 NBauO, wonach Gebäudeteile bis zu einer Höhe von 3,5 m einen Grenzabstand nicht einzuhalten hätten. Für den Fall, dass § 12 Abs. 5 NBauO nicht anwendbar sei, habe sie dem Beigeladenen nach § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO eine Befreiung von den Vorschriften der §§ 7 bis 10 NBauO erteilt. Einerseits würde der Grenzabstand nur geringfügig überschritten, andererseits sei zu bedenken, dass bereits der ursprüngliche Baukörper unter Verletzung gegen Grenzabstandsvorschriften errichtet worden sei, würde die Regelung in § 12 Abs. 5 NBauO nicht zur Anwendung gelangen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig.

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Ihre Unzulässigkeit ergibt sich nicht daraus, dass die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung im Rahmen der Verordnung über die Einschränkung von Prüfungen im Baugenehmigungsverfahren (Prüfeinschränkungs-Verordnung - PrüfeVO) vom 6. Juni 1996 (Nds. GVBl. S. 287), geändert durch Verordnung vom 17. Januar 1997 (Nds. GVBl. S. 37) erteilt worden ist. Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 b PrüfeVO ist die Vereinbarkeit der Bauvorlagen mit den Abstandsanforderungen der §§ 7 - 13 NBauO Gegenstand der Prüfung. Da die Grenzabstandsvorschriften drittschützenden Charakter haben, vermag die erteilte Baugenehmigung Rechte der Kläger zu verletzen.

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Die Unzulässigkeit der Klage ergibt sich auch nicht aus dem Grundsatz der unzulässigen Rechtsausübung.

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Nach der von der Kammer geteilten Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (vgl. insbesondere Urteil vom 21.10.1986 - 1 A 180/85 -, die Gemeinde 1987, 346, 351; Beschluss vom 30. März 1999 - 1 M 897/99 -, Nds. Verwaltungsblätter 2000, 10 = BauR 1999, 1163; Urteil der erkennenden Kammer vom 20.08.2003 - 2 A 2098/01 -) kann ein Nachbar wegen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses gehindert sein, einen Grenzabstandsverstoß geltend zu machen. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn er selbst in einer dem angegriffenen Vorhaben vergleichbaren Weise den Bauwich in Anspruch genommen hat und es daher unbillig wäre, dem Bauherrn die Einhaltung geltenden Abstandsrechts abzuverlangen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Nachbar den Bauwich in rechtmäßiger oder rechtswidriger Weise in Anspruch genommen hat. Maßgeblich ist allein, ob/dass sein Bauwerk das nachbarschaftliche Gemeinschafts- und Austauschverhältnis im wesentlichen in gleicher Weise stört, wie dies durch den in Rede stehenden hinzutretenden Bau geschehen soll. Dabei ist eine wertende, nicht aber sozusagen zentimetergenaue Betrachtungsweise angebracht.

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Zwar verstoßen auch die Kläger ihrerseits gegen Grenzabstandsvorschriften. Dies geschieht jedoch nicht im Verhältnis zum Beigeladenen, sondern gegenüber ihren nördlichen Nachbarn. Für das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis zwischen den Klägern und dem Beigeladenen lässt sich aus dieser Verletzung deshalb nichts herleiten.

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Die Klage ist jedoch unbegründet.

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Der Bescheid der Beklagten vom 13. November 2002, ihr dazu ergangener Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2005 und der Befreiungsbescheid vom 20. Juni 2007 verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

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Insbesondere können sich die Kläger nicht auf eine Verletzung von Grenzabstandsvorschriften berufen.

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Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 NBauO müssen Gebäude auf allen auf ihren Außenflächen oberhalb der Geländeoberfläche gelegenen Punkte von den Grenzen des Baugrundstücks Abstand halten. Nach Satz 2 der Bestimmung ist der Abstand zur nächsten Lotrechten über der Grenzlinie zu messen. Er richtet sich gemäß Satz 3 jeweils nach der Höhe des Punktes über der Geländeoberfläche (H). Gemäß § 7 Abs. 3 NBauO beträgt der Abstand 1 h, mindestens jedoch 3,0 m. Der Abstand des Gebäudes des Beigeladenen zur Grenze des Baugrundstücks beträgt lediglich 1,0 m. Aus der Anwendung von § 9 Abs. 1 S. 1 NBauO folgt eine Vergrößerung des Grenzabstandes auf 2,5 m. Diese Vorschrift hat drittschützenden Charakter, so dass die Kläger ihre Anwendung rügen können (Große-Suchsdorf/Liendorf/Schmaltz/Wiechert, Nds. Bauordnung, 8. Aufl., § 9, Rn. 3). Danach dürfen benachbarte Verkehrsflächen öffentlicher Straßen für die Bemessung des Grenzabstandes bis zu ihrer Mittellinie dem Baugrundstück zugerechnet werden. Bei dem zwischen dem Grundstück des Beigeladenen und demjenigen der Kläger liegenden Weg handelt es sich um die Verkehrsfläche einer öffentlichen Straße im Sinne von § 9 Abs. 1 NBauO. Öffentliche Straßen in diesem Sinne sind auch Wege, die gem. § 6 Abs. 1 Nds. Straßengesetz dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind. Eine derartige Widmung des Fußweges ist am 6. Dezember 1983 erfolgt, weshalb er am 16. April 1984 in das Straßenbestandsverzeichnis der Beklagten aufgenommen worden ist. Da der Weg insgesamt 3 m breit ist, und sich der Grenzabstand um die Hälfte dieser Breite vergrößert, beträgt er insgesamt 2,5 m. Es liegt damit klar auf der Hand, dass schon das ursprüngliche Flachdachgebäude des Beigeladenen den Mindestbauwich von 3,0 m nicht einhielt. Zwangsläufig gilt dies auch für das streitbefangene Bauvorhaben Satteldach, das erst bei einer Dachhöhe von 3,5 m den erforderlichen Grenzabstand von 3,5 m (entspricht 1 H) einhält.

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Dies ist jedoch rechtsunerheblich, wenn die Ausnahmevorschrift des § 12 Abs. 5 NBauO zur Anwendung gelangt. Danach brauchen in Baugebieten, in denen nach dem Bebauungsplan nur Gebäude mit einem fremder Sicht entzogener Gartenhof zulässig sind, Gebäude, soweit sie nicht höher als 3,5 m sind, Abstand nach den §§ 7 - 10 nicht zu halten. Da der Gebäudeteil, der die Grenzabstandsvorschriften des § 7 verletzt, unterhalb einer Höhe von 3,5 m liegt, könnte der Beigeladene insoweit von der Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften kraft Gesetzes befreit sein.

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Nach dem Wortlaut der Vorschrift spricht einiges dafür, dass sie zur Anwendung gelangt, wenn nach dem Bebauungsplan nur Gebäude mit Gartenhof zulässig sind und das streitige Gebäude im Geltungsbereich dieses Bebauungsplanes liegt. Folgt man dieser Auslegung, käme es darauf an, ob der Bebauungsplan G. Nr. Z. Teilplan 1 AA., 1. Änderung vom 22. März 1968 rechtswirksam ist. Wäre er es nicht, könnte sich der Beigeladene nicht auf die Ausnahmevorschrift berufen.

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Die zu § 12 Abs. 5 NBauO erfolgte Kommentierung scheint demgegenüber davon auszugehen, dass das streitbefangene Grundstück konkret ein Gartenhofgebäude sein muss (vgl. Große-Suchsdorf u.a., a.a.O, § 12 Rn. 51; Barth/Mühler, Abstandsvorschriften nach der Niedersächsischen Bauordnung, 2. Aufl., § 12 Rn.62). Dies ist für das Gebäude des Beigeladenen zu verneinen, so dass er sich nach dieser Ansicht nicht auf § 12 Abs. 5 NBauO berufen könnte.

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Die Kammer lässt offen, welcher Auslegung des § 12 Abs. 5 NBauO sie folgt. Selbst wenn der Beigeladene diese Vorschrift für sein Bauvorhaben nicht in Anspruch nehmen könnte, sei es weil der Bebauungsplan funktionslos und damit unwirksam geworden ist (so die vorläufige Einschätzung der Rechtslage durch den Berichterstatter in seiner Hinweisverfügung vom 14. Februar 2006), sei es, weil sein Gebäude konkret ein Gartenhofhaus nicht ist, bliebe die Klage erfolglos. Zwar hielte das Bauvorhaben des Beigeladenen in diesem Fall den gesetzlichen Grenzabstand nicht ein; die Beklagte hat dem Beigeladenen mit Bescheid vom 20. Juni 2007 jedoch rechtmäßig eine Befreiung von den Abstandsvorschriften erteilt.

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Gemäß § 86 Abs. 1 Nr. 1 NBauO kann von den Vorschriften dieses Gesetzes auf ausdrücklichen Antrag Befreiung erteilt werden, wenn die Einhaltung der Vorschriften im Einzelfall zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Eine derartige Befreiung kann auch von nachbarschützenden Abstandsvorschriften erteilt werden. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier vor.

29

Die Anwendung dieser Vorschrift scheitert entgegen der Ansicht der Kläger nicht daran, dass der Beigeladene nicht von Anbeginn seines Bauantrages an eine derartige Befreiung beantragt und die Beklagte die Befreiung quasi vorsorglich für den Fall ausgesprochen hat, dass § 12 Abs. 5 NBauO nicht zur Anwendung gelangt. Weder der Bauherr noch die Baubehörde sind von Rechts wegen gehindert, auf § 86 Abs. 1 NBauO abzuheben, wenn sich im Laufe des (gerichtlichen) Verfahrens herausstellt, dass gesetzliche Grenzabstandsvorschriften nicht eingehalten werden, das Bauvorhaben aber gleichwohl genehmigungsfähig ist. Jedenfalls liegt eine Verletzung von Nachbarrechten nicht vor, wenn das Bauvorhaben auf der Grundlage von § 86 NBauO rechtmäßig errichtet werden darf. Dies ist hier der Fall.

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Der Beigeladene hat einen Befreiungsantrag im Sinne von § 86 Abs. 1 NBauO ausdrücklich gestellt. Dies ergibt sich aus seinen von der zuständigen Sachbearbeiterin der Beklagten bestätigten Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung.

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Eine nicht beabsichtigte Härte im Sinne dieser Vorschrift kann u. a. durch eine Rechtsänderung eintreten. So kann von der Einhaltung der Abstandsvorschriften befreit werden, wenn ein Flachdachgebäude ein geneigtes Dach erhalten soll, das nach altem Recht zulässig gewesen wäre (vgl. Große-Suchsdorf u.a., a.a.O., § 86 Rn. 11, m.w.N.). Das “alte“ Recht wird hier durch den Bebauungsplan G. Nr. Z. Teilplan 1 AA., 1. Änderung vom 22. März 1968 gesetzt, wenn man davon ausgeht, dass es für die Anwendung von § 12 Abs. 5 NBauO auf einen rechtswirksamen Bebauungsplan ankommt, der nur Gartenhofbauweise für zulässig erachtet. Da das Bauvorhaben des Beigeladenen andere bauplanungsrechtliche Vorgaben einhält, insbesondere durch es nicht mehr als ein Vollgeschoss entsteht, wäre es unter Geltung des Bebauungsplanes zulässig gewesen, weil es bis zu einer Höhe von 3,5 m Abstand nicht halten musste. Sollte die Festsetzung der Gartenhofbauweise funktionslos und damit unwirksam geworden sein, hätte sich die Rechtslage im beschriebenen Sinne zu Lasten des Beigeladenen geändert. Denn der Bebauungsplan stellt eine Satzung und damit eine Rechtsnorm dar (§ 10 Abs. 1 BauGB). Wird er unwirksam, ändert sich die Rechtslage.

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Eine nicht beabsichtigte Härte läge jedoch auch vor, wenn es für die Anwendung des § 12 Abs. 5 NBauO nicht auf die bauplanungsrechtliche Festsetzung, sondern auf das konkret zu betrachtende Gebäude ankäme. Denn obgleich das Gebäude des Beigeladenen ein Gartenhofgebäude tatsächlich nicht ist, gingen und gehen alle Beteiligten davon aus, dass es sich um ein im Geltungsbereich des Bebauungsplanes nur als Gebäude mit Gartenhof zulässiges handelt. Die “alte“ Rechtslage bestimmt sich in diesem Fall nach jahrzehntelang unbestrittener tatsächlicher Übung und Rechtsüberzeugung, die erst durch die genannte gerichtliche Hinweisverfügung ins Wanken geraten ist.

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Der Befreiungsbescheid der Beklagten vom 20. Juni 2007 trägt auch den Belangen der Kläger hinreichend Rechnung.

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Da die Kläger als Nachbarn durch die Befreiung von den Grenzabstandsvorschriften beeinträchtigt werden, muss zwischen ihren nachbarlichen Interessen und der zugunsten des Beigeladenen als Bauherrn sprechenden Härte abgewogen werden. Bei dieser Abwägung fällt die Beeinträchtigung der Rechte der Kläger nicht entscheidungserheblich ins Gewicht.

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Zum einen ist zu berücksichtigen, dass das Gebäude des Beigeladenen wie dasjenige der Kläger bereits in seiner ursprünglichen Bauausführung die erforderlichen Grenzabstände - die Festsetzung als Gartenhofbauweise hinweggedacht - nicht vollständig einhält. Eine gewisse Vorbelastung der Grenzabstandssituation zu Lasten der Kläger bestand somit seit Errichtung der Gebäude. Zum zweiten ist erheblich, dass der Teil des Bauvorhabens, der zusätzlich Grenzabstände missachtet, im Verhältnis zur gesamten, die erforderlichen Abstände einhaltenden Baumaßnahme deutlich untergeordnet ist. Ab einer Höhe von 3,5 m hält das Satteldach, wie beschrieben, die gesetzlichen Grenzabstände ein und ist damit bauordnungsrechtlich für die Kläger nicht zu beanstanden. Die von ihnen im Wesentlichen gerügte Beschattungswirkung des Daches, von der sich die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen Eindruck verschafft hat, könnten sie nicht wirksam rügen, wenn der Beigeladene eine Dachkonstruktion gewählt hätte, die es auf einer Tiefe von etwa 1,25 m bei dem ursprünglichen Flachdach belassen hätte, um daran anschließend ein Satteldach aufzusetzen. Die Beschattungswirkung wäre in diesem Fall dieselbe, der Beigeladene würde jedoch zu einer technisch unsinnigen Dachkonstruktion gezwungen. Nachbarrechte der Kläger erscheinen in Anbetracht dessen nicht schutzwürdig (ähnlich: Große-Suchsdorf u.a., a.a.O. § 86 Rn. 15). Schließlich ist drittens zu bedenken, dass die die Kläger am meisten störende Beeinträchtigung durch Einsichtnahme auf ihr Grundstück dadurch ausgeschlossen ist, dass in der ihrem Grundstück zugeneigten Dachfläche keinerlei Fenster oder Öffnungen zulässig sind, die eine derartige Einsichtnahme ermöglichen. Ob die Interessen der Kläger zudem wenig schutzwürdig sind, weil sie ihrerseits im Verhältnis zu ihren nördlichen Nachbarn ohne die Anwendung von § 12 Abs. 5 NBauO Grenzabstände nicht einhalten und für den Fall einer Dachaufstockung ihren Nachbarn gegenüber die gleichen Rechte wie der Beigeladene ihnen gegenüber in Anspruch nehmen könnten, kann offen bleiben. Die Interessen des Beigeladenen als Bauherrn an der Durchführung der Baumaßnahme überwiegen diejenigen der Kläger an der Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften auch ohne diesen Gesichtspunkt deutlich.

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Schließlich verstößt das Bauvorhaben des Beigeladenen - unterstellt der Bebauungsplan ist noch wirksam - auch nicht gegen bauplanungsrechtliche Bestimmungen nachbarschützender Natur. Es hält sich vielmehr im Rahmen der durch den Bebauungsplan vorgegebenen Bebauungsmöglichkeiten. Insbesondere ist danach ein Vollgeschoss zulässig, wie es geplant und gebaut ist, und es ist dafür Sorge getragen, dass das Bauvorhaben nicht zu einer Erweiterung der Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück der Kläger führt. Schließlich ist auch das aus dem Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO abzuleitende Recht des Nachbarn auf ausreichende Belichtung und Besonnung seines Grundstücks nicht verletzt. Eine solche Verletzung ist in aller Regel, und so auch hier, zu verneinen, wenn Grenzabstandsvorschriften eingehalten werden oder die Voraussetzungen für eine Befreiung davon vorliegen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Die Kosten des Beigeladenen sind nicht für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil er einen Antrag nicht gestellt und sich somit einem eigenen Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.