Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 09.03.2011, Az.: 1 Ws 102/11

Der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter hat Anspruch auf Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers für Kommunikation mit Verteidiger außerhalb der Hauptverhandlung; Anspruch eines der deutschen Sprache nicht mächtigen Beschuldigten auf Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers für die Kommunikation mit seinem Verteidiger außerhalb der Hauptverhandlung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
09.03.2011
Aktenzeichen
1 Ws 102/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 14458
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2011:0309.1WS102.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 21.02.2011 - AZ: 31 KLs 12/10

Fundstellen

  • NStZ 2011, 718
  • StRR 2011, 166 (amtl. Leitsatz)
  • StraFo 2011, 186-187

Amtlicher Leitsatz

1. Nach § 187 Abs. 1 GVG hat ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter Anspruch auf Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers durch das Gericht sowohl für die mündliche als auch die schriftliche Kommunikation mit seinem Verteidiger außerhalb der Hauptverhandlung.

2. Ein Antrag hierauf kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass sich der Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers und Übersetzers für das gesamte Strafverfahren bereits aus Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK und Art. 3 Abs. 3 GG ergebe und für die Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten eine vorherige Grundentscheidung im Sinne eines Feststellungsbeschlusses nicht erforderlich sei.

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Dem Angeklagten wird für außerhalb der Hauptverhandlung zu führende Gespräche und den Schriftverkehr mit seinen Verteidigern ein Dolmetscher bzw. Übersetzer für Deutsch-Französisch bestellt, soweit die Gespräche und der Schriftverkehr zur Vorbereitung der Hauptverhandlung oder damit in Zusammenhang stehender eigener Verfahrenshandlungen erforderlich sind.

3. Zur Dolmetscherin und Übersetzerin wird Frau E. aus H. bestellt.

4. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe

1

I. Gegen den Angeklagten, der französischer Staatsangehöriger und der deutschen Sprache nicht mächtig ist, läuft derzeit ein Strafverfahren vor der Jugendkammer 1 des Landgerichts Hannover wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2011 beantragte seine Verteidigerin, ihrem Mandanten kostenlos einen Dolmetscher für Gespräche und für Schriftstücke "zur Verfügung zu stellen", weil sie in der Lage sein müsse, Schriftstücke, die ihr Mandant ihr schicke, übersetzen zu lassen. Diesen Antrag lehnte die Jugendkammer mit Beschluss vom 21. Februar 2011 ab mit der Begründung, dass sich aus § 187 Abs. 1 GVG kein Anspruch auf eine allgemeine Bestellung eines Dolmetschers oder Übersetzers ergebe. der Angeklagte habe zwar nach Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK und Art. 3 Abs. 3 GG Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers und Übersetzers für das gesamte Strafverfahren und damit auch für vorbereitende Gespräche mit seinen Verteidigern. für die Erstattung der insoweit erforderlichen Kosten sei aber nicht eine vorherige Grundentscheidung im Sinne eines Feststellungsbeschlusses erforderlich.

2

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seinem als "sofortige Beschwerde" bezeichneten Rechtsmittel vom 23. Februar 2011. Er macht geltend, dass ohne die Übersetzung seiner in französischer Sprache abgefassten Schreiben zu den Tatvorwürfen an seine Verteidiger die Verteidigung nicht ausreichend gewährleistet und der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt sei. Mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 9. März 2011 hat der Angeklagte seinen Antrag weiter konkretisiert und die zu bestellende Dolmetscherin bezeichnet.

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II. Die Beschwerde ist zulässig (§ 304 StPO) und hat auch in der Sache Erfolg.

4

Dem Antrag des Angeklagten ist gemäß § 187 Abs. 1 GVG zu entsprechen. Danach zieht das Gericht für einen Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist.

5

Mit dieser Formulierung wird zum Ausdruck gebracht, dass nicht an die prozessuale Situation der stattfindenden Hauptverhandlung angeknüpft wird, sondern unabhängig davon vielmehr an eine Erforderlichkeit für die Wahrnehmung prozessualer Rechte, deren Vorbereitung und Ausübung naturgemäß sowohl im Rahmen der Hauptverhandlung als auch außerhalb derselben stattfinden kann (vgl. Hans. OLG Hamburg Rpfleger 2005, 108 [OLG Hamburg 27.10.2004 - 2 BJs 85/01] mit Anm. Grau. Kissel/Mayer, GVG 4. Aufl. § 187 Rn. 1. LRWickern, GVG 26. Aufl. § 187 Rn. 2). denn mit der Einführung des § 187 GVG durch das am 1. September 2004 in Kraft getretene Opferrechtsreformgesetz (BGBl 2004 Teil I, Seite 1354 ff) hat der Gesetzgeber über den daneben unverändert bestehen gebliebenen § 185 Satz 1 GVG hinausgehend die Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers für der deutschen Sprache nicht mächtige Beschuldigte gesetzlich geregelt.

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Zwar ist anerkannt, dass sich der Anspruch eines Beschuldigten auf unentgeltliche Dolmetschertätigkeit bei zur Verfahrensvorbereitung erforderlichen Verteidigergesprächen bereits unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 3 lit. e MRK ergibt und dass eine effektive Verteidigung nicht durch ein zwingend vor der Inanspruchnahme eines Dolmetschers zu durchlaufendes Bewilligungsverfahren behindert werden darf (vgl. BVerfG StV 2004, 28 [BVerfG 27.08.2003 - 2 BvR 2032/01]. BGHSt 46, 178. OLG Karlsruhe StraFo 2009, 527. OLG München StraFo 2008, 88. OLG Brandenburg StraFo 2005, 415). Dies bedeutet aber nicht, dass ein vom Beschuldigten bzw. Angeklagten gestellter Antrag auf Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers mangels Erforderlichkeit einer solchen Beiordnung abzulehnen ist. Der Antragsteller kann insoweit nicht auf ein mangelndes Feststellungsinteresse verwiesen werden. Denn eine effektive Verteidigung darf auch nicht dadurch behindert werden, dass sich der Beschuldigte im Hinblick auf das Risiko einer nachträglichen Ablehnung der Kostenerstattung durch das Gericht von der Inanspruchnahme eines Dolmetschers abzusehen genötigt sieht (vgl. dazu LRWickern aaO. Rn. 15. Mock, RVGReport 2006, 334).

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Zudem ist der in § 187 Abs. 1 GVG gesetzlich geregelte Anspruch des Beschuldigten auf unentgeltliche Dolmetscherleistung außerhalb der Hauptverhandlung der Form nach als Anspruch auf gerichtsseitige Bestellung eines Dolmetschers und nicht als bloßer Anspruch auf Erstattung von für Dolmetscherleistungen aufgewandte eigene Kosten ausgestaltet (vgl. Hans. OLG Hamburg aaO. Kissel/Mayer, aaO. Rn. 5. LRWickern aaO. Rn. 14. KKDiemer, GVG 6. Aufl. § 187 Rn. 3. MeyerGoßner, GVG 53. Aufl. § 187 Rn. 1). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, wonach "das Gericht" für den Beschuldigten einen Dolmetscher oder Übersetzer heranzieht. Eine Heranziehung durch das Gericht erfolgt aber regelmäßig durch Bestellung bzw. Beiordnung. typisches Beispiel hierfür ist die Heranziehung eines Rechtsanwalts durch Bestellung zum Pflichtverteidiger. Diese Auslegung wird auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. in der Begründung des Entwurfs zum Opferrechtsreformgesetz heißt es nämlich: "Die Regelung in § 187 Abs. 1 GVG trägt den Vorgaben der EMRK Rechnung und sieht eine unentgeltliche Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers vor" (BTDrucks. 15/1976, S. 19).

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Der Umfang der Beiordnung ist dabei nicht auf Gespräche mit dem Verteidiger beschränkt. Wenn der Angeklagte - wie hier - zur Vorbereitung der Hauptverhandlung mit seinen Verteidigern (auch) schriftlich kommuniziert, so ist auch die Übersetzung dieses Schriftverkehrs zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich. eine über die Begrenzung auf Verteidigungszwecke hinausgehende Beschränkung des Umfangs der Beiordnung kommt nämlich schon von Verfassungs wegen nicht in Betracht, weil auch ein der Gerichtssprache mächtiger Beschuldigter in der Kommunikation mit seinem Verteidiger keinen solchen Beschränkungen unterliegt (vgl. BVerfG aaO.).

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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO entsprechend.