Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 27.06.2001, Az.: 3 A 233/99
Durchführung einer Notwendigkeitsprüfung als Voraussetzung der Erteilung von Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten; Bestehen einer Pflicht zur Überprüfung des Vorhandenseins ausreichender Hilfe im Bereich eines anderen Sozialhilfeträgers
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 27.06.2001
- Aktenzeichen
- 3 A 233/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 30884
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2001:0627.3A233.99.0A
Rechtsgrundlagen
- § 72 Abs. 2 BSHG
- § 107 BSHG
- § 111 BSHG
Fundstellen
- NDV-RD 2002, 14-15
- ZfF 2003, 252-254
- info also 2002, 136
Verfahrensgegenstand
Erstattung von Sozialhilfe
In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 3. Kammer -
ohne mündliche Verhandlung
am 27. Juni 2001
durch
die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Zschachlitz,
die Richterin am Verwaltungsgericht Drinhaus,
die Richterin am Verwaltungsgericht Schlingmann-Wendenburg und
die ehrenamtlichen Richterin L. sowie
den ehren amtlichen Richter L.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt vom Beklagten gemäß § 107 BSHG die Erstattung von Sozialhilfeleistungen in Höhe von 6.398,62 DM, die sie für den Sozialhilfeempfänger G. in der Zeit vom 13.05.1996 bis zum 28.01.1997 aufgewendet hat.
G. stellte bei der Klägerin am 13.05.1996 einen Antrag auf Bewilligung von Sozialhilfe, in dem er angab, er habe bis zum 10.05.1996 in W. in der E.-straße 4 gewohnt und erhalte Arbeitslosengeld in Höhe von 273,60 DM wöchentlich. Er gab außerdem an, in Berlin ohne festen Wohnsitz zu sein. In einem Vermerk der Klägerin vom 13.05.1996 ist handschriftlich festgehalten, Herr G. sei "letzte Woche aus Braunschweig nach Berlin gekommen" und wolle in Berlin bleiben. Die Klägerin brachte G. in der Einrichtung "Haus F." unter, die in der Folgezeit für die Unterbringung und sozialarbeiterische Betreuung des G. 38,50 DM täglich berechnete. Die Klägerin übernahm in der Folgezeit die Kosten dieser Unterbringung und G. musste ab 20.06.1996 aus den Leistungen des Arbeitsamtes 300,00 DM monatlich als "Kostenbeitrag" bezahlen.
Neben diesen Leistungen erhielt G. in der Zeit vom 13.05.1996 bis 27.06.1996 auch Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 785,70 DM und im Januar 1997 eine Überbrückungsbeihilfe in Höhe von 401,81 DM, da im Januar 1997 keine Leistungen des Arbeitsamtes erfolgten. Für den Monat Januar 1997 ist ausweislich der vorliegenden Vorgänge der Klägerin keine Zahlung an das Haus F. erfolgt. Aus den Leistungen nach AFG wurden nach der Abrechnung der Klägerin 1.458,79 DM vereinnahmt.
Mit Schreiben vom 23.09.1996 bat die Klägerin den Beklagten um Anerkennung der Kostenerstattungspflicht, der zunächst bezweifelte, dass G. in Berlin einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte. Nach näheren Ausführungen dazu erkannte der Beklagte die Pflicht zur Kostenerstattung mit Schreiben vom 10.04.1997 grundsätzlich an, bezweifelte aber, dass die Unterkunftskosten in Höhe von 35,80 DM kalendertäglich aus sozialhilferechtlicher Sicht angemessen seien. Auch sei nicht aufgeklärt worden, wann und in welcher Zeit sich G. vor seinem Umzug nach Berlin in Braunschweig und nicht in W. aufgehalten habe.
Nach weiterem Schriftwechsel hat die Klägerin am 25.03.1999 Leistungsklage erhoben, zu deren Begründung sie ausführt, G. habe in Berlin einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet und seinen gewöhnlichen Aufenthalt vorher in W. gehabt. Die geltend gemachten Kosten der Unterkunft seien notwendige Kosten der Sozialhilfe, da die persönliche Situation des Herrn G. und die Wohnungssituation in Berlin keine andere Handhabung erlaubt habe.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin als Sozialhilfekosten im Hilfefall B. G. für die Zeit vom 13.05.1996 bis zum 28.01.1997 6.398,62 DM zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, dass nicht geklärt sei, ob G. direkt aus W. nach Berlin verzogen sei und dass im Übrigen die Klägerin mit der Unterbringung des G. in der Unterkunft unter Anrechnung eines Kostenbeitrages von lediglich 300,00 DM monatlich aus den Leistungen des Arbeitsamtes gegen die zu Gunsten des Beklagten bestehende Interessenwahrungspflicht verstoßen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge von Klägerin und Beklagtem Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch ist nach §§ 107, 111 Abs. 1 und 2 BSHG nicht begründet.
Gemäß § 107 BSHG ist, wenn eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht, der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf.
Herr G. hat in Berlin einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts(Urt. v. 18.03.1999 - BVerwG 5 C 11.98 -), in der entschieden ist, dass Spätaussiedler auch in einem Übergangswohnheim einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können und ein "Verziehen" im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG nicht erfordert, dass eine "Wohnung" begründet wird, hat G. während seines sechsmonatigen Aufenthaltes in der Unterbringung einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet.
Der Beklagte ist auch "Wegzugträger" i.S.d. § 107 BSHG. G. hat in seinem Sozialhilfeantrag angegeben, dass er bis zum 10.05.1996 in der E.-straße 4 in W. gewohnt hat. Aus dem Verwaltungsvorgang des Beklagten ergibt sich, dass auch die Stadt W. als damaliger Sozialhilfeträger keine anderweitigen Anhaltspunkte hat. Braunschweig ist lediglich in dem handschriftlichen Vermerk des Sachbearbeiters, G. sei "letzte Woche aus Braunschweig nach Berlin" gekommen, erwähnt. Aus dem Gesamtverlauf der Akte ergibt sich zur Überzeugung der Kammer, dass es sich bei dem Vermerk entweder um eine Verwechslung der Städte Braunschweig und W. handelt oder um die Angabe des G., er sei mit dem Zug vom Bahnhof Braunschweig aus nach Berlin gefahren. Vom Bahnhof W. gibt es keine direkte Zugverbindung nach Berlin.
Jedoch ist der Beklagte gemäß § 111 BSHG nur zur Kostenerstattung verpflichtet, soweit die Hilfe diesem Gesetz entspricht. Die Klägerin, die für die Voraussetzungen des Erstattungsanspruches darlegungspflichtig ist, hat nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen können, dass sie in der geltend gemachter Höhe die Hilfe nach den Regelungen des BSHG gewährt hat.
Das Gericht kann offen lassen, ob die Argumentation des Beklagten, die Klägerin habe G. auf die bestehende Wohnung in W. verweisen müssen, angesichts des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Freizügigkeit im Rahmen der allgemeinen Hilfe zum Lebensunterhalt zutrifft.
Jedenfalls begegnet die Handhabung der Klägerin, von G. in Bezug auf die Unterkunftskosten lediglich einen Kostenbeitrag in Höhe von 300,00 DM entsprechend der Arbeitsanweisung vom 28.02.1994 zu verlangen, rechtlichen Bedenken. G. bezog im hier streitgegenständlichen Zeitraum ausweislich der Auskunft des Arbeitsamtes Schwerin vom 22.02.2000 an das Gericht bis zum 22.11.1996 Arbeitslosengeld in Höhe von 273,60 DM wöchentlich und bis zum 31.12.1996 Arbeitslosenhilfe in Höhe von 241,20 DM wöchentlich. Der monatliche Betrag des Arbeitslosengeldes (273,60 DM x 4,33) betrug 1.184,69 DM und der monatliche Betrag der Arbeitslosenhilfe (241,20 DM x 4,33) 1.044,40 DM. Neben dem maßgeblichen Regelsatz, der sich aus der Akte der Klägerin mit 526,00 DM monatlich ergibt, hätte G. nach den Grundsätzen der Berechnung der Hilfe zum Lebensunterhalt also 658,69 DM für die Zeit des Bezuges von Arbeitslosengeld bzw. 518,40 DM für die Zeit des Bezuges von Arbeitslosenhilfe als Kosten der Unterkunft aufwenden können und müssen, also 358,69 DM bzw. 218,40 DM mehr als als Kostenbeitrag (300,00 DM) verlangt worden ist.
Die Klägerin hat Herrn G. allerdings offenbar nach den Regeln der Hilfe in besonderen Lebenslagen, der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG behandelt. Nach der von der Klägerin mit Schreiben vom 29.03.2001 zur Gerichtsakte gereichten Arbeitsanweisung des Bezirksamts Mitte vom 28.02.1994 können Hilfeempfänger ohne ausreichende Unterkunft als zu dem Personenkreis des § 72 BSHG gehörend angesehen werden und es wird von ihnen "ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs bei der Unterbringung in gewerblichen Unterkünften" nur eine begrenzte Eigenbeteiligung - für das Mehrbettzimmer 300,00 DM monatlich - verlangt. Nach dieser Arbeitsanweisung ist nach Ablauf eines Zeitraums von längstens 12 Monaten anhand einer Stellungnahme des Sozialdienstes "erneut" zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des § 72 BSHG "weiterhin" gegeben sind.
Diese Handhabung entspricht nicht den Regeln des BSHG. Gemäß § 72 Abs. 2 BSHG umfasst die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, hier: Nichtsesshaftenhilfe, alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten, die sich aus den besonderen Lebensverhältnissen ergeben. Die Klägerin hat ausweislich ihres Aktenvorganges nur aufgrund der Tatsache, dass G. angab, in Berlin nicht über eine Wohnung zu verfügen, Hilfe nach § 72 BSHG geleistet, ohne eine weitere Prüfung durchzuführen. Nach der Rechtsprechung der erkennenden Kammer (Urt. v. 06.07.2000 - 3 A 3219/98 -) besteht aber der Anspruch nach § 72 BSHG nur im Rahmen einer solchen Notwendigkeitsprüfung. Aus der Aktenlage ergibt sich nicht, dass die Notwendigkeit bestand, Herrn G. im Rahmen der Nichtsesshaftenhilfe in der Einrichtung Haus F. unterzubringen, von ihm lediglich einen Kostenbeitrag in Höhe von 300,00 DM zu fordern und ihm die übrigen Leistungen nach AFG zu belassen. Gemäß § 2 der VO zu § 72 BSHG sind Personen ohne ausreichende Unterkunft im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der VO solche, die in Obdachlosen- oder sonstigen Behelfsunterkünften oder vergleichbaren Unterkünften leben. Gemäß § 4 der VO sind Nichtsesshafte im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Personen, die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen oder sich in einer Einrichtung für Nichtsesshafte aufhalten. Diese Voraussetzungen waren angesichts der in W. vorhandenen Wohnung des G. (Räumungsklage wurde am 24.06.1996 eingereicht, zum 01.11.1996 zog der Nachmieter ein) und angesichts der Leistungen nach AFG nach der Aktenlage nicht gegeben. Auch wenn zweifelhaft ist, ob bei Berechnung der Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Kosten der Unterkunft auf das Vorhandensein einer Wohnung im Bereich eines anderen Sozialhilfeträgers abgestellt werden kann, ist bei der Prüfung der Notwendigkeit einer Unterbringung im Rahmen der Hilfe in besonderen Lebenslagen, insbesondere der Hilfe nach § 72 BSHG, zu überprüfen, ob ambulante Hilfe auch in einer vorhandenen Wohnung im Bereich eines anderen Sozialhilfeträgers in ausreichendem Umfang geleistet werden kann (Urt. d. erk. Kammer, a.a.O.). In diesem Falle besteht kein Anspruch des Hilfeempfängers nach § 72 BSHG.
Die Klägerin hat danach zumindest in Höhe der Summe, die G. für die Kosten der Unterkunft neben dem Kostenbeitrag hätte aufwenden können, Leistungen entgegen den Regelungen des BSHG erbracht; ein Kostenerstattungsanspruch besteht deshalb gemäß § 111 Abs. 1 BSHG in dieser Höhe nicht.
Die verbleibenden Kosten kann die Klägerin gegenüber dem Beklagten nicht geltend machen, weil § 111 Abs. 2 BSHG dem entgegensteht. Gemäß § 111 Abs. 2 BSHG sind Kosten unter 5.000,00 DM, bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu 12 Monaten, außer in den Fällen einer vorläufigen Leistungsgewährung nach § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG, nicht zu erstatten.
Die Beklagte macht Aufwendungen in Höhe von 6.398,62 DM für die Zeit vom 13.05.1996 bis zum 28.01.1997 geltend. Selbst wenn man von diesem Betrag nur die Summe abzieht, die G. in den in diesem Zeitraum liegenden "ganzen" Monaten hätte aufbringen können, erreicht die Forderung der Klägerin die Bagatellgrenze nicht. G. konnte in den Monaten Juni bis Oktober 1996 den Betrag von 358,69 DM monatlich (zusätzlich zu dem Kostenbeitrag) aufbringen, im November und Dezember 1996 (ab 22.11.1996 wurde nur noch Arbeitslosenhilfe gezahlt) mindestens 218,40 DM. Es ergibt sich ein Betrag von 2.230,25 DM, auf den nach § 111 Abs. 1 BSHG kein Anspruch bestand. Nach Abzug dieses Betrages von der Forderung in Höhe von 6.398,62 DM beläuft sich die Forderung nur noch auf 4.168,37 DM und erreicht damit die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG nicht.
Die Klage ist deshalb mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 711, 708 Nr. 11 ZPO.
Drinhaus
Schlingmann-Wendenburg