Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 12.05.2005, Az.: L 8 AS 51/05 ER

Anspruch auf Erhöhung des Arbeitslosengeldes zur Bestreitung des Lebensunterhalts; Antragsteller als Bedarfsgemeinschaft; Gesichtspunkte bei der Ermittlung der Hilfebedürftigkeit; Berücksichtigung von Einkommensverhältnisse und Vermögensverhältnissen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.05.2005
Aktenzeichen
L 8 AS 51/05 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 23229
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2005:0512.L8AS51.05ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 04.03. 2005 - Az: 47 AS 58/05 ER

Fundstellen

  • FStHe 2006, 594-596
  • GV/RP 2006, 428-430
  • info also 2005, 175-177 (Volltext mit amtl. LS)

Redaktioneller Leitsatz

Lebt eine Mutter mit ihren Kindern und ihrem Lebensgefährten, der nicht der Kindesvater ist, in einer Bedarfsgemeinschaft (eheähnlichen Gemeinschaft) zusammen, so muss das Einkommen des Lebensgefährten nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts der Kinder eingesetzt werden. Eine Rechtsgrundlage für die Heranziehung des nicht leiblichen Elternteils zur Existenzsicherung der Kinder seiner Lebenspartnerin ist im SGB II nicht ersichtlich.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 4. März 2005 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragstellern vom 1. Februar 2005 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 187,00 EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.

Gründe

1

I.

Die 1968 geborene Antragstellerin zu 1. ist Mutter der minderjährigen Antragsteller zu 3. bis 6. (alle unter 14 Jahren) und lebt mit dem im Jahre 1961 geborenen Antragsteller zu 2. in eheähnlicher Gemeinschaft. Sie bewohnen zusammen eine 6-Zimmer-Wohnung mit einer monatlichen Miete von 550,00 EUR zuzüglich 90,00 EUR Heizkosten und 60,00 EUR Abschlag auf Nebenkosten. Die Antragstellerin zu 1. erhält für die Antragsteller zu 3. bis 6. Kindergeld in Höhe von 641,00 EUR. Der Antragsteller zu 2. ist berufstätig und erzielt ein Nettoeinkommen von zirka 1.450,00 EUR monatlich. Er erbringt Unterhaltsleistungen an seine außerhalb der Bedarfsgemeinschaft lebenden Kinder in Höhe von 113,00 EUR und tilgt außerdem ehebedingte Schulden.

2

Mit Bescheid vom 10. Januar 2005 gewährte die Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 444,38 EUR monatlich, bestehend aus Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Antragsteller zu 1. und zu 2. von 18,55 EUR und aus Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 425,83 EUR. Weitere Leistungen für die Antragsteller zu 3. bis 6. lehnte die Antragsgegnerin ab, weil sie neben dem jeweiligen Kindergeld auch das überschießende Einkommen des Antragstellers zu 2. berücksichtigte. Gegen den abschlägigen Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2005 ist beim Sozialgericht (SG) Oldenburg ein Klageverfahren anhängig (Aktenzeichen: S 47 AS 79/05).

3

Am 1. Februar 2005 haben die Antragsteller die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt, ihnen höhere Leistungen zu gewähren. Sie haben geltend gemacht, dass der Antragsteller zu 2. höhere Unterhaltsleistungen an seine Kinder zahle und ferner, dass das Kindergeld für die Antragsteller zu 3. bis 6. nur als Einkommen der Antragstellerin zu 1. anzusehen sei.

4

Das SG hat durch Beschluss vom 4. März 2005 die Antragsgegnerin verpflichtet, zu Händen der Antragstellerin zu 1. für die Antragsteller zu 3. bis 6. laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1. Februar 2005 bis zum 31. Mai 2005 in Höhe von monatlich 678,60 EUR zu zahlen und im Übrigen den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Zwar habe die Antragsgegnerin zutreffend gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II das an die Antragstellerin zu 1. gewährte Kindergeld als Einkommen der Antragsteller zu 3. bis 6. berücksichtigt. Rechtswidrig sei der Bewilligungsbescheid aber, wenn die Antragsgegnerin von dem Antragsteller zu 2. verlange, dass er sein gesamtes Einkommen, soweit dieses den eigenen Bedarf und den der Antragstellerin zu 1. übersteige, zu Gunsten der Antragsteller zu 3. bis 6. einsetzen müsse. Denn der Antragsteller zu 2. sei nicht der leibliche Vater der Antragsteller zu 3. bis 6. und somit auch nicht Eltern oder Elternteil i.S. von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II. Daraus ergebe sich ein Gesamtanspruch für die Antragsteller zu 3. bis 6. in Höhe von 678,60 EUR, die die Antragsgegnerin abzüglich der bereits geleisteten Zahlungen in Höhe von 444,38 EUR zu Händen der Antragstellerin zu 1. ab 1. Februar 2005 nachzahlen müsse.

5

Gegen diesen Beschluss hat die Antragsgegnerin am 21. März 2005 Beschwerde eingelegt. Sie trägt vor, gemäß § 9 Abs. 1 SGB II habe grundsätzlich jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sein gesamtes Einkommens und Vermögen für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einzusetzen. Die Zugehörigkeit zu der Bedarfsgemeinschaft sei auch entscheidend für die Einkommensberücksichtigung. Auf die Frage, ob es sich um gemeinsame Kinder handele bzw. ob zivilrechtliche Unterhaltsansprüche bestehen, komme es nicht an.

6

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen, sondern diese dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

7

II.

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Der sozialgerichtliche Beschluss ist nicht zu beanstanden, soweit das überschießende Einkommen des Antragstellers zu 2. nicht den Bedarf der Antragsteller zu 3. bis 6. zugerechnet wird. Eine Änderung des Beschlusses war erforderlich, soweit das SG das höhere Kindergeld für das 4. Kind unberücksichtigt gelassen hat.

8

Die Voraussetzungen für eine Regelungsverfügung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG liegen vor. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragsteller müssen glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -), dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht und ferner, dass zur Wahrung ihrer berechtigten Interessen eine besondere Eilbedürftigkeit für eine Regelung im einstweiligen Rechtsschutz besteht. Hier haben die Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihnen höhere Leistungen nach dem SGB II als von der Antragsgegnerin bewilligt zustehen. Auch einen Anordnungsgrund haben sie dargelegt. Unter Berücksichtigung der nachgewiesenen Zahlungen des Antragstellers zu 2. (Unterhalt und ehebedingte Verpflichtungen, ohne deren Abtrag eine entsprechend höhere Unterhaltszahlung erfolgen müsste) steht den Antragstellern insgesamt nur ein Betrag zur Verfügung, durch den der durch die §§ 19 ff SGB II garantierte notwendige Lebensunterhalt nicht gewährleistet ist. Auf Grund der derzeitigen Einkommensverhältnisse sind die Antragsteller auf die Auszahlung dieser Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts dringend angewiesen, Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes ist daher anzunehmen.

9

Zwischen den Beteiligten ist im Beschwerdeverfahren nur noch die Rechtsfrage streitig, ob das Einkommen des Antragstellers zu 2. zur Sicherung des Lebensunterhalts der Antragsteller zu 3. bis 6. eingesetzt werden muss, obwohl diese nicht seine leiblichen Kinder sind. Diese Frage ist - wie das SG richtig erkannt hat - i.S. der Antragsteller zu entscheiden. Eine Rechtsgrundlage für die Heranziehung des nicht leiblichen Elternteils zur Existenzsicherung der Kinder seiner Lebenspartnerin ist im SGB II nicht ersichtlich.

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Die Antragsteller zu 1. bis 6. bilden eine Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3 SGB II. Für die Kindereigenschaft i.S. des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II genügt es, dass eine verwandtschaftliche Verbindung zu nur einem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft besteht. Die Definition der Bedarfsgemeinschaft erfolgt nach persönlichen Zuordnungsmerkmalen und will lediglich den Kreis der Leistungsberechtigten bestimmen. Aus dieser Zuordnung ist keine weitere Schlussfolgerung für die Frage "wer für wen einstehen muss" zu ziehen. Zur Ermittlung der Hilfebedürftigkeit der Anspruchsberechtigten ist ausschließlich auf die Regelung in § 9 SGB II zurückzugreifen.

11

Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind zunächst bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Das ist hier geschehen. Die Antragsgegnerin hat das Einkommen des Antragstellers zu 2. auch der Antragstellerin zu 1. zugerechnet, weil beide in eheähnlicher Gemeinschaft leben. Ob die vom Antragsteller zu 2. bedienten Schulden einkommensmindernd zu berücksichtigen sind, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden.

12

Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind bei minderjährigen unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils zu berücksichtigen. Diese Regelung trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu. Der Antragsteller zu 2. ist nicht Elternteil der Antragsteller zu 3. bis 6 ... Der Gesetzeswortlaut ist eindeutig und meint mit "ihren Eltern oder einem Elternteil" nur das Einkommen der leiblichen Eltern. Das entspricht dem unterhaltsrechtlichen Grundsatz in § 1601 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), dass nur Verwandte in gerader Linie einander zu Unterhalt verpflichtet sind. Eine erweiternde Auslegung dahingehend, dass ein vollständiger Einsatz von Einkommen des Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft für fremde Kinder in der Bedarfsgemeinschaft gewollt war, ist mangels eines in diesem Sinne objektivierbaren gesetzgeberischen Willens nicht möglich.

13

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist nicht allein die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft für die Einkommensberücksichtigung entscheidend. Ansonsten wäre die gesamte Regelung zur Ermittlung der Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 Abs. 2 SGB II nicht erforderlich gewesen. Für die Ermittlung der Hilfebedürftigkeit der einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft hat der Gesetzgeber aber eine eingrenzende Regelung vorgenommen. Eine vollumfängliche Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen ist nur bei Partnern möglich (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Bei Eltern-Kinder-Verhältnissen ist nur eine einseitige Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen vorgesehen, nämlich soweit es sich um leibliche Eltern und um deren Vermögen und Einkommen handelt, und nicht umgekehrt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II).

14

Dieses Ergebnis entspricht der Rechtslage, die im Sozialhilferecht bis zum 31. Dezember 2004 bestanden hat. Gemäß § 122 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wurde das Einkommen innerhalb einer eheähnlichen Gemeinschaft wie in einer Ehe berücksichtigt. Dagegen blieb das Einkommen des eheähnlichen Partners für die Bedarfe der in der Haushaltsgemeinschaft lebenden, fremden Kinder (vgl. BVerwG vom 26.11.1998, BVerwGE 108, 36). Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass der Gesetzgeber daran mit In-Kraft-Treten des SGB II etwas ändern wollte.

15

Die hier vertretene Auffassung wird durch die Regelung im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) bestätigt. In § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, gemäß § 20 SGB XII auf eheähnliche Gemeinschaften entsprechend anwendbar, hat der Gesetzgeber dieselbe Regelung wie in § 9 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB II getroffen. Anders als im SGB II sieht § 36 SGB XII darüber hinaus eine Vermutung der Bedarfsdeckung und einen vollständigen Einsatz von Einkommen und Vermögen für alle Personen vor, die zusammen in einer Haushaltsgemeinschaft leben. Auf das Bestehen rechtlicher Unterhaltspflichten kommt es dabei nicht an. Eine derartige Einstandspflicht für Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft existiert jedoch im SGB II nicht.

16

Der Senat braucht im Rahmen der hier erforderlichen summarischen Prüfung keine Entscheidung darüber zu treffen, ob bei Zusammenleben von Partnern in einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern nur des einen Partners eine gegenseitige Unterstützung vermutet werden kann, die sich einkommensmindernd auswirken würde. Der Gesetzgeber hat im SGB II lediglich für in Haushaltsgemeinschaften lebende Verwandte und Verschwägerte eine solche Vermutung normiert, jedenfalls soweit dies nach Einkommen und Vermögen erwartet werden kann (§ 9 Abs. 5 SGB II). Für Personen, die nicht miteinander verwandt oder verschwägert sind (wie die Kinder des einen Partners mit dem nicht mit diesem verheirateten anderen Partner), gilt die Vorschrift ohnehin nicht. Außerdem greift sie nur, soweit die Verwandten oder Verschwägerten nicht zu der Bedarfsgemeinschaft der Hilfebedürftigen gehören. Ob hier eine Gesetzeslücke besteht, die durch entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens des § 9 Abs. 5 SGB II bzw. des § 36 SGB XII geschlossen werden könnte, ist einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.

17

Bis dahin geht der Senat davon aus, dass die Antragsteller zu 3. bis 6. Anspruch auf Sozialgeld haben in Höhe von je 207,00 EUR (§ 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II). Abzuziehen ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II jeweils das an die Antragstellerin zu 1. gezahlte Kindergeld, nämlich für die Antragsteller zu 3. bis 5. je 154,00 EUR und für den Antragsteller zu 6. 179,00 EUR. Da die Antragsgegnerin den Unterkunftsanteil bereits berücksichtigt hat, ergibt sich ein Nachzahlungsanspruch von 3 x 53,00 EUR und 1 x 28,00 EUR, insgesamt 187,00 EUR monatlich. Auf diesen Betrag ist die Entscheidungsformel im Beschluss des SG zu reduzieren. Der Senat teilt die Auffassung des SG, dass abweichend von früherer verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung Leistungen nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtschutzes in der Regel ab Eingang des Antrags bei Gericht zu gewähren sind. III.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Für die Kostenquotelung wird berücksichtigt, dass die Antragsteller mit ihrem Hauptanliegen, Kindergeld sei nicht als Einkommen der Kinder anzusehen, unterlegen sind.

19

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).