Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 11.05.2005, Az.: L 9 SB 17/04
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 11.05.2005
- Aktenzeichen
- L 9 SB 17/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50779
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG - 07.10.2003 - AZ: S 19 SB 98/02
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Berufungskläger das Merkzeichen „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung) festzustellen ist.
Bei dem 1946 geborenen Berufungskläger wurde Anfang der 70er Jahre eine Glomerulonephritis festgestellt, die in der Folgezeit zu einer zunehmenden Einschränkung der Nierenfunktion führte. Mit Bescheid vom 3. März 1977 stellte deswegen der Berufungsbeklagte beim Berufungskläger einen GdB von 90 fest. Diesen behielt er auf Verschlimmerungsantrag des Berufungsklägers auch mit nachfolgendem Bescheid vom 23. Februar 1999 bei, obgleich sein ärztlicher Dienst (Dr. C.), zwischenzeitlich davon ausging, dass die Nierenerkrankung bei langjährig stabilem Kreatininwert lediglich einen Einzel-GdB von 60 rechtfertige (Stellungnahme vom 6. Februar 1999). Bei dem Berufungskläger hatte sich nämlich im Verlaufe der 90er Jahre zusätzlich eine Verengung der Herzkranzgefäße mit Bluthochdruck eingestellt, die im Februar 1998 durch PTCA und Stent-Implantation operativ versorgt worden war. Bei Fundus hypertonicus II. Grades und starker Leistungsbeeinträchtigungen hielt der ärztliche Dienst des Berufungsbeklagten auch hierfür die Zuerkennung eines Teil-GdB von 60 sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ für angemessen, die mit Bescheid vom 23. Februar 1999 ebenfalls erfolgte.
Nachdem seine Nierenerkrankung im August 2000 dialysepflichtig geworden war, stellte der Berufungskläger einen weiteren Verschlimmerungsantrag, der letztlich mit Bescheid vom 29. Juni 2001 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 28. März 2002 sowie des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2002 zur Feststellung eines GdB von 100 führte, während das begehrte Merkzeichen „B“ dem Berufungskläger versagt blieb.
Die hiergegen am 30. April 2002 erhobene Klage hat das Sozialgericht Hildesheim nach Einholung eines fachinternistischen Gutachtens des Prof. Dr. D. vom 30. Juli 2002 mit Urteil vom 7. Oktober 2003 abgewiesen. Dabei ist es dem Vorschlag des Gutachters, dem Berufungskläger das begehrte Merkzeichen zuzuerkennen, nicht gefolgt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Soweit Prof. Dr. D. die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ deshalb befürwortet habe, weil es bei dem Berufungskläger nach Überwindung einer mittellangen Gehstrecke zu einer Angina-pectoris-Symptomatik komme, der dieser dann durch Ausruhen über mehrerer Minuten und die Verwendung von Nitrospray begegnen müsse, rechtfertige dies die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ nicht. Zwar könne es auch dann zuerkannt werden, wenn die jederzeitige Gefahr einer Dekompensation bestehe; hiervon könne aber im Fall des Berufungsklägers gerade nicht ausgegangen werden. Auch wenn die von Prof. Dr. D. erwähnten Angina-pectoris-Anfälle mit einem Blutdruckabfall und Schwindel-Symptomatik einhergingen, belege doch das vom Berufungskläger anamnestisch geschilderte Verhalten, dass sich ein solcher Anfall offenbar rechtzeitig ankündige, sodass man ihm mit Nitrospray begegnen könne. Die andauernden Einschränkungen der Herz-Kreislauf-Funktion rechtfertigten daneben die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ ebenfalls nicht; denn der Berufungskläger sei im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. D. im Belastungs-EKG bis 125 Watt belastbar gewesen, ehe eine Angina-pectoris-Symptomatik aufgetreten sei. Damit handele es sich um einen allenfalls mittelschweren Herzschaden, der lediglich mit einem Teil-GdB von 40 bewertet werden könne. Auch der Gutachter Prof. Dr. D. habe die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ nicht aus diesem Grunde für erforderlich gehalten.
Mit seiner am 19. Januar 2004 eingelegten Berufung verfolgt der Berufungskläger sein Begehren weiter. Zur Begründung bezieht er sich auf das Ergebnis des von Prof. Dr. D. erstatteten Gutachtens.
Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 7. Oktober 2003 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes Braunschweig, Außenstelle Hildesheim, vom 29. Juni 2001 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 28. März 2002 sowie des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 3. April 2002 abzuändern,
2. den Berufungsbeklagten zu verurteilen, bei ihm ab August 2002 das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „Notwendigkeit ständiger Begleitung“ (Merkzeichen „B“) festzustellen.
Der Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Voraussetzungen des Merkzeichens weiterhin für nicht gegeben.
Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung den Befundbericht des Kardiologen Dr. E. vom 9. Juli 2004 mit zahlreichen Anlagen eingeholt und das internistisch-kardiologische Fachgutachten des Dr. F. vom 4. Oktober 2004 erstatten lassen. Der Gutachter ist darin zu dem Ergebnis gelangt, dass der Berufungskläger nicht generell, sondern lediglich jeweils in den ersten zwölf Stunden nach einer der dreimal wöchentlich durchgeführten Dialyse-Behandlungen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf fremde Hilfe angewiesen sei. In diesen Phasen bestehe auf Grund des Flüssigkeitsverlustes durch die Dialyse eine Kreislauf-Situation, die ein deutlich erhöhtes Risiko für einen Kollaps bzw. eine Synkope nach Nitrospray beinhalte.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Schwerbehindertenakten Bezug genommen, die beigezogen und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
II. Der Senat weist die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss zurück. Er hält sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.
Nach § 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX ist die Begleitperson eines schwerbehinderten Menschen im Nah- und Fernverkehr unentgeltlich zu befördern, sofern eine ständige Begleitung notwendig und dies im Ausweis des schwerbehinderten Menschen eingetragen ist. Die hierzu erforderlichen Feststellungen treffen nach § 69 Abs. 4 SGB IX die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden. Dabei ist gemäß § 146 Abs. 2 SGB IX eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Für die Zeit vor In-Kraft-Treten des Sozialgesetzbuchs, 9. Buch zum 1. Juli 2001 gelten nach den Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes gleichartige Regelungen. § 60 Abs. 2 des Schwerbehindertengesetzes bestimmt insoweit, dass eine ständige Begleitung bei Schwerbehinderten notwendig ist, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auch fremde Hilfe angewiesen sind.
Der Berufungsbeklagte kann hiernach für den gesamten streitbefangenen Zeitraum seit Antragstellung im August 2000 nicht dazu verurteilt werden, dem Berufungskläger das begehrte Merkzeichen „B“ zuzuerkennen, weil es an den insoweit einheitlichen, durch das In-Kraft-Treten des SGB IX am 1. Juli 2001 unveränderten materiellen Voraussetzungen mangelt. Der Berufungskläger ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen.
Da mit der Zuerkennung des Merkzeichens „B“ eine jederzeitige unentgeltliche Beförderung der Begleitperson ermöglicht wird, lässt nicht bereits eine regelmäßig wiederkehrende, aber zwischenzeitlich unterbrochene Angewiesenheit auf fremde Hilfe im Sinne von § 146 Abs. 2 SGB IX bzw. § 60 Abs. 2 Schwerbehindertengesetz die Vergabe des Merkzeichens zu. Das in den genannten Vorschriften verwendete Tatbestandsmerkmal der Regelmäßigkeit des Angewiesenseins auf fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erläutert und illustriert insoweit lediglich das Tatbestandsmerkmal ständiger Begleitung, ohne es dabei jedoch in dem Sinne aufzuweichen, dass auch eine nur zeitweilige Begleitungsbedürftigkeit zur Zuerkennung des Merkzeichens führt, wenn sie nur regelmäßig wiederkehrt. Erforderlich ist vielmehr, dass der schwerbehinderte Mensch ständig bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf eine Begleitperson angewiesen ist. Allerdings ist rechtlich geklärt, dass die ständige Angewiesenheit auf fremde Begleitung sich hierbei nicht lediglich aus solchen Gesundheitsstörungen ergeben kann, bei der die für die Angewiesenheit auf eine Begleitperson maßgeblichen Krankheitssymptome permanent bestehen. Ausreichend ist vielmehr auch, wenn der schwerbehinderte Mensch dauernd unter Gesundheitsstörungen leidet, die seine Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe zu benutzen, jederzeit soweit einschränken können, dass ohne eine Begleitperson eine Selbst- oder Fremdgefährdung entsteht. Erforderlich bleibt aber auch in einem solchen Fall grundsätzlich die ständige Angewiesenheit auf fremde Hilfe. Sie besteht nur dann, wenn der schwerbehinderte Mensch, etwa bei einem Anfallsleiden, mit dem jederzeitigen unvorhersehbaren Eintritt der seine Angewiesenheit auf fremde Hilfe begründenden Symptome rechnen muss (so im Ergebnis auch die den Beteiligten übersandten Entscheidung des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Oktober 1996, Aktenzeichen L 4 Vs 145/95 und des bayerischen Landessozialgerichts, Urteil vom 5. Juni 2002, Aktenzeichen L 18 SB 29/01).
Eine solche Erforderlichkeit ständiger Begleitung lässt sich im Falle des Berufungsklägers vom Senat nicht feststellen.
Dem Sozialgericht ist insoweit zunächst darin zuzustimmen, dass sich die Erforderlichkeit ständiger Begleitung beim Berufungskläger nicht allein aus Funktionseinschränkungen durch seine koronare Herzerkrankung ableiten lässt. Nicht nur im Rahmen der erstinstanzliche Begutachtung durch Prof. Dr. D., sondern ebenso im Rahmen weiterer Belastungs-EKGs des Dr. E. (vgl. Befundbericht vom 9. Juni 2004 an den Senat) ist der Berufungskläger mit 100 bis 150 Watt belastbar gewesen. Die Nachuntersuchung nach Dilatation und Stent-OP im Februar 1998 hat noch im August 2001 den Befund einer Koronarsklerose ohne signifikante Stenose bei gutem PTCA-Langzeitergebnis erbracht (Arztbrief des G. vom 14. August 2001). Konsultationen des behandelnden Kardiologen Dr. E. haben nach dessen Befundbericht vom 9. Juni 2004 seit November 2000 nicht mehr stattgefunden. Auch der vom Senat beauftragte Gutachter Dr. F. berichtet anamnestisch über bis zuletzt weitgehend unauffällige koronare Verhältnisse bei einer Ergometerbelastbarkeit von 100 Watt und tendenziell eher niedrigem Blutdruck von maximal 115 zu 70 mmHg im Liegen und 95 zu 75 mmHg im Stehen (Seiten 8, 13 und 18 des Gutachtens). Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung des Gutachters Dr. F. überzeugend, nach der die bei dem Berufungskläger weiterhin auftretende Angina-Pectoris-Symptomatik im Alltag so weit beeinflussbar ist, dass von ihr keine ständige, ernsthafte Gefahr bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für den Berufungskläger ausgeht. Auch die Nebenwirkungen des hierbei ggf. therapeutisch eingesetzten Nitrosprays hat der Gutachter Dr. F. dahingehend eingeschätzt, dass die von diesem Stoff ausgehenden Blutdrucksenkungen mit möglichem Schwindel und Schwächegefühl beim Berufungskläger keinen ständigen Bedarf an fremder Begleitung schaffen würden. Auch diese Einschätzung ist überzeugend, da sie mit den anamnestischen Angaben des Berufungsklägers übereinstimmt. Dieser hat gegenüber dem Gutachter geäußert, dass er zwar nach Gebrauch von Nitrospray etwas Schwindel verspürt habe, jedoch bisher weder synkopal noch bewusstlos geworden sei. Die im Ergebnis abweichende Auffassung des erstinstanzlichen Gutachters Prof. Dr. D., die dieser ausdrücklich auf die nach Nitrogebrauch generell zu beobachtenden Blutdruckabfälle mit Schwindelsymptomatik gestützt hat (vgl. dessen Gutachten Seite 17), vermag den Senat vor dem Hintergrund der individuellen anamnestischen Angaben des Berufungsklägers und der hierauf gestützten Einzelfallbewertung durch den Gutachter Dr. F. nicht zu überzeugen.
Soweit nach alledem eine jederzeitige konkrete Gefahr zu kollabieren beim Berufungskläger lediglich für etwa zwölf Stunden im Anschluss an die - nächtlich durchgeführte - Dialyse angenommen werden kann, weil in diesem Zeitraum der durch die Dialyse bedingte Flüssigkeitsverlust allein oder in Verbindung mit einer etwaigen Benutzung von Nitrospray mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem kritischen Blutdruckabfall mit Mangeldurchblutung und nachfolgendem Kollaps führen kann, reicht diese nach Auffassung des Gutachters Dr. F. gegebene Gefahrenlage auf Grund ihrer zeitlichen Ausdehnung auf lediglich drei mal zwölf Stunden wöchentlich nicht aus, um von der Erforderlichkeit ständiger Begleitung auszugehen. Es bedarf an dieser Stelle keiner näheren Erörterung, unter welchen tatsächlichen Umständen eine etwa nur periodisch kurzzeitig unterbrochene Gefahrenlage möglicherweise die Annahme von Hilfebedürftigkeit bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ rechtfertigen könnte. Diese ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn, wie vorliegend, die Zeiträume, in denen der schwerbehinderte Mensch nicht auf Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen ist, diejenigen Zeiten, in denen dies der Fall ist, überwiegen, sodass die kostenlose Beförderung der Begleitperson bei Zuerkennung des Merkzeichens in zeitlich größerem Umfang entbehrlich als notwendig wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein Grund, gemäß § 160 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.