Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 20.10.2009, Az.: 1 Ss 143/09
Anforderungen an die Rüge des Fehlens eines rechtlichen Hinweises i.S.v. § 265 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO)
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 20.10.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ss 143/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 25492
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2009:1020.1SS143.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Osnabrück - 22.05.2009 - AZ: 7 Ns 131/08
Rechtsgrundlagen
- § 265 Abs. 1 StPO
- § 344 Abs. 2 S. 2 StPO
Fundstellen
- NJW 2009, 3669-3670
- NJW-Spezial 2009, 778
- StRR 2009, 442 (red. Leitsatz)
- StraFo 2010, 116-117
Amtlicher Leitsatz
1. Eine Verfahrensrüge, mit der beanstandet wird, dass der wegen Beleidigung, Widerstandes und Sachbeschädigung Angeklagte - ohne vorherigen Hinweis - wegen Vollrausches verurteilt wurde, ist nicht unzulässig, weil die Revision nicht auf ein Schreiben des Vorsitzenden eingeht, in welchem dem Angeklagten ohne Angabe einer Strafvorschrift eine mögliche Verurteilung wegen "Rauschtaten" mitgeteilt wurde.
2. Eine solche Mitteilung ist kein ordnungsgemäßer Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO.
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück vom 22. Mai 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.
Gründe
Der Angeklagte war vom Amtsgericht Meppen mit Urteil vom 04. Juni 2008 wegen Beleidigung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung jeweils im Zustand verminderter Schuldfähigkeit zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 5 Euro verurteilt worden, wobei dem Angeklagten gestattet wurde, die Geldstrafe in monatlichen Raten zu zahlen.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt, um einen Freispruch zu erreichen. Die Staatsanwaltschaft hat ebenfalls Berufung eingelegt und damit die Verhängung einer Freiheitsstrafe sowie die Anordnung der Unterbringung in eine Entziehungsanstalt erstrebt.
Das Landgericht Osnabrück hat mit Urteil vom 22. Mai 2009 die Berufung des Angeklagten verworfen und auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil dahin geändert, dass dieser wegen "vorsätzlicher Rauschtat" zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet wird. Als angewandte Vorschriften sind §§ 323a, 64 StGB angegeben.
Die gegen das Berufungsurteil vom Angeklagten eingelegte Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, ist zulässig und hat mit einer Verfahrensrüge den aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Erfolg.
Der Angeklagte rügt u. a. die Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO mit der Begründung, das Landgericht habe ihn ohne vorherigen Hinweis wegen vorsätzlichen Vollrausches gemäß § 323a StGB verurteilt, obwohl ihm in der gerichtlich zugelassenen Anklage kein Verstoß gegen dieses Strafgesetz zur Last gelegt worden sei. dort sei er vielmehr beschuldigt worden, einen anderen beleidigt, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet und rechtswidrig fremde Sachen beschädigt oder zerstört zu haben.
Diese Rüge ist in zulässiger Weise erhoben worden. In ihr werden entsprechend § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO die den Mangel enthaltenden Tatsachen wiedergegeben. Insbesondere teilt die Revisionsbegründung mit, dass ein der zweitinstanzlich ergangenen Verurteilung entsprechender Hinweis auf eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes nach § 265 Abs. 1 StPO im gesamten Verfahren nicht erteilt worden ist. Das reicht für die Zulässigkeit der Verfahrensrüge insoweit aus.
Eine andere Beurteilung ergibt sich - entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft - auch nicht daraus, dass in der Revisionsbegründung auf das Schreiben des Strafkammervorsitzenden nicht eingegangen wird, das dieser unter Übersendung des psychiatrischen Sachverständigengutachtens mit der Terminsladung am 27. März 2009 an den Angeklagten und den Verteidiger richtete. In dem Schreiben, das keine Strafvorschrift anführt, wird mitgeteilt, dass "eine Verurteilung wegen Rauschtaten" und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Betracht komme. Auf dieses Schreiben musste der Revisionsführer im Rahmen der Rüge der Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO nicht eingehen, weil es ersichtlich völlig ungeeignet war, als ein dieser Norm entsprechender Hinweis gewertet zu werden.
Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Bestimmung darüber, in welcher Weise ein Angeklagter auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hinzuweisen ist. Aus dem Zweck der Vorschrift, dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich gegenüber dem neuen Vorwurf zu verteidigen und ihn vor Überraschungen zu schützen, ergibt sich jedoch, dass ein Hinweis nur ausreichend ist, wenn er so gehalten ist, dass er dem Angeklagten und seinem Verteidiger ermöglicht, ihre Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Der Hinweis muss ihnen deshalb erkennbar machen, welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts in Betracht kommt ist und durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale möglicherweise als erfüllt ansieht. nennt ein Gesetz mehrere gleichwertig nebeneinander stehende Begehungsweisen, so muss auch darauf hingewiesen werden, welche in Betracht kommt, vgl. BGH NStZ 1983, 34. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 265 Rdn. 31 mit weiteren Nachweisen.
Diesen Erfordernissen wird das Schreiben vom 27. März 2009 auch nicht ansatzweise gerecht. In ihm wird weder die Bezeichnung der Straftat, wegen der später die Verurteilung erging, nämlich Vollrausch, noch der einschlägige Paragraph des Strafgesetzbuches angegeben. Der dort gebrauchte Begriff "Rauschtat" wird im Strafgesetzbuch nicht als Bezeichnung einer Straftat verwandt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter einer "Rauschtat" am ehesten die Begehung eines Delikts im Alkoholrausch verstanden. Hierzu passt es. dass in dem erwähnten Schreiben von Rauschtaten - also mehreren Straftaten - die Rede ist. Als Vollrausch gemäß § 323a StGB wäre nach den Umständen des Falles demgegenüber nur eine Straftat in Betracht gekommen. Hinzu kommt, dass dem Schreiben des Strafkammervorsitzenden nicht zu entnehmen war, ob eine vorsätzliche oder eine fahrlässige Tatbegehung in Betracht kommen soll, was angesichts der Tatbestandsalternativen des § 323a Abs. 1 StGB für einen Hinweis nach§ 265 Abs. 1 StPO erforderlich gewesen wäre.
Der Angeklagte weist zu Recht darauf hin, dass eine Verurteilung wegen "Rauschtaten" im dargestellten Sinne gerade nicht in Betracht kommt, wenn die Voraussetzungen des § 323a Abs. 1 StGB vorliegen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass zugleich mit dem Schreiben das psychiatrische Sachverständigengutachten übersandt wurde. Abgesehen davon, dass dessen Inhalt einen ordnungsgemäßen gerichtlichen Hinweis ohnehin nicht ersetzen kann, ist auch der Vortrag des Angeklagten, er und sein Verteidiger hätten angesichts des Vorsitzendenschreibens das eingeholte Gutachten nur im Hinblick auf die in dem Schreiben ausdrücklich angesprochene Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bewertet, nicht von der Hand zu weisen.
Die nach alledem zulässig erhobene Rüge einer Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO ist auch begründet. Nach dieser Vorschrift darf ein Angeklagter nicht - wie es hier geschehen ist - aufgrund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne dass er zuvor auf die Veränderung des rechtliches Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben wurde.
Das Urteil kann auf diesem Rechtsfehler beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es anders ausgefallen wäre, wenn der Angeklagte auf eine Anwendung von § 323a StGB hingewiesen worden wäre und sich daraufhin anders verteidigt hätte. Insoweit ist namentlich von Bedeutung, dass das in § 323a StGB sanktionierte strafbare Verhalten im fahrlässigen oder vorsätzlichen Sichberauschen liegt. Insoweit hängt bereits der Schuldspruch davon ab, dass bei dem Angeklagten keine derart schwere alkoholbedingte Persönlichkeitsveränderung vorliegt, dass er für seinen Alkoholgenuss, der den im Rausch begangenen Taten voranging, strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. Im Hinblick auf den Rechtsfolgenausspruch ist von Gewicht, ob die Einsicht oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bereits zum Zeitpunkt des Sichberauschens im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, so dass eine Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs.1 StGB in Betracht kommt (vgl. BGHR StGB § 323 a Abs. 2 Strafzumessung 4). Dabei ist zu berücksichtigen, dass allein das Wissen eines chronisch Alkoholabhängigen um den bei ihm regelmäßigen eintretenden Kontrollverlust nicht zwingend die Annahme rechtfertigt , die Volltrunkenheit werde jeweils vorsätzlich und uneingeschränkt schuldhaft herbeigeführt (vgl. BGH NStZ 1996, 334).
Das Urteil des Landgerichts war nach alledem - ohne dass es eines Eingehens auf die weiteren Revisionsrügen bedurfte - mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben wird.