Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 17.09.2009, Az.: 2 B 216/09

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
17.09.2009
Aktenzeichen
2 B 216/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 43833
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2009:0917.2B216.09.0A

In der Verwaltungsrechtssache

...

hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 2. Kammer - am 17. September 2009 durch die Einzelrichterin beschlossen:

Tenor:

  1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (2 A 215/09) gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 1. April 2009 verfügte Abschiebungsanordnung nach Griechenland wird angeordnet.

  2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vom Antragsteller in der Hauptsache erhobenen Klage (2 A 215/09) gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 1. April 2009 gemäß § 34a Abs. 1 i.V.m. § 27a AsylVfG verfügte Anordnung der Abschiebung nach Griechenland als dem für die Behandlung des Asylantrags des Antragstellers nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II-Verordnung) vom 18. Februar 2003 (ABl. EU Nr. L 50 S. 1) zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union ist zulässig und begründet.

2

Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes steht die Bestimmung des § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Danach darf die Abschiebung im Falle einer Abweisung des Asylantrags als unzulässig nach § 26a oder § 27a AsylVfG und einer Anordnung der Abschiebung in einen sicheren Drittstaat oder den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Der Antragsteller, für dessen Asylverfahren nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-Verordnung Griechenland zuständig ist, das gemäß Art. 16a Abs. 2 GG als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften zugleich sicherer Drittstaat ist, kann vorläufigen Rechtsschutz damit grundsätzlich nicht beanspruchen. Allerdings ist derzeit als offen anzusehen, in welchen Fällen aus verfassungsrechtlichen Gründen dennoch einem vorläufigen Rechtsschutzantrag zu entsprechen ist und die Bundesrepublik Deutschland dem Asylsuchenden letztlich Schutz zu gewähren hat.

3

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Ausnahmefälle aus Gründen verfassungskonformer Auslegung der Drittstaatenregelung und der sie flankierenden Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG anzuerkennen, wenn Umstände vorliegen, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung dieses Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. Über das gesetzliche Verbot in § 34a Abs. 2 AsylVfG dürfen sich die Verwaltungsgerichte danach nur dann hinwegsetzen, wenn dem Ausländer im Abschiebungszielstaat die Todessstrafe droht, wenn für ihn die konkrete Gefahr besteht, dort in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zurückweisung oder Zurückverbringung Opfer eines Verbrechens zu werden, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaates steht, wenn sich die für die Qualifizierung als "sicher" maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht, wenn der Drittstaat voraussichtlich selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung ( Art. 3 EMRK ) greifen wird oder wenn offen zu Tage tritt, dass der Drittstaat sich von seinen Schutzverpflichtungen lösen und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigern wird, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird. An die Darlegung einer solchen Ausnahmesituation sind strenge Anforderungen zu stellen (BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 = NVwZ 1996, 700 [BVerfG 14.05.1996 - 2 BvR 2315/93]).

4

Ob unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hinsichtlich einer Abschiebung nach Griechenland mit Blick auf die dortigen Verhältnisse vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden kann, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (vgl. verneinend: OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 31.8.2009 - 9 B 1198/09.A -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.11.2008 - A 2 S 2867/08 -, InfAuslR 2009, 128 [VGH Baden-Württemberg 17.11.2008 - A 2 S 2867/08]; VG Berlin, Beschl. v. 28.5.2009 - 33 L 113.09 A -, juris; VG Münster, Beschl. v. 4.3.2009 - 9 L 77/09.A - und v. 22.8.2008 - 2 L 445/08.A -, juris; VG Saarland, Beschl. v. 6.1.2009 - 2 L 1825/08 -, juris; VG Düsseldorf, Beschl. v. 24.10.2008 - 16 L 1654/08.A -, juris; bejahend: VG Düsseldorf, Beschl. v. 6.11.2008 - 13 L 1645/08.A -, juris; VG Gießen, Beschl. v. 25.4.2008 - 2 L 201/08.GI.A -, InfAuslR 2008, 327 und v. 22.4.2009 - 1 L 775/09.GI.A -, AuAS 2009, 129). Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09) einer Ausländerbehörde die Vollziehung einer Abschiebung nach Griechenland für einen Asylsuchenden vorläufig untersagt, der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (a.a.O.) über seinen vorläufigen Rechtsschutzantrag eingelegt hat. Zur Begründung hat es ausgeführt:

"Die Verfassungsbeschwerde gibt Anlass zur Untersuchung, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfGE 94, 49 <99 f.>) bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde lassen sich in der Kürze der für die Entscheidung zur Verfügung stehenden Zeit nicht abschließend beurteilen. Sie sind unter Berücksichtigung des umfassenden Vortrags des Antragstellers zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland vor den Fachgerichten und in der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein offensichtlich zu verneinen. Allerdings sind sie angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden sind (BVerfGE 94, 49 <88 f.>), die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst erfolgt ist (vgl. BVerfGE 94, 49 <101>) und die Entscheidung nicht durch eine Rechtsverordnung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden kann, auch nicht offensichtlich zu bejahen.

Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. So wäre bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt, sollte, wie von ihm, gestützt auf ernst zu nehmende Quellen, befürchtet, ihm in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst vor."

5

In seiner Pressemitteilung vom 9. September 2009 (Nr. 103/2009, abgerufen auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts im Internet unter "http://www.bundesverfassungsgericht.de/presse.html") führt das Bundesverfassungsgericht zu der Entscheidung vom Vortag aus, die Verfassungsbeschwerde des betroffenen Asylsuchenden gebe Anlass zur Untersuchung, ob die in seinem Urteil vom 14. Mai 1996 (a.a.O.) zu Art. 16a Abs. 2 GG entwickelten Vorgaben zu den verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmen vom Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung von Asylantragstellern in für die Behandlung des Asylbegehrens zuständige Drittstatten zu präzisieren seien, und zur Klärung, ob Fallkonstellationen denkbar seien, in denen die Abschiebung eines Asylantragstellers in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im vorläufigen Rechtsschutz ausgesetzt werden dürfe, wie dies europarechtlich nach der Dublin II-Verordnung möglich sei. Dabei könne auch die Frage erheblich werden, welche Auswirkungen der europarechtliche Grundsatz der Solidarität, der im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch für eine gemeinsame Asylpolitik Geltung beanspruche, bei einer erheblichen Überlastung des Asylsystems eines Mitgliedstaates auf die Rechte des einzelnen Asylantragstellers und auf die Auslegung des Grundgesetzes habe.

6

Vor diesem Hintergrund ist derzeit als offen anzusehen, ob die vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 14. Mai 1996 (a.a.O.) entwickelten Ausnahmen vom Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes abschließend sind. In gleicher Weise sind die Erfolgsaussichten der vom Antragsteller in der Hauptsache erhobenen Klage als offen zu betrachten. Bei offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache ist im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens unabhängige Interessenabwägung durchzuführen (vgl. etwa BVerwG, Beschl. vom 13.06.2007 - 6 VR 2/07 -, juris, m.w.N.). Diese ergibt bereits unter Berücksichtigung des vom Bundesverfassungsgericht angeführten Gesichtspunkts, dass Asylsuchende nach ernst zu nehmenden Quellen in Griechenland mangels staatlicher Registrierung möglicherweise von Obdachlosigkeit bedroht sind (vgl. dazu auch: Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Stuttgart vom 14.7.2009, S. 2; Österreichisches Rotes Kreuz & Caritas Österreich, Bericht "The Situation of Persons returned by Austria to Greece under the Dublin Regulation - Report on a joint Fact-Finding Mission to Greece" vom 17.8.2009, S. 9 f.) und die Erreichbarkeit des Antragstellers im Hauptsacheverfahren damit nicht gewährleistet wäre, ein Überwiegen der Interessen des Antragstellers. Hinzu kommt die Erkrankung des Antragstellers an Epilepsie.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG.

Karger