Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 15.11.2013, Az.: 32 Ss 135/13

Bundesrechtlich gebotene Einschränkung der landesrechtlichen Indemnität in funktionaler Hinsicht auf im Landtag und seinen Gremien getätigtes Verhalten

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.11.2013
Aktenzeichen
32 Ss 135/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 57401
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:1115.32SS135.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Lüneburg - 02.05.2013

Amtlicher Leitsatz

1. Die Normen des Landesverfassungsrechts vermögen die Regelung des § 36 StGB weder einzuengen noch auszudehnen, soweit es um die strafrechtlichen Folgen der Indemnität geht. Der Bundesgesetzgeber hat von seiner Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG mit dem Erlass von § 36 StGB abschließend Gebrauch gemacht, sodass nach Art. 31 GG - Bundesrecht bricht Landesrecht - § 36 StGB die landesverfassungsrechtlichen Indemnitätsnormen derogieren würde.

2. Der Schutzbereich der Norm des Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung ist trotz der weiten Formulierung vor dem Hintergrund von Art. 31 und Art. 20 GG bundesrechtskonform dahingehend auszulegen, dass eine Beschränkung der landesverfassungsrechtlichen Indemnität auf das Abstimmungsverhalten und Äußerungen im Landtag und seinen Gremien erfolgen muss.

Tenor:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Lüneburg vom 2. Mai 2013 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lüneburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht - Strafrichter - in Lüneburg hat den Angeklagten mit Urteil vom 02.05.2013 von dem Vorwurf der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten freigesprochen, weil ein persönlicher Strafausschließungsgrund vorliege. Hiergegen richtet sich die Sprungrevision der Staatsanwaltschaft.

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zur Person ist der 52 Jahre alte Angeklagte diplomierter Verwaltungsbetriebswirt und Abgeordneter der Partei "D. L." im T. Landtag. Der Angeklagte ist geschieden hat vier volljährige Kinder. Er verdient monatlich ca. 4.800 € netto, Unterhaltsverpflichtungen bestehen nicht. Strafrechtlich ist er bisher nicht in Erscheinung getreten.

2. Mit Beschluss vom 10.10.2012 stimmte der Ausschuss für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des T. Landtages auf Antrag der Staatsanwaltschaft Lüneburg der Durchführung eines Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten als Abgeordneten des T. Landtages zu und hob damit dessen Immunität auf.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts wurde im Jahr 2010 auf einer frei zugänglichen Internetseite ("www.castor2010.org") schriftlich und bildlich dazu aufgefordert, die Schienenstrecke im W., die für den Castor-Transport im November 2010 benötigt wurde, durch Entfernen von Schottersteinen aus dem Gleisbett in ihrer Standfestigkeit so zu beeinträchtigen, dass die Strecke unbefahrbar wird. Diese Aktion wurde als "Schottern" bezeichnet. Ziel sollte es sein, den Castor-Transport aufzuhalten und zu stoppen.

Auf der Internetseite hieß es u. a. wie folgt:

"(...) Auf einmal macht es Klick und es geht los. Der Widerstand gegen Atommülltransporte ins W. ist so ein Kristallisationspunkt: hier wird Energiepolitik verhandelt, der Streit um ein anderes, besseres Leben ausgetragen. Hier seid Ihr alle gefragft (...)

Gemeinsam mit Euch, zusammen mit Hunderten, Tausenden von Menschen, wollen wir in der Aktion Castor Schottern! Steine aus dem Gleisbett räumen, wenn der nächste Transport mit Castoren ins W. rollt. Damit die guten Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie gesellschaftlich wirksam werden, müssen wir zuweilen in mühevoller Handarbeiter intervenieren (...)

Wir denken, es ist an der Zeit, die eingefahrenen Wege massenhafter Blockaden noch einen Schritt weiter zu gehen. Dafür wünschen wir uns viele mutige und entschlossene Mitstreiter/Innen. Wenn der Castor rollt, wird es konkret. Dann haben wir Gelegenheit, unsere Interessen selber in die Hand zu nehmen: Dann sagen wir nicht mehr: Ich will nicht, dass der Transport fährt. Dann sorgen wir dafür, dass er nicht rollen kann.

Unsere Aktion: Schottern.

Mit Hunderten, Tausenden von Menschen, die aus unterschiedlichsten politischem und sozialem Alltag kommen, werden wir am Transporttag auf die Schienenstrecke gehen. Wir sind entschlossen, massenhaft den Schotter aus dem Gleisbett zu entfernen, also die Gleise zu unterhöhlen und sie damit für den Atommüllzug unbefahrbar zu machen. Wir wählen für die Aktion einen Schienenabschnitt, an dem an diesem Tag kein Zugverkehr außer dem Castortransport stattfindet (...)

Ziel unserer Aktion ist es, die Schiene unbrauchbar zu machen, und nicht, die Polizei anzugreifen. Unser wichtigster Schutz ist die massenhafte Beteiligung, unsere Vielfalt und Entschlossenheit: Während Hunderte oder Tausende die Schottersteine entfernen, werden andere durch den Einsatz körperschützender Materialien die Schotternden schützen. Wir bleiben so lange auf der Schiene, bis diese unbefahrbar ist (...)

Alle können sich beteiligen!

Damit unsere Aktion gelingt, wollen wir viele werden. In einer offensiven öffentlichen Kampagne wollen wir erreichen, dass die Legitimität dieser Aktion verständlich wird. Die Aktion soll für viele Menschen vorstellbar werden als Weiterentwicklung ihres bisherigen Protestes und von vielen Menschen öffentlich unterstützt und mitgetragen werden. Wir wollen was bewegen, auch in den Köpfen der Menschen.

Was können alle tun?

Ihr macht Euch die Idee von "Castor Schottern" zu eigen. Mit Eurem (Grupen)-Namen tragt Ihr die Absichtserklärung der Kampagne mit. Hier könnt ihr unterzeichnen (Erklärung unterzeichnen (...)"

Über einen Link konnte man sich mit seinem Namen in eine Liste eintragen. Diese Eintragungen in der Liste waren ebenfalls frei zugänglich und für jedermann einsehbar.

Nach den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils lautet die Aufforderung, sich einzutragen, wie folgt:

"Willst auch Du mitmachen und das vorher öffentlich ankündigen?

Gib bitte an, was in die Unterschriftenliste aufgenommen werden soll: Deinen (Gruppen)Namen und den Ort beziehungsweise die Institution oder eine Berufsbezeichnung beziehungsweise eine Funktion. Wichtig ist, dass alle Felder ausgefüllt sind.

Um Dich verifizieren zu können, wäre es gut, wenn Du Deine Emailaderesse angibst."

Am 21.10.2010 hatten sich bereits 1.600 Unterzeichner(innen) in die Liste eingetragen, darunter wie durch einen Ausdruck der Seite vom 22.10.2010 belegt, auch der Angeklagte mit der Bezeichnung "F. K. (MdL D. L. T."). Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils tat er dies, um den Aufruf zu unterstützen.

Nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils hat der Angeklagte bestritten, sich auf der Liste bewusst eingetragen oder diese "unterzeichnet" zu haben. Er habe lediglich nachträglich den "Schotteraufruf unterstützt".

Das Amtsgericht hat seine Überzeugung, dass sich der Angeklagte auf der Unterstützerliste bewusst eingetragen und diese somit unterzeichnet hat, u. a. auf eine gemeinsame Erklärung der Abgeordneten der Partei "D. L.", die auch von dem Angeklagten mitgetragen worden war, die nach ihrem Wortlaut ("K. hatte vorigen Herbst einen Aufruf namens "Castor? Schottern!" unterzeichnet. Darin wurde dazu ermutigt, Steine aus dem Gleisbett zu entfernen, um den Zug mit den Castor-Behältern aufzuhalten.") keinen Zweifel daran lasse, dass auch der Angeklagte die Castor-Schottern-Kampagne unterstützt habe, und auf Eintragungen auf der Homepage des Angeklagten, aus denen ebenfalls eindeutig hervorgehe, dass er die Castor-Schottern-Kampagne unterstützt habe.

Nach Auffassung des Amtsgerichts habe der Angeklagte aufgrund des festgestellten Sachverhaltes in objektiver und subjektiver Hinsicht den Straftatbestand des § 111 StGB - öffentliche Aufforderung zu Straftaten - erfüllt. An einer Verurteilung des Angeklagten sah sich das Amtsgericht gleichwohl gehindert, weil zu seinen Gunsten der persönliche Strafausschließungsgrund der Indemnität aus Art. 55 Abs. 1 der Thüringischen Verfassung eingreife. Die Eintragung des Angeklagten in die Unterstützungsliste der Castor-Schottern-Kampagne stelle zweifelsohne eine Äußerung im Sinne von Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung dar, welche angesichts des Fehlens von Anhaltspunkten dafür, dass der Angeklagte ausschließlich als Privatperson auftreten wollte, auch in Ausübung des Mandates erfolgt seien. Dies folge insbesondere auch daraus, dass der Angeklagte seine Eintragung auf der Unterstützungsliste mit dem Zusatz "MdL D. L. T." versehen und damit klargestellt habe, dass er als Abgeordneter des T. Landtages handele.

3. Gegen dieses Urteil richtet sich die Sprungrevision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, das Amtsgericht sei zu Unrecht vom Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes ausgegangen. Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung sei bereits nicht anwendbar, weil diese Bestimmung neben § 36 StGB als bundesrechtliche Indemnitätsvorschrift nicht anwendbar sei, sondern nach Art. 31 GG derogiert werde. Nach § 36 StGB scheide aber ein persönlicher Strafausschließungsgrund aus, weil hiernach eine Indemnität auch von Abgeordneten der Gesetzgebungsorgane eines Landes nur für ihr Abstimmungsverhalten und für Äußerungen vorgesehen ist, die sie in der Körperschaft, der sie angehören, oder in einem ihrer Ausschüsse getan haben, was hier nicht der Fall sei.

Aber auch bei Anwendung von Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung ergebe sich kein persönlicher Strafausschließungsgrund, denn auch nach dieser Vorschrift sei Voraussetzung, dass der Abgeordnete in Ausübung seines Mandates gehandelt habe, was nach den Feststellungen des Amtsgerichtes vorliegend nicht der Fall sei.

4. Die Generalstaatsanwaltschaft hält die Revision der Staatsanwaltschaft für zulässig und mit der erhobenen Sachrüge auch für begründet. Ergänzend zur Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft weist die Generalstaatsanwaltschaft darauf hin, dass das Amtsgericht seine Annahme, die verfahrensgegenständliche Äußerung des Angeklagten sei in Ausübung dessen Mandates erfolgt, rechtsfehlerhaft begründet habe. Einen Zweifelssatz, wonach nicht als rein private Äußerung einzuordnende Aussagen stets als mandatsbezogen anzusehen wären, kenne weder die Thüringische Verfassung noch die Rechtsprechung im Übrigen. Das Amtsgericht überdehne mit seiner Auslegung den Anwendungsbereich der Indemnitätsregelung von Art. 55 der Thüringischen Verfassung.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Urteil des Amtsgerichts Lüneburg vom 02.05.2013 - 14 Cs 343/12 - unter Aufrechterhaltung der Feststellungen aufzuheben, auszusprechen, dass der Angeklagte der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten schuldig ist und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung über den Rechtsfolgenausspruch und auch über die Kosten der Revision an eine andere Abteilung des Amtsgerichts (Lüneburg) zurückzuverweisen.

II.

Die nach § 335 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insgesamt.

Die im Antrag der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft zum Ausdruck gekommene Beschränkung des Rechtsmittelangriffes dahin, das Urteil nur im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, erweist sich als unzulässig, weil das Revisionsgericht aus Rechtsgründen gehindert ist, in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO auf Grundlage der getroffenen Feststellungen des freisprechenden Urteiles den bestreitenden Angeklagten im Schuldspruch zu verurteilen (unten III. 3. b)).

Das angefochtene Urteil stand hiernach insgesamt zur Überprüfung.

Das freisprechende Urteil konnte keinen Bestand haben, denn das Amtsgericht ist unzutreffend davon ausgegangen, dass zugunsten des Angeklagten ein persönlicher Strafausschließungsgrund eingreift.

1. Die verfassungsrechtlich in Art. 46 Abs. 1 GG geregelte Indemnität betrifft die Frage der materiell-rechtlichen Verantwortlichkeit der Abgeordneten. Seine einfachgesetzliche Ausprägung findet die Indemnität in § 36 StGB. Die Vorschriften des Landesverfassungsrechts über die Indemnität der Abgeordneten der Landesparlamente sind in vielerlei Hinsicht nicht deckungsgleich mit der Regelung des § 36 StGB (vgl. hierzu Häger in LK-StGB 12. Aufl., § 36 Rdnr. 13), wobei das Landesverfassungsrecht teilweise einen weiteren Anwendungsbereich der Indemnität vorsieht als er in § 36 StGB geregelt ist. In einigen Landesverfassungen wird die Indemnität auf Äußerungen erstreckt, die der Abgeordnete "in Ausübung seines Mandats" abgegeben hat, so auch die vom Amtsgericht herangezogene Indemnitätsvorschrift aus Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung.

Welche Konsequenzen aus diesen Abweichungen zu ziehen sind, ist umstritten, namentlich ob § 36 StGB als abschließende Regelung der strafrechtlichen Komponente der Indemnität so zu verstehen ist, dass seine Regelung den Indemnitätsvorschriften der Landesverfassungen vorgeht.

a) Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung soll dem Bundesgesetzgeber zur Regelung der Indemnität der Abgeordneten der Landesparlamente bereits die Gesetzgebungskompetenz fehlen, weil es sich bei der Regelung der Indemnität um Verfassungsorganisationsrecht handele, für das allein die Länder die Regelungskompetenz besäßen (vgl. Schröder, Der Staat 1982, 25, 42 ff.; Zeitschrift für Parlamentsfragen 1981, 442 f.; im Ergebnis auch Wolfrum DÖV 1982, 674 ff.). Hiernach würde § 36 StGB nicht für die Abgeordneten der Landesparlamente gelten. Eine differenzierende Auffassung meint, es müsse den Ländern möglich sein, Regelungen zu treffen, die von § 36 StGB abweichen. § 36 StGB sei allenfalls in der Lage, Mindeststandards der Indemnität zu definieren, die lediglich dann zur Anwendung kämen, wenn die landesverfassungsrechtliche Regelung enger sei, ansonsten komme die großzügigere landesrechtliche Vorschrift zur Anwendung (vgl. Joecks in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 36 Rdnr. 32).

b) Nach weiteren Auffassungen soll bei der Frage, ob § 36 StGB oder eine landesverfassungsrechtliche Indemnitätsvorschrift zur Anwendung kommt, darauf abzustellen sein, ob der Abgeordnete die Tat innerhalb seines Landes begehe oder außerhalb desselben, wonach im ersten Fall die landesverfassungsrechtliche Indemnitätsnorm zur Anwendung kommen soll, im letzteren Fall hingegen § 36 StGB (vgl. Tröndle in LK-StGB, 10. Aufl. Rdnr. 3 vor § 36 StGB).

c) Der Senat neigt indes mit der wohl überwiegenden Meinung dazu, dass die Normen des Landesverfassungsrechts die Regelung des § 36 StGB weder einzuengen noch auszudehnen vermögen, soweit es um die strafrechtlichen Folgen der Indemnität geht (vgl. hierzu Häger in LK-StGB, 12. Aufl., § 36 Rdnr. 19 m. w. N.). Der Bundesgesetzgeber hat von seiner Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG mit dem Erlass von § 36 StGB abschließend Gebrauch gemacht, sodass nach Art. 31 GG - Bundesrecht bricht Landesrecht - § 36 StGB die landesverfassungsrechtlichen Indemnitätsnormen derogieren würde. Dass der Bundesgesetzgeber mit § 36 StGB eine abschließende, auch für die Mitglieder der Landesparlamente geltende, nicht durch Landesrecht ergänzbare Regelung für das Gebiet des Strafrechtes treffen wollte, ergibt sich zweifelsfrei aus den Gesetzgebungsmaterialien. Nach dem zweiten Bericht des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform (BTDrs. V/4095, S. 17) sollte das Ausmaß der Indemnität durch Bundesrecht einheitlich geregt werden. Der vom Bundesrat gewünschte Vorbehalt zugunsten weitergehender landesrechtlicher Regelungen wurde vom Sonderausschuss ausdrücklich abgelehnt. Nach dem Willen des damaligen Gesetzgebers sollte die Indemnitätsregelung des § 36 StGB damit abschließend sein. Für eine landesrechtliche Erweiterung über den in § 36 StGB des 2. StrRG gezogenen Rahmen hinaus bestehe kein verfassungspolitisches Bedürfnis (aaO.). Folgt man dieser Auffassung, so würde sich die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten allein nach § 36 StGB richten, allenfalls könnte Art. 55 Thüringer Verfassung in den Grenzen von § 36 StGB ausgelegt werden.

2. Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht zu entscheiden, denn weder bei Anwendung des § 36 StGB (unten a)) noch bei Anwendung der landesverfassungsrechtlichen Indemnitätsvorschrift des Art. 55 Abs. 1 Thüringische Verfassung (unten b)) greift ein persönlicher Strafausschließungsgrund für den Angeklagten ein.

a) Nach § 36 StGB dürfen Mitglieder des Gesetzgebungsorganes eines Landes zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die sie in der Körperschaft oder in einem ihrer Ausschüsse getan haben, außerhalb der Körperschaft zur Verantwortung gezogen werden. Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte die fraglichen Äußerungen nicht in der Körperschaft - also dem Landtag - oder einem seiner Ausschüsse getätigt, sodass bereits der funktionale Schutzbereich des § 36 StGB nicht eröffnet ist.

b) Nach Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung dürfen Abgeordnete zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die sie im Landtag, in einem seiner Ausschüsse oder sonst in Ausübung ihres Mandats getan haben, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Landtags zur Verantwortung gezogen werden. Auch diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

aa) Zwar ist der Angeklagte als Mitglied des T. Landtages vom personalen Schutzbereich der Norm erfasst. Die Handlung des Angeklagten wird auch vom sachlichen Schutzbereich des § 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung erfasst, denn der Begriff der Äußerung umfasst grundsätzlich Tatsachenbehauptungen, Bewertungen, Willensbekundungen und Aufforderungen und schließt mündliche und schriftliche Äußerungen ein (vgl. hierzu Häger-LK-StGB aaO. Rdnr. 41; VG Weimar, Urteil vom 10.03.2010 - 3 K 1334/09 = ThürVBl. 2010, 263 ff.).

bb) Jedoch ist auch hier der funktionale Schutzbereich der Norm nicht eröffnet, denn der Angeklagte hat seine Äußerung weder im Landesparlament oder einem seiner Ausschüsse getan, noch hat er diese im Rahmen der Ausübung seines Mandates getätigt.

Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung stellt die Mitglieder des Parlaments von der rechtlichen Verantwortlichkeit für ihr Abstimmungsverhalten und für alle Äußerungen in Ausübung des Mandates frei (vgl. hierzu und zum Folgenden VG Weimar aaO.). Die Redefreiheit eines Abgeordneten wird als notwendige Bedingung parlamentarischer Repräsentation angesehen, die die Freiheit des Mandats sichern und davor schützen soll, dass Abgeordnete durch Eingriffe der anderen Gewalt in ihrer parlamentarischen Arbeit behindert werden. Die Abgeordneten sollen sich zur Vorbereitung der von ihnen zu treffenden Entscheidungen in freier, der Kontrolle jeder außerparlamentarischen Stelle entzogenen Diskussion ihre Meinung bilden können (vgl. LG Hamburg AfP 2007, 384 f. [LG Hamburg 30.03.2007 - 324 O 460/06]).

Soweit sich der Schutz der Abgeordneten auch auf solche Äußerungen erstreckt, die "sonst in Ausübung des Mandates" getätigt werden, geht diese Formulierung zwar über diejenige in § 36 StGB hinaus. Jedoch dient auch Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung - ebenso wie § 36 StGB - allein dem öffentlichen Interesse und dem Schutz der parlamentarischen Verhandlung und Willensbildung. Der Schutzbereich der Norm ist deshalb trotz der weiten Formulierung des Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung vor dem Hintergrund von Art. 31 und Art. 20 GG bundesrechtskonform dahingehend auszulegen, dass eine Beschränkung der landesverfassungsrechtlichen Indemnität auf das Abstimmungsverhalten und Äußerungen im Landtag und seinen Gremien erfolgen muss. Der Schutzbereich von Art. 55 Thüringische Verfassung ist damit auf die öffentliche Debatte im Plenum, in den Ausschüssen und in den anderen Vorbereitungsgremien beschränkt und erfasst nicht auch Äußerungen außerhalb des Landtages, etwa in Wahlversammlungen und anderen politischen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit oder in der Partei oder anderen nichtparlamentarischen Gremien (vgl. OLG Stuttgart NJW-RR 2004, 619 ff. [OLG Stuttgart 22.07.2003 - 4 W 32/03]; StGH Bremen, MDR 1968, 24 f.). Das Wesen der Indemnität kann nur Äußerungen im eigentlichen Parlamentsbetrieb betreffen, nicht aber Äußerungen im allgemeinpolitischen Bereich, für die sich ein Abgeordneter wie jeder andere Bürger auch verantworten muss.

Hieraus folgt, dass Äußerungen eines Abgeordnetes außerhalb des Landtages und seiner Ausschüsse im öffentlichen Raum - zu dem auch das Internet zählt -, nicht dem funktionalen Schutzbereich des Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung unterfallen.

Selbst wenn aber der Begriff der Ausübung des Mandats auch Äußerungen erfassen würde, die sich in den durch das demokratische Repräsentationsprinzip gebotenen wechselseitigen Kommunikationsprozess zwischen den Bürgern und ihren parlamentarischen Repräsentanten einordnen lassen (so Linck in Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaates Thüringen, 2. Aufl., § 55 Rdnr. 13), würde dies nichts ändern. Die Unterzeichnung einer Unterstützerliste für den Aufruf zur Teilnahme an der Castor-Schottern-Kampagne ist ersichtlich nicht Teil der Kommunikation zwischen den Bürgern und ihren parlamentarischen Repräsentanten, sondern eine - mindestens - bundesweit an eine an eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten gerichtete einseitige Erklärung. Dass der Angeklagte sich dabei auf seine Abgeordneteneigenschaft bezogen hat ändert daran ebenfalls nichts, denn dieser Zusatz weist allein auf die Eigenschaft des Angeklagten als Landtagsabgeordneter hin, kann aber als einseitige Erklärung nicht den Schutzbereich der Indemnität eröffnen.

3. Ein Schuldspruch des Angeklagten nach § 354 StPO wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) durch den Senat im Revisionsverfahren kam allerdings nicht in Betracht.

a) Zwar tragen die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen die Verurteilung wegen einer Straftat nach § 111 StGB. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 14.03.2013 - 32 Ss 125/12 (NJW-Spezial 2013, 281) - ausgesprochen, dass die Schwelle von der Meinungsäußerung oder der bloßen Befürwortung von Straftaten zur strafrechtlich relevanten Aufforderung überschritten ist, wenn der Aufruf für einen unvoreingenommenen Dritten durch seine detaillierte Beschreibung der angesonnenen Handlung als ernst gemeinter Appell zu verstehen ist, an einem bestimmten Tattag und an einem bereits festgelegten Tatort die in dem Aufruf näher bezeichnete strafbare Handlung zu begehen. Dem Appellcharakter der Unterzeichnung steht es nicht entgegen, dass es sich bei einer Erklärung im Internet um eine fremde, im Ursprung nicht vom Unterzeichner stammende Erklärung handelt. Eine Aufforderung nach § 111 StGB ist bereits dann anzunehmen, wenn der Täter unmissverständlich erkennen lässt, dass er sich die fremde Äußerung zu eigen macht. An dieser Rechtsauffassung hält der Senat auch angesichts vereinzelt an der Entscheidung geäußerter Kritik (vgl. Braun, juris PR-ITR 14/2013 Anm. 5) fest.

Diese Voraussetzungen sind nach dem vom Amtsgericht festgestellten Sachverhalt erfüllt.

b) Ein Schuldspruch des Angeklagten im Revisionsverfahren konnte gleichwohl nicht erfolgen. Die Befugnis, im Rahmen einer entsprechenden Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO auf eine Abänderung des Schuldspruchs zu erkennen, ist dem Revisionsgericht grundsätzlich nur dort eröffnet, wo es gilt, eine bereits erfolgte, jedoch wegen unzutreffender Anwendung des Strafgesetzes auf den festgestellten Sachverhalt aufgehobenen Verurteilung durch einen zutreffend begründeten Urteilsspruch zu ersetzen. Hierfür ist indes kein Raum, wo die Revision der Staatsanwaltschaft - wie hier - sich erfolgreich gegen den Freispruch eines Angeklagten wendet (vgl. OLG Koblenz NStZ-RR 1998, 364 f. [OLG Koblenz 10.08.1998 - 2 Ss 206/98]). Feststellungen, deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen der freigesprochene Angeklagte mangels Beschwer vom Revisionsgericht nicht nachprüfen lassen kann, dürfen grundsätzlich nicht als Grundlage einer möglichen Verurteilung bestehen bleiben (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 48). Dies gilt jedenfalls, wenn der Angeklagte - wie hier - nicht geständig war (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 204).