Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 17.03.2022, Az.: 1 A 17/21

Aquatische Risikobewertung; Sicherheitsfaktor

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
17.03.2022
Aktenzeichen
1 A 17/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59573
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Abweichung von dem in der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 für die aquatische Risikobewertung hinsichtlich der Auswirkungen auf Algen und Makrophyten festgelegten Sicherheitsfaktor von 10 kann nicht auf der Grundlage einer Verständigung der Mitgliedstaaten der zentralen Zulassungszone erfolgen.

Tenor:

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. auch für die Anwendungen 00-001 bis 00-004 zu erteilen. Der Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2022 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Der Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2022 wird insoweit aufgehoben, als die Anwendungsbestimmungen NG405, NW605-1, NW606, NW706, NW607-1, NW719 und NW800 festgesetzt worden sind.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages vorläufig vollstreckbar.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 100.000,-- EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich zuletzt gegen verschiedene mit der Zulassung für ein Pflanzenschutzmittel festgesetzte Anwendungsbestimmungen und gegen die Versagung der Zulassung für einzelne zur Genehmigung gestellte Anwendungen.

Mit Antrag vom 21. April 2015 beantragte die Klägerin beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) die Erteilung einer Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G.. Bei dem Pflanzenschutzmittel handelt es sich um ein Herbizid mit den Wirkstoffen J. und K.. Die Anwendung des Pflanzenschutzmittels soll beim Anbau von Zuckerrüben zur Bekämpfung von Unkräutern erfolgen. Die Klägerin bestimmte Deutschland als berichterstattenden Mitgliedstaat (zonal Rapporteur Member State - zRMS -).

Nach Vorlage eines aktualisierten Dossiers und nachgeforderter Unterlagen durch die Klägerin erklärten das Julius Kühn-Institut (JKI) mit Schreiben vom 27. Juli 2017 und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) mit Schreiben vom 5. März 2018 ihr (vorläufiges) Benehmen mit der Zulassung des Pflanzenschutzmittels.

Das Umweltbundesamt versagte sein Einvernehmen mit der Zulassung des Pflanzenschutzmittels mit Schreiben vom 25. April 2018 für die Anwendungen 00-001 und 00-002 unter Hinweis auf ein hohes Gefährdungspotenzial des Wirkstoffs J. und eines von diesem gebildeten Metaboliten für aquatische Organismen, insbesondere aquatische Pflanzen. Auch bei Ausschöpfung aller praktikablen Risikominderungsmaßnahmen werde das modifizierte Akzeptanzkriterium eines TER-Wertes (Toxicity to Exposure Ratio - Toxizitäts-Expositions-Verhältnis) von 30 gemäß Anhang zur Verordnung (EG) Nr. 546/2011, Teil C, nicht erreicht. Unannehmbare Auswirkungen auf aquatische Organismen seien deshalb nicht auszuschließen. Als Endpunkt für die Bewertung werde in Übereinstimmung mit der einschlägigen Leitlinie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) aus dem Jahr 2013 die ErC50 berücksichtigt (Guidance on tiered risk assessment for plant protection products for aquatic organisms in edge-of-field surface waters, EFSA Journal 2013; 11[7]:3290). Nach der Leitlinie sei diese in Kombination mit einem Bewertungsfaktor (Assessment Factor - AF -) von 10 für die Bewertung des Risikos für Algen und Makrophyten maßgeblich. Es bestehe allerdings Unsicherheit über das Schutzniveau, das mit diesem Ansatz erreicht werde. Die Leitlinie sehe eine künftige Überprüfung bzw. Anpassung vor. Dieser Punkt sei auch im Rahmen des „Central Zone Harmonisation Workshops“ (CZHW) im April 2015 unter den Mitgliedstaaten diskutiert worden. Solange die inzwischen verfügbaren relevanten Informationen zum Schutzniveau nicht auf EU-Ebene bestätigt seien und eine harmonisierte Vorgehensweise nicht feststehe, solle die bestehende Unsicherheit auf Ebene der Mitgliedstaaten im Nationalen Addendum adressiert werden. Auf der Grundlage einschlägiger Veröffentlichungen habe das UBA einen AF von 30 abgeleitet. Dieser Bewertungsfaktor sei erforderlich, um das Schutzniveau für Primärproduzenten auf dem Niveau zu halten, das nach dem vorherigen „Aquatic Guidance Document“ der EU-Kommission aus dem Jahre 2002 mit dem Ansatz des niedrigsten Endpunkts in Verbindung mit dem Faktor 10 erreicht worden sei (European Commission, Guidance Document on Aquatic Ecotoxicology in the context of the Directive 91/414/EEC vom 17.10.2002, Sanco/3268/2001 rev.4 [final]).

Die Klägerin trat der Bewertung des UBA mit Schreiben vom 25. Juni 2018 entgegen. Ein Bewertungsfaktor von 30 sei in der Leitlinie der EFSA nicht vorgesehen. Bei Anwendung des von der EFSA vorgeschlagenen Faktors von 10 erfülle das Pflanzenschutzmittel die Anforderungen für die Erteilung einer Zulassung. Im Hinblick auf den Standpunkt des UBA habe sie weitere Anwendungen erarbeitet, die eine Reduzierung der Aufwandmenge ermöglichten, und deren Zulassung sie zusätzlich beantrage (Anwendungen 00-005 bis 00-014).

Nach Abschluss der Kommentierungsphase erklärte das JKI letztlich mit Schreiben vom 1. Mai 2020 sein Benehmen mit der Zulassung des Pflanzenschutzmittels für die Anwendungen 00-001 und 00-002 sowie 00-005 bis 00-014. Die Anwendungen 00-003 und 00-004 bewertete es entsprechend des ihm vom BVL erteilten Auftrags nicht. Das BfR erklärte mit Schreiben vom 22. Mai 2020 sein Benehmen hinsichtlich sämtlicher beantragter Anwendungen.

Das UBA erteilte sein Einvernehmen mit Schreiben vom 31. Juli 2020 für die Zulassung des Pflanzenschutzmittels hinsichtlich der Anwendungen 00-005 bis 00-014 zeitlich unbefristet nur unter der Voraussetzung der Festsetzung der Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora). Wesentlicher Gehalt dieser Anwendungsbestimmung ist, dass die Anwendung des Pflanzenschutzmittels zum Schutz der nicht zu bekämpfenden Arten der Ackerbegleitflora nur auf maximal 9/10 der zu behandelnden Anbaufläche erfolgen dürfe. Die unbehandelte Teilfläche solle als Überlebensraum dienen und sei deshalb während des Kulturverlaufs auch von der Behandlung mit anderen Pflanzenschutzmittel mit dieser Anwendungsbestimmung auszunehmen. Die Anwendung des Pflanzenschutzmittels müsse zudem in einer Breite von mindestens 20 m zur angrenzenden unbehandelten Teilfläche mit einem verlustmindernden Gerät erfolgen. Für die Zulassung des Pflanzenschutzmittels ohne die genannte Anwendungsbestimmung erteilte es sein Einvernehmen lediglich befristet bis zum 31. Dezember 2020. Für die beantragten Anwendungen 00-001 bis 00-004 versagte es das Einvernehmen vollständig. Hinsichtlich der als zulassungsfähig erachteten Anwendungen seien zudem verschiedene Anwendungsbestimmungen zur Reduzierung von Einträgen durch Abdrift bzw. Abfluss in Oberflächengewässer festzusetzen.

Mit Bescheid vom 24. August 2020 erteilte das BVL der Klägerin die Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. hinsichtlich der Anwendungen 00-005 bis 00-014 mit einer Geltungsdauer bis zum 31. Dezember 2020 ohne die Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora). Für die Anwendungen 00-001 bis 00-004 lehnte es den Zulassungsantrag ab. Zur Begründung führte es zu der teilweisen Versagung der Zulassung aus, die Zulassungsvoraussetzungen gemäß Art. 29 Abs. 1 Buchst. e i. V. m. Art. 4 Abs. 3 Buchst. e ii) Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 seien nicht erfüllt, weil unannehmbare Auswirkungen des Pflanzenschutzmittels auf Primärproduzenten (Algen und Makrophyten) nicht ausgeschlossen werden könnten. Für den Wirkstoff L. und einen von diesem gebildeten Metaboliten sei ein Sicherheitsfaktor von 30 bewertungsbestimmend, der nicht erreicht werde. Zur Herleitung des Sicherheitsfaktors stützte es sich auf die vom UBA bereits im Schreiben vom 25. April 2018 angeführte Begründung. Hinsichtlich der Befristung der für die Anwendungen 00-005 bis
00-014 erteilten Zulassung des Pflanzenschutzmittels verwies es auf die Bindung an das Einvernehmen des UBA und auf die von ihm für rechtswidrig gehaltene Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora). Obwohl es die Dauer der Zulassung regelmäßig nach Art. 32 Abs. 1 Unterabs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 so festlege, dass sie die Dauer der Wirkstoffgenehmigung plus ein Jahr umfasse, könne es wegen der Bindung an die Einvernehmenserklärung des UBA die Zulassung ohne die Anwendungsbestimmung nur befristet bis zum 31. Dezember 2020 erteilen. Für die zugelassenen Anwendungen setzte es jeweils bezogen auf einzelne Anwendungen zudem unter anderem die Anwendungsbestimmungen NG405 (Keine Anwendung auf drainierten Flächen), NW605-1 (Anwendung in Nachbarschaft von Oberflächengewässern nur mit verlustminderndem Gerät mit Vorgaben zur Abdriftminderungsklasse), NW606 (10 m Abstand zu Oberflächengewässern bei Anwendung ohne verlustmindernde Technik), NW706 (Einhaltung eines Randstreifens von mindestens 20 m zwischen behandelten Flächen mit einer Hangneigung von über 2 % und Oberflächengewässern), NW607-1 (Vorgaben zum Abstand zu Oberflächengewässern in Abhängigkeit von der Abdriftminderungsklasse des verlustmindernden Geräts), NW719 (bei Anwendung im Bandappilkationsverfahren ggf. zusätzliche Bekämpfung von Unkräutern zwischen den Reihen nur mit nicht-chemischen Verfahren) und NW800 (keine Anwendung auf gedrainten Flächen zwischen dem 1. November und dem 15. März) fest. Zur Begründung verwies es auch insoweit auf das hohe Gefährdungspotenzial für aquatische Organismen, insbesondere Primärproduzenten, resultierend aus dem fehlenden Erreichen des Sicherheitsfaktors von 30.

Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 16. September 2020 Widerspruch. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 stellte das BVL fest, dass dem Widerspruch hinsichtlich der Befristung der erteilten Zulassung aufschiebende Wirkung bis längstens 30. Juni 2025 zukomme. Die Wirkstoffgenehmigung für den Wirkstoff M. hatte bei Erlass des Bescheides des BVL vom 24. August 2020 eine Geltungsdauer bis zum 30. Juni 2024, die des Wirkstoffs J. eine Geltungsdauer bis zum 31. Mai 2035. Gegenwärtig ist der Wirkstoff M. bis zum 30. September 2024 zugelassen.

Die Klägerin hat bereits am 28. Juni 2017 Untätigkeitsklage erhoben, die sie nach Erteilung des Bescheides des BVL vom 24. August 2020 als gegen die Befristung der Zulassung und die wegen der Risikobewertung für Algen und Makrophyten festgesetzten Anwendungsbestimmungen gerichtete Klage sowie als Klage auf Erteilung einer Zulassung für die abgelehnten Anwendungen fortgesetzt hat.

Mit Urteil vom 29. September 2021 (1 A 130/21) entschied das erkennende Gericht, dass die Berücksichtigung unannehmbarer Auswirkungen auf Arten, die nicht bekämpft werden sollen, gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. e ii) Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 unter dem Vorbehalt der Festlegung von anerkannten wissenschaftlichen Bewertungsmethoden durch die EFSA steht, an denen es für die Beurteilung von Auswirkungen eines Pflanzenschutzmittels auf Nichtzielpflanzen auf der Anwendungsfläche („in-field“) fehle. Derartige Auswirkungen könnten deshalb auch nicht die Erteilung von Nebenbestimmungen, wie der Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora), rechtfertigen. Im Anschluss an diese Entscheidung nahmen das UBA und das BVL in ihrer Verwaltungspraxis von der Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora) bzw. von der vor diesem Hintergrund erfolgten Befristung von Zulassungen Abstand. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2022 gab das BVL dem Widerspruch der Klägerin teilweise statt und hob den Bescheid vom 24. August 2020 hinsichtlich der Befristung der erteilten Zulassung bis zum 31. Dezember 2020 auf. Als neues Zulassungsende setzte es den 30. September 2025 fest. Im Übrigen beschied es den Widerspruch nicht.

Zur Begründung der Klage macht die Klägerin nach Erlass des Bescheides des BVL vom 24. August 2020 eingehend die Rechtswidrigkeit der vor dem Hintergrund der vom UBA geforderten Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora) erfolgten Befristung der Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. geltend und trägt im Übrigen im Wesentlichen vor: Die Heranziehung eines Sicherheitsfaktors von 30 bei der aquatischen Risikobewertung sei rechtswidrig. Ein solcher Sicherheitsfaktor entspreche nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik. In der Verordnung (EG) Nr. 546/2011, Teil II Buchst. C. Ziff. 2.8.2, sei ein TER-Wert von 10 vorgegeben. In dem einschlägigen Guidance Document, das gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. e Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 die verbindliche Methode zur Risikobewertung für aquatische Organismen bestimme und von der Europäischen Kommission anerkannt worden sei (vgl. European Commission, Guidance Document on tiered risk assessment for Plant Protection Products for aquatic organisms in edge-of-field surface waters in the context of Regulation [EC] No. 1107/2009 vom 15.1.2015, SANTE-2015-00080), habe die EFSA an diesem Wert festgehalten und lediglich in Aussicht gestellt, die wissenschaftliche Grundlage zukünftig noch einmal näher zu untersuchen. Vom UBA vorgebrachte Bedenken hätten die EFSA bislang nicht zu einer Änderung veranlasst. Im Jahre 2019 habe sie (lediglich) ausgeführt, die Fragestellung bei einer Überarbeitung des Guidance Document auf der Grundlage aller verfügbaren wissenschaftlichen Daten und Unterlagen beurteilen zu wollen (vgl. Technical Report „Outcome of the Pesticides Peer Review Meeting on general recurring issues in ecotoxicology“ vom 28.6.2019). Das UBA sei nicht berechtigt, eigenständig einen Sicherheitsfaktor von 30 zugrunde zu legen, der auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht zur Anwendung komme. Entgegen dem Verständnis der Beklagten habe die EFSA den Mitgliedstaaten in ihrem Guidance Document auch keine Möglichkeit eingeräumt, von dem Sicherheitsfaktor 10 abzuweichen. Ein solches Vorgehen wäre im Übrigen rechtlich unzulässig. Soweit sich die Beklagte auf Absprachen der Mitgliedstaaten der zentralen Zulassungszone im Central Zone Steering Committee (CZSC) stütze, handele es sich um ein rechtlich nicht vorgesehenes informelles Gremium, dem auch nicht die Befugnis zukomme, Aufgaben der EFSA zu übernehmen. Unabhängig davon dürften Änderungen des Standes der Wissenschaft und Technik nur bis zum Ablauf der aus Art. 37 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 folgenden Entscheidungsfrist von grundsätzlich zwölf Monaten berücksichtigt werden. Das UBA habe den Sicherheitsfaktor von 30 allerdings erstmals nach Ablauf dieser Frist am 24. April 2016 im Herbst 2017 erwähnt und erst im Mai 2019 im Internet bekannt gemacht. Auch inhaltlich sei die Anwendung eines Sicherheitsfaktors von 30 nicht hinreichend begründet, weil es an unabhängigen, nicht unter Mitwirkung von Mitarbeitern des UBA erstellten und einem wissenschaftlichen Peer Review unterzogenen Studien mit überprüfbarer veröffentlichter Datengrundlage fehle. Den Annahmen des UBA stünden zudem zwei Studien entgegen, die einen Bewertungsfaktor von 10 für ausreichend hielten. Unter Berücksichtigung des Sicherheitsfaktors von 10 seien unannehmbare Auswirkungen des Pflanzenschutzmittels nicht zu erwarten. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten habe sich das vom Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ausgehende Risiko für aquatische Nichtzielorganismen in Deutschland in den letzten Jahren unter Berücksichtigung einer Veröffentlichung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft verringert, sich die Lage für aquatische Nichtzielorganismen mithin verbessert. Damit sei nicht nur die Versagung der Zulassung für die Anwendungen 00-001 bis 00-004, sondern auch die Festsetzung der angegriffenen Anwendungsbestimmungen rechtswidrig.

Im Hinblick auf den Widerspruchsbescheid des BVL vom 16. Februar 2022 haben die Beteiligten das Verfahren insoweit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt, als die Klage auch die Geltungsdauer der erteilten Zulassung und die Anwendungsbestimmung NT(neu-Ackerbegleitflora) zum Gegenstand hatte (Klageanträge 1b) und c) des Schriftsatzes der Klägerin vom 30.11.2020).

Die Klägerin beantragt zuletzt,

die Beklagte zu verpflichten, ihr die Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. auch für die Anwendungsgebiete 001, 002, 003 und 004 zu erteilen, und den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2022 insoweit aufzuheben, sowie den Bescheid vom 24. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2022 insoweit aufzuheben, als die Anwendungsbestimmungen NG405, NW605-1, NW606, NW706, NW607-1, NW719 und NW800 festgesetzt worden sind.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erwidert zuletzt insbesondere: Hinsichtlich der aquatischen Risikobewertung, die Anlass für die Versagung der Zulassung für die Anwendungsgebiete 00-001 bis 00-004 und für die Festsetzung der angegriffenen Anwendungsbestimmungen gewesen sei, sei entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin der Stand von Wissenschaft und Technik im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung maßgeblich. Die Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors von 30 in der aquatischen Risikobewertung sei auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Bereits bei der Notifizierung des einschlägigen Guidance Document der EFSA habe das UBA darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Endpunktes ErC50 in Kombination mit einem Sicherheitsfaktor von 10 eine Verschiebung des Schutzniveaus gegenüber der Bewertung nach dem zuvor geltenden Guidance Document der EU-Kommission aus dem Jahre 2002 zur Folge habe, nach dem für die Bewertung der niedrigste vorliegende Endpunkt (zumeist EbC50 oder EyC50) heranzuziehen gewesen sei. Auswertungen von Toxizitätsdaten hätten zwischenzeitlich ergeben, dass es in 33 % mehr Fällen zu einer Abweichung vom Schutzniveau komme. Seit dem Jahr 2015 habe das UBA seine Ergebnisse zur Diskussion unter den Mitgliedstaaten der zentralen Zulassungszone gestellt. Im September 2017 hätten die beteiligten Mitgliedstaaten im CZSC die Notwendigkeit anerkannt, die entstehende Unsicherheit national zu adressieren, und beschlossen, in entsprechenden Fällen im Rahmen der zonalen Risikobewertung einen Hinweis in das Core Assessment aufzunehmen, nach dem die Mitgliedstaaten die Unsicherheit, falls für erforderlich erachtet, auf nationaler Ebene im National Addendum adressieren sollten, auch wenn ein harmonisierter Ansatz in der zentralen Zone sehr zu begrüßen wäre. Die Einigung sei in ein Arbeitsdokument aufgenommen worden (Working document on Risk Assessment of Plant Protection Products in the Central Zone - Ecotoxicology -, Fassung vom Mai 2021, Ziff. 3.3.7). Entsprechend der getroffenen Übereinkunft sei das UBA im Core Assessment verfahren, indem es dort eine Bewertung nach dem Guidance Document der EFSA und der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 vorgenommen, aber auf die bestehende Unsicherheit hingewiesen habe. In der nationalen Bewertung sei demgegenüber der Sicherheitsfaktor von 30 berücksichtigt worden. Für Deutschland sei dies für notwendig erachtet worden, weil die Gewässer in Deutschland in Bezug auf Wasserplanzen/Phytobenthos bereits einen schlechten Zustand aufwiesen. Deutschlandweit liege der Anteil der Fließstrecken, die insoweit einen mindestens guten Zustand erreichten, bei deutlich unter 50 %. Unter Berücksichtigung der sich aus der Roten Liste ergebenden Daten zur Gefährdung der Vegetation von Gewässern und des Entwicklungstrends der letzten Jahre sei der Zustand der Makrophyten in für den Agrarraum relevanten Vegetationsformen als vulnerabel einzuordnen. Für eine Vielzahl von Arten liege bereits eine Gefährdung vor und der Entwicklungstrend zeige ein gleichbleibendes bis hin zu einem sich verschlechternden Bild. Einer weiteren Verschlechterung müsse entgegengewirkt werden. Auch die EFSA erkenne in ihrem Guidance Document aus dem Jahre 2013 und dem von der Klägerin in Bezug genommenen Technical Report aus dem Jahre 2019 die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Überprüfung der bei der Bewertung verwendeten Sicherheitsfaktoren an. Einen konkreten Zeitplan für die Überarbeitung des Guidance Document gebe es allerdings nicht. Soweit die EFSA in ihrem Guidance Document ausführe, dass es eine Überarbeitung des Risikobewertungsschemas auslösen solle, wenn es eine systematische Abweichung für Stoffe mit einer bestimmten Wirkungsweise gebe (Guidance Document, S. 166), könnte daraus abgeleitet werden, dass die EFSA es den Mitgliedstaaten freistelle, erforderlichenfalls eine Anpassung der Risikobewertung vorzunehmen. Zumindest bis zu einer Überarbeitung des Guidance Document durch die EFSA könnten die Mitgliedstaaten als ermächtigt angesehen werden, ein aktualisiertes und zumindest in der zentralen Zulassungszone harmonisiertes Vorgehen abzustimmen. Zur Anwendungsbestimmung NW719 betreffend die Vorgabe, die Bekämpfung von Unkräutern zwischen den Reihen ausschließlich mit nicht-chemischen Verfahren durchzuführen, halte es das BVL in Abweichung vom UBA für rechtlich problematisch, dass nicht die Anwendung des zur Zulassung stehenden Pflanzenschutzmittels G., sondern die anderer, für die Anwendung in Zuckerrüben bereits ohne entsprechende Einschränkung zugelassener Pflanzenschutzmittel reguliert werde, obgleich für letztere bereits festgestellt worden sei, dass sie in dieser Anwendung keine unvertretbaren Auswirkungen auf den Naturhaushalt hätten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.

Die Klage war ursprünglich als Untätigkeitsklage zulässig. Gemäß § 75 Satz 1 VwGO ist die Verpflichtungsklage ohne Durchführung eines Vorverfahrens zulässig, wenn über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Liegt nach Ablauf einer Sperrfrist von drei Monaten seit Antragstellung (§ 75 Satz 2 VwGO) ein zureichender Grund für die Verzögerung der Bescheidung des Antrags durch die Behörde vor, setzt das Gericht nach § 75 Satz 3 VwGO das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus. Ohne eine derartige Aussetzung des Verfahrens bleibt eine nach § 75 Satz 1 VwGO erhobene Untätigkeitsklage zulässig und erfordert die Durchführung des Vorverfahrens selbst dann nicht, wenn die Behörde den Kläger während des Rechtsstreits ablehnend bescheidet (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.6.1991 - 1 C 42/88 -, BVerwGE 88, 254 = NVwZ 1992, 180; Urt. v. 13.1.1983 - 5 C 114/81 -, BVerwGE 66, 342 = DVBl. 1983, 849; Porsch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Juli 2019, § 75 Rn. 26; Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser u.a., VwGO, 7. Aufl., § 75 Rn. 29). Die Einbeziehung eines nachträglich ergangenen ablehnenden Bescheides ist in diesem Fall nicht an die Einhaltung der Klagefrist von einem Monat gemäß § 74 VwGO gebunden (vgl. Saurenhaus/Buchheister in: Wysk, VwGO, 2. Aufl., § 75 Rn. 10; Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser u.a., VwGO, 7. Aufl., § 75 Rn. 28 f.; Rennert in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl., § 75 Rn. 20 i. V. m. Rn. 18; OVG Schl.-Holst., Beschl. v. 4.9.2014 - 4 LB 2/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 13.9.2012 - 9 S 2153/11 -, juris; OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 4.8.2010 - 2 A 796/09 -, juris).

Die Klägerin hat ihre Klage erst rund zwei Jahre nach der Antragstellung beim BVL erhoben. Die Bearbeitungsfrist von zwölf Monaten für einen Antrag auf Erteilung der Zulassung für ein Pflanzenschutzmittel gemäß Art. 37 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (ABl. L 309 S. 1) war bei Klageerhebung abgelaufen. Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 75 Satz 3 VwGO ist nicht erfolgt. Die Klage ist daher ohne Rücksicht darauf zulässig, dass ein Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2020 nicht vollständig abgeschlossen wurde. Die Klägerin hat den Bescheid vom 24. August 2020 auch zulässig in das Klageverfahren einbezogen; insbesondere war die Einbeziehung nicht fristgebunden.

Nach Erlass des Bescheides des BVL vom 24. August 2020 konnte die Klägerin die Klage zulässigerweise fortführen. Wenn die erhobene Untätigkeitsklage - wie hier - von Anfang an zulässig war, kann die Klägerin im Falle des Erlasses eines für sie negativen Verwaltungsakts ihre Klage unter Einbeziehung des ergangenen negativen Verwaltungsakts als Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage fortführen (vgl. Buchheister in: Wysk, VwGO, 3. Aufl., § 75 Rn. 10; Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl., § 75 Rn. 21 ff.). Hier ist für die Fortführung der Klage - soweit sie nicht für erledigt erklärt worden ist - die (isolierte) Anfechtungsklage hinsichtlich der angegriffenen, die Klägerin belastenden Anwendungsbestimmungen und die Verpflichtungsklage hinsichtlich der Versagung der Zulassung für die Anwendungen 00-001 bis 00-004 statthaft.

Die Klage ist auch begründet. Die mit der Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. festgesetzten Anwendungsbestimmungen NG405, NW605-1, NW606, NW706, NW607-1, NW719 und NW800 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat zudem Anspruch auf die Erteilung einer Zulassung für das Pflanzenschutzmittel auch für die zur Zulassung gestellten Anwendungen 00-001 bis 00-004 (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die im Zulassungsbescheid des BVL vom 24. August 2020 festgesetzten Anwendungsbestimmungen NG405, NW605-1, NW606, NW706, NW607-1, NW719 und NW800 sind rechtswidrig, da sie bei der Bewertung des Gefährdungspotenzials von aquatischen Organismen auf der Heranziehung eines Sicherheitsfaktors von 30 anstatt von 10 beruhen.

Zur Begründung der genannten Anwendungsbestimmungen wird auf das hohe Gefährdungspotenzial für aquatische Organismen durch das Pflanzenschutzmittel hingewiesen und unter Heranziehung eines Sicherheitsfaktors von 30 die jeweilige Anwendungsbestimmung für erforderlich gehalten. Das BVL und das UBA haben in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass die streitgegenständlichen Anwendungsbestimmungen auf einem herangezogenen Sicherheitsfaktor von 30 beruhen und nicht erteilt worden wären, wenn ein Sicherheitsfaktor von 10 berücksichtigt worden wäre.

Die Heranziehung eines Sicherheitsfaktors von 30 anstatt von 10 ist jedoch mit den unionsrechtlichen Bestimmungen für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nicht vereinbar.

Im zonalen Zulassungsverfahren wendet der berichterstattende Mitgliedstaat - wie hier Deutschland - bei der Prüfung der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels nach Art. 36 Abs. 1 Unterabs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 die in Art. 29 Abs. 6 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 genannten einheitlichen Grundsätze für die Bewertung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln an, um so weit wie möglich festzustellen, ob das Pflanzenschutzmittel bei Verwendung gemäß Art. 55 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 in derselben Zone und unter realistisch anzunehmenden Verwendungsbedingungen die Anforderungen gemäß Art. 29 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 erfüllt. Die einheitlichen Grundsätze nach Art. 29 Abs. 6 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 werden dabei in Verordnungen festgelegt, die nach dem in Art. 79 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 genannten Beratungsverfahren ohne wesentliche Änderungen erlassen werden. Eine solche Festlegung erfolgte mit der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 der Kommission vom 10. Juni 2011 (ABl. L 155 v. 11.6.2011, S. 127, geänd. durch Verordnung (EU) 2018/676 v. 3.5.2018, ABl. L 114 v. 4.5.2018, S. 8). Die Verordnung (EU) Nr. 546/2011 enthält in ihrem Anhang einheitliche Grundsätze für die Bewertung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln gemäß Art. 29 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (siehe Art. 1 Verordnung (EU) Nr. 546/2011). Dabei enthält Teil I des Anhanges Grundsätze für chemische Pflanzenschutzmittel. Neben Bewertungsgrundsätzen in Abschnitt B werden für solche chemischen Pflanzenschutzmittel in Abschnitt C Entscheidungsverfahren vorgegeben. Dabei sind nach den speziellen Grundsätzen gemäß Ziff. 2.5.2. auch Auswirkungen auf nicht zu den Zielgruppen gehörende Arten zu berücksichtigten, wobei Ziff. 2.5.2.2. die Exposition von Wasserorganismen in den Blick nimmt. Spiegelstrich 2 von Ziff. 2.5.2.2. bestimmt dabei, dass soweit die Möglichkeit der Exposition von Wasserorganismen besteht, die Zulassung nicht erteilt wird, wenn das Verhältnis zwischen Hemmung des Algenwachstums und Exposition weniger als 10 beträgt.

Mit dieser Regelung in Teil I, Abschnitt C, Ziff. 2.5.2.2., Spiegelstrich 2 des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 wird der zwischen den Beteiligten strittige Sicherheitsfaktor von 10 festgelegt. Insoweit wurde auch im Registration Report, Part B, Section 6 sowohl im Core Assessment (Stand: 28.4.2020, S. 20 und S. 82) als auch im National Addendum (Stand: April 2020, S. 15 und S. 42) und im National Assessment (Stand: 24.8.2020, S. 25 f.) auf Teil I, Abschnitt C, Ziff. 2.5.2.2. des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 für den Sicherheitsfaktor Bezug genommen. Auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten das BVL und das UBA, dass die Regelung in Teil I, Abschnitt C, Ziff. 2.5.2.2., Spiegelstrich 2 des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 den Sicherheitsfaktor von 10 vorgibt. Soweit sich die Klägerin für den Sicherheitsfaktor von 10 auf Teil II, Abschnitt C, Ziff. 2.8.2. des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 bezieht, ist diese Regelung hingegen nicht heranzuziehen, da es sich bei dem Pflanzenschutzmittel G. nicht um ein unter Teil II fallendes Pflanzenschutzmittel mit enthaltenen Mikroorganismen handelt.

Von dem in der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 ausdrücklich festgelegten Sicherheits-faktor von 10 kann jedoch nicht durch die von dem BVL und dem UBA angeführte Vereinbarung der Mitgliedstaaten der zentralen Zone abgewichen werden. Zwar sieht das UBA aus naturwissenschaftlicher Perspektive eine Änderung bzw. Erhöhung des Sicherheitsfaktors als erforderlich an, da mit der Verschiebung der Endpunkte durch das Guidance Document der EFSA „Guidance on tiered risk assessment for plant protection products for aquatic organisms in edge-of-field surface waters“ aus dem Jahr 2013 von den Endpunkten EyC50 bzw. EbC50 zum Endpunkt ErC50 unter gleichbleibender Anwendung eines Sicherheitsfaktors von 10 eine Absenkung des bisher im Rahmen der Risikobewertung für Algen und Wasserpflanzen erreichten Schutzniveaus eintreten würde. Auch aus der Vereinbarung des Central Zone Steering Committee (CZSC) der Mitgliedstaaten der zentralen Zone vom 29. September 2017 wird ein solch befürchtetes Absinken des Schutzniveaus daraus ersichtlich, dass nach dieser Vereinbarung ein entsprechender Bullet Point in das Core Assessment aufgenommen werden kann, mit dem den Unsicherheiten bezüglich dem neuen Endpunkt ErC50 bis zur Klärung auf EU-Ebene auf mitgliedstaatlicher Ebene im National Addendum begegnet werden könne (siehe dazu Protokoll des CZSC v. 29.9.2017 und Bullet Point „Use of ErC50 or EbC50 values for algae and aquatic plants“). Aber weder die vom UBA für erforderlich gehaltene Überarbeitung des Sicherheitsfaktors noch die Vereinbarung des CZSC können eine Abweichung von dem in der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 ausdrücklich normierten Sicherheitsfaktor von 10 rechtfertigen. Denn der Sicherheitsfaktor von 10 wurde in der von der Kommission erlassenen Verordnung (EU) Nr. 546/2011 zahlenmäßig konkret festgeschrieben. Eine Abweichung davon würde zum einen gegen diese Verordnung verstoßen und zum anderen faktisch einer Abänderung dieser gleichkommen. Eine Änderung der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 wäre aber ausschließlich von der Kommission vorzunehmen. Gemäß Art. 29 Abs. 6 Satz 2 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 werden spätere Änderungen nach Art. 78 Abs. 1 Buchst. c Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 vorgenommen. Danach werden Änderungen nach dem Regelungsverfahren mit Kontrolle gemäß Art. 79 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 erlassen. Letzterer verweist dafür wiederum auf das Verfahren nach Art. 5a Abs. 1 bis 4 und Art. 7 unter Beachtung von Art. 8 des Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 (ABl. L 184 v. 17.7.1999, S. 23; geänd. durch Beschl. 2006/512/EG v. 17.7.2006, ABl. L 200 v. 22.7.2006, S. 11). Dieser Beschluss regelte das sog. Komitologieverfahren im Rahmen der Tertiärrechtssetzung. Zwar wurde der Beschluss durch die Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 (ABl. L 55 v. 28.2.2011, S. 13) ersetzt. Art. 5a des Beschlusses 1999/468/EG behält allerdings weiterhin seine Wirksamkeit (siehe Art. 12 Satz 2 Verordnung (EU) Nr. 182/2011). Das in Art. 5a des Beschlusses 1999/468/EG normierte Regelungsverfahren mit Kontrolle sieht eine ausschließliche Befugnis der Kommission unter Beteiligung eines Regelungskontrollausschusses, des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 vor. Eine Abänderung wie hier durch eine Vereinbarung des CZSC der Mitgliedstaaten der zonalen Zone ist somit nicht möglich. Diese ausschließliche Befugnis der Kommission wird in der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 auch nochmals durch dessen Erwägungsgrund 55 herausgestellt. Danach erhält diese u. a. die Befugnis, Änderungen der Verordnungen über einheitliche Grundsätze für die Bewertung und Zulassung sowie deren Anhänge nach dem Regelungsverfahren mit Kontrolle gemäß Art. 5a des Beschlusses 1999/468/EG zu erlassen, da es sich hierbei um Maßnahmen von allgemeiner Tragweite handelt, die eine Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009, auch durch Hinzufügung neuer nicht wesentlicher Bestimmungen, bewirken. Einer entsprechenden Vereinbarung des CZSC der Mitgliedstaaten der zonalen Zone steht damit auch die Tragweite der in der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 durch die Kommission niedergelegten einheitlichen Grundsätze entgegen.

Soweit das UBA in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, dass den Bedenken hinsichtlich des erreichten Schutzniveaus auch dadurch Rechnung getragen werden könne, dass unter Beibehaltung des Sicherheitsfaktors von 10 ein anderer Endpunkt in die Bewertung eingestellt werde (so laut Angaben des UBA z. B. in Tschechien und den Niederlanden der Fall, welche statt des Endpunktes ErC50 den früheren Endpunkt EbC50 heranziehen), weist das Gericht darauf hin, dass eine Heranziehung eines anderen Endpunktes als ErC50 ebenfalls rechtlich nicht haltbar wäre. Denn mit dem Guidance Document „Guidance on tiered risk assessment for plant protection products for aquatic organisms in edge-of-field surface waters” (EFSA Journal 2013; 11(7):3290) aus dem Jahr 2013 hat die EFSA den (neuen) Endpunkt ErC50 ausdrücklich festgelegt und damit eine anerkannte wissenschaftliche Bewertungsmethode für unannehmbare Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Buchst. e Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 geschaffen (siehe zum weiten Begriffsverständnis des Schutzgutes der Umwelt im Rahmen von Art. 4 Abs. 3 Buchst. e Verordnung (EG) Nr. 1107/2009: VG Braunschweig, Urteile v. 4.9.2019 - 9 A 11/19 und 9 A 18/19 -, juris). Die ESFA hat in diesem Guidance Document für die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Algen und Wasserpflanzen als aquatische Organismen bewusst einen anderen Endpunkt gewählt und ist von den vorherigen Endpunkten EbC50 bzw. EyC50 auf den Endpunkt ErC50 übergegangen (siehe Guidance Document, a.a.O., S. 80). In Anlehnung an die Rechtsprechung des erkennenden Gerichts bezüglich des Fehlens solcher Bewertungsmethoden (siehe Urteile v. 4.9.2019 - 9 A 11/19 und 9 A 18/19 -, juris; Urt. v. 29.9.2021 - 1 A 130/21 -, juris) kann eine Abänderung der von der EFSA vorgegebenen Bewertungsmethode nur von dieser selbst und nicht von den Mitgliedstaaten vorgenommen werden. Im zonalen Zulassungsverfahren gilt dies sowohl für den berichterstattenden Mitgliedstaat als auch für beteiligte Mitgliedstaaten. Ihnen ist es verwehrt, eigene Bewertungsmethoden zu entwickeln und anzuwenden, da nur so das mit der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 verfolgte Harmonisierungsbestreben durch einheitliche Bewertungsmethoden in sämtlichen Mitgliedstaaten der EU ermöglicht werden kann.

Soweit das BVL darauf hinweist, dass die EFSA in ihrem Guidance Document aus dem Jahr 2013 ausführe, es solle eine Überarbeitung des Risikobewertungsschemas auslösen, wenn es eine systematische Abweichung für Stoffe mit einer bestimmten Wirkungsweise gebe (Guidance Document, dort S. 166), erkennt die Kammer in dieser Passage des Guidance Document keine solche Öffnung, wodurch den Mitgliedstaaten eine Anpassung der Risikobewertung freigestellt oder zumindest bis zu einer Überarbeitung des Guidance Document durch die EFSA ein aktualisiertes und zumindest in der zentralen Zulassungszone harmonisiertes Vorgehen ermöglicht werden soll. Eine solche Öffnung wäre im Übrigen auch rechtlich nicht haltbar, weil die Kompetenz für die Festlegung der Bewertungsmethoden der EFSA zugewiesen ist.

Eine Abweichung von dem Sicherheitsfaktor 10 konnte auch nicht auf Grundlage von Art. 36 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 erfolgen, auf den sich die Beklagte - im Gegensatz zu anderen Verfahren - hier auch nicht maßgeblich stützt.

Art. 36 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 berechtigt einen Mitgliedstaat abweichend von der Bewertung im Core Assessment durch den berichterstattenden Mitgliedstaat (nationale) Risikominderungsmaßnahmen zu ergreifen oder als ultima ratio die Zulassung des Pflanzenschutzmittels in seinem Gebiet zu versagen (vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 3.9.2020 - 9 A 693/17 -, n. v., S. 15).

Aus den Ausführungen im gerichtlichen Verfahren und der Diskussion unter den Mitgliedstaaten der zentralen Zulassungszone wird aber deutlich, dass das UBA von einem grundlegenden, von den nationalen Bedingungen in Deutschland losgelöstem Absinken des Schutzniveaus ausgeht, das mithin nicht national, sondern im Core Assessment zu adressieren wäre. Dargelegt wird insoweit vom UBA, dass die Revision des Guidance Document der EFSA aus dem Jahr 2013 und die damit einhergehende Festlegung des neuen Endpunktes ErC50 zu einer systematischen Absenkung des Schutzniveaus für Algen und Makrophyten führe, da der Sicherheitsfaktor von 10 nicht überprüft oder verändert worden sei. Studien würden zeigen, dass bei einer Verschiebung des Endpunktes von EbC50 bzw. EyC50 hin zu ErC50 für die Makrophyte Lemna sp. der Endpunkt dreieinhalbmal höher sei, bei Algen zeige sich ein um den Faktor 6,9 erhöhter Endpunkt. Dass der Endpunkt ErC50 speziell für die aquatischen Organismen in Deutschland solche Auswirkungen hätte, wird aber nicht dargelegt. Vielmehr wird allgemein eine durch die Absenkung des Schutzniveaus aufgetretene Wissenslücke bezüglich unannehmbarer Risiken für aquatische Primärproduzenten deklariert, die durch Studien in 2017 und 2018 unter Validierung des Sicherheitsfaktors belegt und an die EFSA adressiert worden sei. Daraus wird bereits ersichtlich, dass das UBA ebenso wie die Behörden der anderen Mitgliedstaaten der zentralen Zone von einem generellen Absinken des Schutzniveaus durch den neuen Endpunkt ErC50 ausgehen, ohne dass dies speziell auf einen konkreten Mitgliedstaat und dessen nationale Bedingungen bezogen wurde. Diesem Problem wäre daher auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene zu begegnen. Dies verdeutlichen gerade auch die Bemühungen des UBA und des CZSC, an die EFSA und die Kommission heranzutreten und eine Überarbeitung auf EU-Ebene zu erreichen.

Soweit das UBA ergänzend Ausführungen zum Zustand der Oberflächengewässer bzw. darin lebendender Wasserorganismen in Deutschland macht, ist lediglich ergänzend darauf hinzuweisen, dass wegen der Beschränkung der Betrachtung auf die Verhältnisse in Deutschland und der fehlenden Darstellung der Situation in anderen Mitgliedstaaten auch insoweit nicht angenommen werden kann, dass es sich um eine Problemstellung handelt, die nicht andere Mitgliedstaaten gleichermaßen betrifft und deshalb im Core Assessment zu betrachten wäre, mithin eine alleinige nationale Bewertung nicht zu stützen vermag.

Soweit das CZSC am 29. September 2017 einen Bullet Point vereinbart hat, welcher im Core Assessment aufgenommen werden könne und wonach etwaige Unsicherheiten bezüglich des Endpunktes ErC50 auf nationaler Ebene im National Addendum adressiert werden könnten, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Denn dies wäre als Öffnungsklausel und Übertragung von weitergehenden Prüfungskompetenzen zu werten, die nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts eine weitere Überprüfung auf nationaler Ebene nicht ermöglicht (siehe VG Braunschweig, Urt. v. 3.9.2020 - 9 A 693/17 -, n. v., S. 14; Urt. v. 12.4.2018 - 9 A 44/16 -, juris Rn. 108). Wie dargelegt wurde der Bullet Point vom CZCS gerade aufgenommen, da auf europäischer Ebene bislang keine Klärung der Unsicherheiten vorgenommen werden konnte. Bereits dies verdeutlicht, dass mit dem Bullet Point eine Erweiterung der nationalen mitgliedstaatlichen Prüfungskompetenzen erfolgen sollte, und wird nochmals dadurch bestätigt, dass im Bullet Point zusätzlich am Ende aufgenommen wurde, dass eine Harmonisierung auf Ebene der zentralen Zone sehr begrüßt werde („[…] although it would be highly appreciated to have a harmonised approach in the central zone.“).

Weder die Vereinbarung des CZSC noch die etwaigen nationalen Risikominderungsmaßnahmen können daher die Heranziehung des Sicherheitsfaktors 30 anstatt des in der Verordnung (EU) Nr. 546/2011 normierten Sicherheitsfaktors 10 rechtfertigen. Insoweit sind die streitgegenständlichen Anwendungsbestimmungen, die auf einem Sicherheitsfaktor von 30 beruhen, rechtswidrig und aufzuheben.

Auf die vom BVL hinsichtlich der Anwendungsbestimmung NW719 geäußerten rechtlichen Bedenken kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an.

Kann der Sicherheitsfaktor von 30 der aquatischen Risikobewertung - wie ausgeführt - nicht zugrunde gelegt werden, sind auch keine Gründe für die Versagung der Zulassung für das Pflanzenschutzmittel G. mit den Anwendungen 00-001 bis 00-004 erkennbar. Die auf die Verpflichtung der Beklagten auf Erteilung einer Zulassung auch für diese Anwendungen gerichtete Klage ist ebenfalls begründet.

Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, ergeht die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO. Insoweit entspricht es billigem Ermessen, der Beklagten die Kosten aufzuerlegen. Mit der Festsetzung einer neuen Geltungsdauer für die erteilte Zulassung mit Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2022 hat sich die Beklagte in die Rolle der Unterlegenen begeben.

Im Übrigen folgt die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 ZPO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 52 Abs. 1 GKG.