Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 11.11.2008, Az.: 1 B 66/08
Abschiebung; aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung; Aussetzung; Ausweisung; Beistandsgemeinschaft; Elternrecht; Elternverantwortung; Erziehungsgemeinschaft; Familie; Kind; Straffälligkeit; Vater-Kind; Vater-Kind-Beziehung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 11.11.2008
- Aktenzeichen
- 1 B 66/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 54984
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs 1 Nr 4 AufenthG
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage 1 A 90/07 wird wieder hergestellt. Der Antragsgegnerin wird untersagt, den Antragsteller vor einer gerichtlichen Entscheidung im Verfahren der Hauptsache (1 A 90/07) auszuweisen und abzuschieben.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller setzt sich im Verfahren der Hauptsache 1 A 90/07 gegen seine unter dem 16. Mai 2007 verfügte Ausweisung und Abschiebung zur Wehr, die für den Fall, dass eine Abschiebung nicht direkt aus der Haft heraus erfolgen und der Antragsteller nicht freiwillig ausreisen sollte, ergänzend angedroht wurde. Die sofortige Vollziehung der gen. Verfügung wurde mit Bescheid vom 6. November 2008 angeordnet. Eine Abschiebung des Antragstellers mit einem Sammeltransport ist für den 14. November 2008 geplant.
1. Da es sich um einen dringenden Fall iSv § 80 Abs. 8 VwGO handelt, entscheidet hier der Vorsitzende der zuständigen Kammer.
2. Die Begründung der Vollzugsanordnung vom 6. November 2008 genügt nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO: Denn das allgemeine, jeder Ausweisung- und Abschiebungsverfügung innewohnende öffentliche Interesse am Vollzug des Gesetzes rechtfertigt für sich allein noch nicht eine Vollzugsanordnung. Diese hat vielmehr über jenes Interesse hinauszugehen und ein überschießendes Interesse nachvollziehbar zu belegen. Daran fehlt es hier. Im Rahmen der Vollzugsanordnung sind nicht nur die öffentlichen Interessen zu berücksichtigen, sondern auch bereits die Interessen des Betroffenen sowie sonstige öffentliche wie private Interessen. Es sind mithin alle durch den Vollzug unmittelbar berührten und mit ihm verbundenen Interessen einzubeziehen (Kopp/ Schenke, VwGO-Kommentar, 15. Auflage, § 80 Rdn. 94 m.w.N.) - etwa auch Grundrechte und deren Bedeutung sowie die Tragweite ihrer Beschränkung durch etwaigen Vollzug.
Demgemäß sind bei der Frage der Vollziehbarkeit einer Ausweisungsverfügung z.B. auch die Interessen des Ehepartners zu berücksichtigen (vgl. BVerfG DVBl. 1974, 79 [BVerfG 18.07.1973 - 1 BvR 23/73]). Hier wären folglich die Interessen des Antragstellers zu berücksichtigen gewesen sowie diejenigen seiner beiden deutschen Söhne daran, Kontakt zu ihrem Vater zu haben. Das ist ausweislich der Vollzugsanordnung und ihrer Begründung ersichtlich nicht geschehen. Insofern liegt ein gravierender Mangel der Vollzugsanordnung vor. Deshalb trägt die schriftliche Begründung die Vollzugsanordnung auch nicht (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO).
Dahinstehen kann hier deshalb, ob die Tatsache, dass die Vollzugsanordnung nicht sofort mit dem Grundverwaltungsakt verbunden wurde, zugleich auch Beleg dafür ist, dass eine Dringlichkeit für eine Ausweisung und Abschiebung des Antragstellers im Mai 2007 nicht gesehen wurde und ggf. auch heute nicht besteht. Allerdings entkräftet das überaus späte "Nachholen" der Vollzugsanordnung den eigenen Vortrag der Antragsgegnerin, es gehe um eine "zeitnahe Vollziehung der Ausweisung", die auch anderen Ausländern verdeutlichen solle, dass sie im Falle der Straffälligkeit mit einer konsequenten Aufenthaltsbeendigung zu rechnen hätten. Jedenfalls dieser Gesichtspunkt vermag die Vollzugsanordnung nicht zu tragen.
Schließlich überzeugt die Begründung der Vollzugsanordnung auch deshalb nicht, weil die behauptete Besorgnis, die vom Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung vom Mai 2007 bekämpfte Gefahr werde sich noch vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1 A 90/07, in dem die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu prüfen ist, tatsächlich realisieren, in gar keiner Weise besteht: Der Antragsteller sitzt derzeit in der JVA Uelzen ein und es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er bis zu einer Entscheidung des Hauptsacheverfahrens erneut - "insbesondere im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts" (S. 1 der Vollzugsanordnung v. 6.11.08) - in irgendeiner Weise straffällig werden könnte. Die Darlegungen der Antragsgegnerin dazu entbehren jeder Grundlage und sind in keiner Weise nachvollziehbar. Eine Straffälligkeit des einsitzenden Antragstellers ist unter den gegebenen Umständen - im Gegenteil - nicht zu erwarten. Die behauptete Realisierung einer Gefahr bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren liegt neben der Sache. Eine entsprechende Gefahr, die zu bekämpfen wäre, existiert nicht.
Unter diesen Umständen ist die Aussetzung der Vollziehung schon wegen der dargelegten Gründen geboten.
3. Für die beantragte Aussetzung der Vollziehung spricht zudem, dass der Antragsteller zwei Söhne deutscher Staatsangehörigkeit hat, für die er sich das Sorgerecht mit seiner geschiedenen Ehefrau teilt (Bl. 374 der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin). Bei solcher Fallgestaltung kommt es auf eine Bewertung der familiären Beziehungen im Einzelfall an (vgl. Hambg. OVG v. 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 -), die auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zu erfolgen hat (VG Meiningen, Urt. v. 10.6.2008 - 2 K 20605/00 Me -). Vgl. dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 8.12.2005 (Beschl. der 2. Kammer des 2. Senats - 2 BvR 1001/04 - ):
"Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art.6 Abs.2 Satz1 GG steht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171 <173>). Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfGE 80, 81 [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84] <95>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. August 1996 - 2BvR 1119/96 -, FamRZ 1996, 1266; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20.März 1997 - 2BvR 260/97 -, Juris). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20.März 1997 - 2BvR 260/97 -, Juris; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67 <68>). …
…Eine verantwortungsvoll gelebte und dem Schutzzweck des Art.6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30.Januar 2002 -2BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171 <174>). …
…Mit der Kindschaftsrechtsreform hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass sich auch außerhalb der persönlichen Begegnung Umgang ereignen kann und soll, etwa durch Brief- und Telefonkontakte (vgl. BTDrucks 13/4899 S. 104 f. zur Neufassung des §1684 BGB). Auch Telefonate sind somit Teil der Wahrnehmung des Umgangs und insoweit - zumal bei getrennten Wohnsitzen - auch Element familiärer Gemeinschaft. Dies muss in die ausländerrechtliche Würdigung angemessen einfließen."
Sowohl nach der Stellungnahme der JVA Uelzen v. 7. November 2008 als auch nach den Stellungnahmen des Dipl.-Psych. B. v. 7. November 2008 und jener des Pastors (Ev. Gefängnisseelsorge in der JVA U.) v. 6. November 2008 verhält es sich so, dass der Antragsteller, der inzwischen das Amt des 2. Küsters in der JVA U. wahrnimmt, eine "von großer Nähe und Liebe" geprägte Beziehung zu seinen beiden Söhnen hat und er erkennbar unter der Trennung zu seinen Kindern leidet. Seine Söhne besuchen ihn regelmäßig und haben mit ihm auch beispielsweise eine "Freizeit für Gefangene mit Kindern" verbracht (Pkt. 4 der Stellungnahme des Pastors v. 6.11.08). Der Antragsteller ist hierbei als "fürsorglicher Vater erlebt" worden. Eine räumliche Trennung durch Abschiebung dürfte somit - so heißt es in der Stellungnahme der JVA Uelzen - "zu erheblichen emotionalen Problemen bei den Kindern, die den Vater dringend brauchen", führen. Die JVA U. spricht sich daher "mit Nachdruck" gegen eine Abschiebung des Antragstellers aus (S. 2 d. Stellungn. v. 7.11.2008).
4. Unter solchen Umständen ist es naheliegend, jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass es an den gem. § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG für eine Ausweisung des Antragstellers erforderlichen "schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im vorliegenden Fall ausnahmsweise fehlen könnte. Dem Antragsteller könnte nach Auffassung der Antragsgegnerin ein besonderer Ausweisungsschutz auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - bei Vorliegen gewisser Zweifel - u.U. aus § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zugute kommen (S. 6 des Schr. v. 11.11.08, schützenswerte familiäre Bindungen, Art. 6 GG). Die gen. Voraussetzungen ("schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung") stellen jedoch eindeutig den tatbestandlichen Schwerpunkt des § 56 Abs. 1 AufenthG dar, so dass die in S. 3 genannten Regelfälle einer Einzelfallbetrachtung und -abwägung möglicherweise im Hauptsacheverfahren zu weichen haben. Ob das letztlich der Fall ist, hängt von einer Bewertung der Verhältnismäßigkeit ab, die dem Verfahren der Hauptsache typischerweise vorbehalten bleibt. Auch Art. 8 EMRK wäre dabei zu berücksichtigen (OVG Bremen v. 6.11.2007 - 1 A 82/07 - , InfAuslR 2008, 163 f).
5. Somit würden durch eine Abschiebung des Antragstellers, wie sie für den 14. November 2008 vorgesehen ist, noch vor Abschluss des Klageverfahrens 1 A 90/07 vollendete Tatsachen geschaffen, die im Falle eines Klageerfolgs nicht bzw. nur sehr schwer wieder rückgängig gemacht werden könnten. Im Falle eines Misserfolgs der Klage dagegen wäre eine Abschiebung des Antragstellers, die im Mai 2007 nicht für nötig befunden wurde und für die auch derzeit keine Dringlichkeitsgründe sprechen, immer noch möglich und bis dahin auch nicht etwa eine Gefahrenlage zu befürchten, die sich in irgendeiner Form realisieren könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a. F. i. V. m. § 72 Nr. 1 GKG n. F.