Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 29.08.2011, Az.: 1 Ss 136/11
Umfang der rechtlichen Hinweispflicht bei möglicher abweichender Ahndung der Tat als Vollrausch
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 29.08.2011
- Aktenzeichen
- 1 Ss 136/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 37024
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2011:0829.1SS136.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Brake - 08.04.2011
Rechtsgrundlage
- § 265 Abs. 1 StPO
Fundstelle
- NStZ-RR 2011, 380-381
Amtlicher Leitsatz
In dem Hinweis auf eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes, den das Gericht wegen einer von der Anklage abweichenden möglichen Ahnung der Tat als Vollrausch erteilt, muss auch darauf hingewiesen werden, ob eine vorsätzliche oder eine fahrlässige Tatbegehung in Betracht kommt.
Tenor:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Brake vom 8. April 2011 unter Aufrechterhaltung der Feststellungen zu den im Rausch begangenen Taten mit den übrigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Brake zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Brake vom 8. April 2011 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt worden.
Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und beantragt, das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben.
Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.
1. Die in zulässiger Weise (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobene Rüge der Verletzung von § 265 StPO wegen des unterlassenen Hinweises auf die Schuldform dringt durch.
In den unverändert zugelassenen, durch Beschluss vom 23. Februar 2011 verbundenen Anklagen werden dem Angeklagten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung, Bedrohung und Körperverletzung (Anklage vom 19. Januar 2011) sowie Körperverletzung (Anklage vom 4. Februar 2011) vorgeworfen. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 7. April 2011 wurde der rechtliche Hinweis erteilt, dass hinsichtlich beider Anklagen eine Verurteilung "wegen Vollrausches" in Betracht komme.
Ein rechtlicher Hinweis darauf, dass das Gericht eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Vollrausches in Erwägung ziehe, ist nicht erfolgt.
Dieser war nicht entbehrlich. Selbst wenn, wie es bei § 323a StGB der Fall ist, beide Schuldformen in demselben Tatbestand erfasst werden, handelt es sich um "andere Strafgesetze" im Sinne des § 265 Abs. 1 StPO (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 265 Rz. 11). Zieht das Gericht eine Verurteilung wegen Vollrausches in Betracht, dann ist deshalb die Angabe erforderlich, ob diese wegen Vorsatzes oder Fahrlässigkeit erfolgen könnte (vgl. Senatsentscheidung v. 20.10.2009, 1 Ss 143/09, NJW 2009, 3669; OLG Köln, Beschluss v. 18.09.1998, Ss 328/98, NStZ-RR 1998, 370; OLG Stuttgart, Beschluss v. 28.04.2008, 2 Ss 106/08, StV 2008, 626). Der Hinweis auf einen Tatbestand, der sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig verwirklicht werden kann, reicht jedenfalls dann nicht aus, wenn das Gericht - wie hier - wegen vorsätzlicher Begehungsweise verurteilen will (vgl. Meyer-Goßner, aaO.; OLG Stuttgart, aaO.).
Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Angeklagte sich auf den entsprechenden Hinweis hin anders und wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Zwar hat der Angeklagte dem Urteil des Amtsgerichts zufolge erklärt, keine Erinnerung an die Vorfälle zu haben; er sei zu betrunken gewesen (UA S. 8). Diese Einlassung ist aber ersichtlich auf die festgestellten Rauschtaten bezogen, wie die nachfolgend wiedergegebene Einlassung des Angeklagten zeigt, er meine sich zu erinnern, dass nach einer durchzechten Nacht die Polizeibeamten morgens sich mittels Schraubenzieher Zugang zur Wohnung verschafft hätten.
Die Verurteilung des Angeklagten zum Berauschen selbst beruht insoweit allein auf den Angaben der Zeugin D..., die ausgesagt hat, der Angeklagte sei zu seinem Freund gegangen, um mit diesem und anderen in dessen Garage Alkohol zu trinken (UA S. 9). Dass der Angeklagte sich gegen den durch das Amtsgericht daraus gezogenen Schluss, das Berauschen sei vorsätzlich erfolgt, bei einem rechtzeitigen und vollständigen Hinweis möglicherweise mit Erfolg zur Wehr gesetzt hätte, lässt sich bei dieser Sachlage nicht ausschließen.
2. Von der Aufhebung nicht erfasst sind die durch das Amtsgericht zu den im Rausch begangenen Taten getroffenen Feststellungen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Angeklagte, der nach den Feststellungen zu diesen Vorfällen keine Erinnerung mehr hatte, sich bei einem hinreichenden Hinweis auf die Schuldform beim Vorgang des Sichberauschens diesbezüglich anders verteidigt hätte.
Auch die in zulässiger Weise erhobene Rüge, der Angeklagte sei nicht darauf hingewiesen worden, dass die in der Anklageschrift vom 4. Februar 2011 als (einfache) Körperverletzung angeklagte Tat zum Nachteil der Zeugin D...auch als gefährliche Körperverletzung gewertet werden könne, nötigt nicht dazu, die Feststellungen auch insoweit aufzuheben. Zwar stellt auch der fehlende Hinweis auf eine andere rechtliche Beurteilung der Rauschtat einen Verstoß gegen § 265 StPO dar (vgl. BGH, Beschluss v. 12.01.2011, 1 StR 582/10, BGHSt 56, 121). Der Senat vermag aber auszuschließen, dass der Angeklagte auf einen entsprechenden Hinweis hin seine Einlassung insoweit geändert haben würde.
Da Verfahrenshindernisse nicht vorliegen - die nach § 323a Abs. 3 StGB i.V.m. § 194 StGB für die Verfolgung der Beleidigungen als Rauschtaten erforderlichen Strafanträge sind gestellt, hinsichtlich der im Rausch begangenen versuchten gefährlichen Körperverletzung bedurfte es wie auch bezüglich der übrigen Rauschtaten eines Strafantrages nicht - und die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, können die zu den Rauschtaten getroffenen Feststellungen gemäß § 353 Abs. 2 StPO bestehen bleiben.
3. Auf die Revision des Angeklagten war daher das Urteil des Amtsgerichts Brake in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und die Sache insoweit an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Brake zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben wird.
Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die Strafe für den Vollrausch - entgegen UA S. 10 oben - nicht den Strafandrohungen zu entnehmen ist, die für die im Rausch begangenen Taten gelten. § 323a Abs. 1 StGB enthält vielmehr einen eigenen Strafrahmen, der lediglich in der Höhe durch § 323a Abs. 2 StGB nochmals durch die jeweiligen Rauschtaten begrenzt wird. Die vom Amtsgericht angenommene - aus § 224 StGB entnommene - Strafuntergrenze von 6 Monaten besteht daher nicht.
Darüber hinaus dürfte angesichts der - insoweit allerdings widersprüchlichen (vgl. UA S. 9, vorl. Absatz a.E. einerseits, letzter Absatz a.E andererseits) - Ausführungen des Amtsgerichts zur Alkoholabhängigkeit des Angeklagten auch eine Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 21 StGB angezeigt sein (vgl. Senatsentscheidung v. 20.10.2009, 1 Ss 143/09, NJW 2009, 3669).