Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 01.04.2003, Az.: 2 A 2014/02

Ermessensreduzierung auf Null; Rücknahme; Rücknahmeermessen

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
01.04.2003
Aktenzeichen
2 A 2014/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 47984
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Unbeachtlichkeit eines Ermessensfehlers bei Ermessensreduzierung auf Null (hier verneint).

Tenor:

Der Bescheid der Stadt .... vom 05. April 2000 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 04. Dezember 2001 werden aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen ihn festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt durch den Beklagten in Höhe von 7.369,81 DM.

2

Die Klägerin, die seit dem 25. Oktober 1996 Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, lebte bis Ende 1998 in der „Bstr 4. Bis zum 01. April 1997 lebte hier auch Herr H., dessen Mutter die Wohnung gehörte. Herr H. verzog anschließend bis zum 19. Dezember 1998 in die Straße N. R.. Ab dem 20. Dezember 1998 ist er polizeilich gemeldet „O. 20“. Ab dem 01. Januar 1999 wohnte auch die Klägerin unter dieser Adresse.

3

Im Oktober 1998 teilte die Klägerin dem Sozialamt der Namens und im Auftrage des Beklagten handelnden Stadt ... ihre Umzugsabsicht mit und legte eine Mietbescheinigung und einen Mietvertrag für eine Wohnung „O. 20“ vor. Bescheinigung und Vertrag, die auf den 25. bzw. 26. Oktober 1998 datierten, wiesen Herrn H. als Vermieter aus. Dessen Adresse war mit „N. R.“ angegeben. Aus der Mietbescheinigung ergab sich, dass Herr H. ein Zimmer des Hauses mit einer Größe mit insgesamt 20 m2 selbst nutzen wollte. Ein Änderungsmietvertrag zwischen der Klägerin und Herrn H. vom 31. Mai 1999 enthielt keine Adressangabe des Herrn H.

4

Auf Grund von Hinweisen ermittelte das Sozialamt der Stadt .... und der Beklagte bereits im Dezember 1996, im April 1997 sowie im Januar und Februar 1998 im Hinblick auf das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft zwischen der Klägerin und Herrn H. Ein weiterer Hausbesuch fand am 21. Juli 1999 in dem Haus O. 20 statt. Aufgrund der hier getroffenen Feststellungen gelangte die Stadt ... zu der Annahme, eine eheähnliche Gemeinschaft zwischen der Klägerin und Herrn H. liege vor.

5

Am 27. September 1999 haben die Klägerin und Herr H. geheiratet.

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Mit Bescheid vom 05. April 2000 nahm die Stadt .... die in der Zeit vom 01. Januar 1999 bis 31. August 1999 ergangenen Sozialhilfebewilligungsbescheide zurück und forderte von der Klägerin einen Betrag in Höhe von 10.493,34 DM. Zur Begründung gab sie an, es bestehe zwischen der Klägerin und Herrn H. eine eheähnliche Gemeinschaft ab dem 01. Januar 1999. Trotz diverser Hinweise in diese Richtung werde das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft bestritten. Es sei eindeutig erkennbar gewesen, dass die Sozialhilfe an alte Verhältnisse angepasst werden sollte. Auf die Rücknahme könne nicht verzichtet werden, da es nicht hingenommen werden könne, dass Sozialhilfe gezahlt werde, auf die kein Anspruch bestehe.

7

Den hiergegen eingelegte Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04. Dezember 2001 zurück. Es sei eine eheähnliche Gemeinschaft ab dem 01. Januar 1999 anzunehmen. Die Klägerin hätte die Rechtswidrigkeit der seitdem ergangenen Bewilligungsbescheide über Sozialhilfe erkennen müssen. Diese Bewilligungsbescheide seien zurückzunehmen gewesen.

8

Hiergegen hat die Klägerin am 15. Januar 2002 Klage erhoben. Sie bestreitet das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft.

9

Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid der Stadt ... vom 05. April 2000 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 04. Dezember 2001 aufzuheben.

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Nachdem der Beklagte den Rückforderungsbetrag im Klageverfahren auf 7.369,81 DM reduziert hat, beantragt er,

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die Klage abzuweisen.

13

Die festgestellten Indizien sprächen für das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft. Ein Ermessen habe er nicht auszuüben gehabt, weil das Ermessen wegen Bösgläubigkeit der Klägerin auf Null reduziert gewesen sei. Zur Begründung dieser Rechtsansicht trägt er vor, die Klägerin habe am 12. Oktober 1998 (Anmerkung des Gerichts: Richtig am 09. Oktober 1998) verschwiegen, dass das Haus, in das sie ab dem 01. Januar 1999 ziehen wolle, Herrn H. gehöre. Darüber hinaus erwähne der zwischen der Klägerin und Herrn H. geschlossene Mietvertrag über das Objekt „O. 20“ anders als die Mietbescheinigung eine Mitnutzung durch Herrn H. nicht. Die Bösgläubigkeit der Klägerin ergebe sich auch daraus, dass sowohl in der Mietbescheinigung als auch im Mietvertrag die Adresse mit „N. R.“ angegeben sei. Darüber hinaus enthalte der Änderungsmietvertrag vom 31. Mai 1999 keine Adressangabe.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsvorgänge der Stadt .... und des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Stadt .... vom 05. April 2000 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 04. Dezember 2001 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

16

Die Bescheide, mit denen von der Klägerin ein Betrag in Höhe von insgesamt 7.438,32 DM zurückgefordert wird, sind durch § 45 SGB X nicht gedeckt.

17

Die Aufhebung von sozialhilferechtlichen Verwaltungsakten ist in §§ 44 bis 49 SGB X geregelt. Es wird danach unterschieden, ob es sich um belastende oder begünstigende, rechtmäßige oder rechtswidrige Verwaltungsakte handelt. Der angefochtene Bescheid kann nur auf § 45 SGB X gestützt werden, wie dies der Beklagte auch getan hat.

18

Danach darf ein – wie vorliegend – begünstigender Verwaltungsakt, der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann.

19

§ 45 Abs. 1 SGB X räumt der Behörde mithin ein sogenanntes Rücknahmeermessen ein, sodass eine Rechtspflicht zur Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakten nicht besteht. Im Rahmen dieser Ermessenentscheidung sind bezogen auf den Einzelfall alle Gesichtspunkte der Billigkeit zu berücksichtigen. Eine derartige Ermessensentscheidung kann den angefochtenen Bescheiden nicht entnommen werden. Mag eine solche Entscheidung dem Ausgangsbescheid der Stadt .... vom 05. April 2000 bei wohlwollender Betrachtung gerade noch entnommen werden können, schließt der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 04. Dezember 2001 die Annahme einer Ermessensbetätigung indes definitiv aus. In ihm heißt es in aller Deutlichkeit, die Bewilligungsbescheide seien zurückzunehmen gewesen. Der Beklagte ist mithin von einer gebundenen, nicht von einer Ermessensentscheidung ausgegangen. Dieser Fehler wirkt auf den Ausgangsbescheid zurück, denn gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat.

20

Entgegen der Annahme des Beklagten bleibt der Klage nicht deshalb der Erfolg versagt, weil sein Ermessen im Streitfall auf Null reduziert gewesen ist.

21

Zunächst wird man auch bei einer Ermessensschrumpfung auf Null fordern müssen, dass entsprechend § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X von der Behörde Ermessenserwägungen angestellt werden, und zwar in dem Sinn, dass in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles nur die von der Behörde getroffene und keine andere Entscheidung in Betracht kommt. Aus § 35 Abs. 2 SGB X ergibt sich jedenfalls nicht, dass es bei einer Ermessensschrumpfung auf Null keiner Begründung im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X bedarf (vgl. VGH München, Urteil vom 30.11.1992 – 12 B 91.2944 -, FEVS 43, 404, 409).

22

Eine andere Frage ist, ob bei einer Ermessensreduzierung auf Null der Verstoß gegen § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X nach § 42 SGB X rechtlich unerheblich ist. Dies ist dem Beklagten im Grundsatz zuzugestehen.

23

Nach der von der Kammer geteilten höchstrichterlichen Rechtssprechung führt ein Ermessensmangel ausnahmsweise dann nicht zur Aufhebung eines angefochtenen Verwaltungsaktes, wenn auch bei Ausübung von Ermessen jeder Verwaltungsakt mit einem anderen Regelungsinhalt rechtsfehlerhaft wäre (BVerwG, Urteil vom 23.01.1975 – III C 40.74 -, Buchholz 427.3, § 335 a LAG Nr. 54; Beschluss vom 15.01.1988 – 7 B 182/87 -, NVwZ 1988, 525; BSG, Urteil vom 09.09.1998 – B 13 RJ 41/97 R; Urteil vom 11.04.2002 – B 3 P 8/01 R -, zitiert nach Juris).

24

Die Ermessensreduzierung auf Null stellt nach dieser Rechtssprechung jedoch einen seltenen Ausnahmefall dar. Sie setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige – den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende – Entscheidungsfindung rechtsfehlerfrei zuließen. Dies ist in aller Regel, und so auch hier, nicht der Fall. Hier hätten insbesondere Erwägungen nahe gelegen, die die Rücknahme der Bewilligungsbescheide ab 01. Januar 1999 untermauert hätten, wenn doch die tatsächlichen Feststellungen erst am 21. Juli 1999 getroffen worden sind.

25

Der Ausnahmefall einer betrügerischen Leistungserschleichung, auf den sich der Beklagte im Anschluss an die zitierte Rechtsprechung für seine Rechtsansicht stützt, liegt nicht vor.

26

Die Klägerin hat das Sozialamt der Stadt ..... zu keinem Verfahrenszeitpunkt über die tatsächlichen Umstände ihres Umzuges nach „O 20“ und die tatsächlichen Wohnverhältnisse getäuscht.

27

Zu Unrecht hält der Beklagte der Klägerin vor, sie habe bei einer Vorsprache am 09. Oktober 1998 verschwiegen, dass das Haus, in das sie zu ziehen gedenke, Herrn H. gehöre. Dieser Vorwurf verfängt deshalb nicht, weil die Klägerin noch im Oktober 1998 eine Mietbescheinigung und einen Mietvertrag bei der Stadt ..... vorgelegt hat, aus denen sich die Vermietereigenschaft des Herrn H. eindeutig ergab. Insbesondere der Mietbescheinigung vom 25. Oktober 1998 ließ sich für das Sozialamt der Stadt .... auch zwanglos entnehmen, dass Herr H. einen der Räume des Hauses, in dem sich das Mietobjekt befand, selbst nutzen wollte. Dass hiervon im Mietvertrag keine Rede ist, begründet entgegen der Annahme des Beklagten nicht die Bösgläubigkeit der Klägerin. Denn zivilrechtlich notwendiger Bestandteil eines Mietvertrages sind nur diejenigen Räume, die auch tatsächlich vermietet werden, nicht jedoch diejenigen, die vom Vermieter selbst genutzt werden. Abgesehen davon konnte sich der Stadt .... aus der Mietbescheinigung zwanglos die Mitnutzung durch Herrn H. erschließen.

28

Schließlich wirft der Beklagte der Klägerin zu Unrecht vor, Herr H. habe seine Adresse sowohl in der Mietbescheinigung als auch im Mietvertrag falsch, nämlich mit „N. R.“, angegeben. Diese Adressangabe war, wie auch der Stadt .... bekannt sein konnte, zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung und des Abschlusses des Vertrages am 25. bzw. 26. Oktober 1998 zutreffend. Denn Herr H. ist erst ab 20. Dezember 1998, also circa zwei Monate danach, polizeilich nach „O. 20“, umgemeldet worden.

29

Dass in dem Änderungsvertrag zwischen der Klägerin und Herrn H. vom 31. Mai 1999 keine Adressangabe für Herrn H. mehr ausgeführt ist, ist in Anbetracht all dessen im Hinblick auf die der Klägerin vorgeworfene Bösgläubigkeit unerheblich. Abgesehen davon ist die Angabe der Adresse des Vermieters in einem Mietvertrag nicht zwingender Vertragsbestandteil eines solchen.

30

Insbesondere in Anbetracht vergangener, erfolglos gebliebener Versuche der Stadt ..., der Klägerin das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft mit Herrn H. nachzuweisen, hätte es für die Stadt ... nahe liegen müssen, den Sachverhalt umgehend nach Bekanntgabe der Umstände im Oktober 1998 – etwa durch Versenden des gerichtsbekannt üblichen Fragebogens zum Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft oder durch tatsächliche Ermittlungen noch im Januar 1999 – aufzuklären. Dieses Ermittlungsdefizit lässt sich hier nicht nachträglich durch den Vorwurf der Bösgläubigkeit gegenüber der Klägerin beheben.